Die letzten neuen musikalischen Stilrichtungen entstanden in den siebziger und achtziger Jahren. Zwei neue TV-Serien und ein Film zeigen die aufregenden Anfänge.
Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)
Zugedröhnt sitzt Musikmogul Richie in seinem Auto in einer Seitenstrasse im New York des Jahres 1973. Ästhetisch in Szene gesetzt von Martin Scorsese für die HBO-Serie «Vinyl». Eben hat Richie die Telefonnummer eines Polizisten der Mordkommission gewählt. Doch bevor er etwas sagen kann, springen Leute auf sein Auto und rennen kreischend auf ein Abbruchgebäude zu. Wie unter Trance folgt Richie ihnen.
Drinnen spielen die New York Dolls «Personality Crisis». In kollektiver Ekstase tanzen die Leute um Richie herum, der nur noch staunt angesichts von so viel Energie. Durch das Stampfen der Leute regnet es Putz von der Decke, bevor schliesslich das Haus in sich zusammenstürzt und Richie wie ein Phoenix aus der Asche zwischen Staub und Trümmerteilen hervortritt.
Was Richie noch nicht weiss: Er wird gerade Zeuge der Geburt einer neuen Musikrichtung: Punk – mit seinem vorwärtspeitschenden Beat. «Es ist schnell, es ist dreckig, es ist, wie wenn dir jemand eins über den Schädel zieht», beschreibt er die Konzerterfahrung. «Du hast auch eins auf den Kopf bekommen, als das Haus einstürzte», sagt sein Arbeitskollege. «Na und? Ich habe die verdammte Zukunft gehört.»
Blütezeit der Musik
Das war die Zeit, als sich Musik ständig neu erfand. Zwischen dem Ende der sechziger Jahre und der Mitte der Achtziger wurden nicht nur die Grundsteine für Punk und Disco gelegt, sondern auch für Reggae, Rap, Synthi-Pop, New Wave, House, Techno und den Beginn des visuellen Musikkonsums. Die Serien «Vinyl», «The Get Down» und der Film «Sing Street» führen uns an die Geburtsstätten dieser Musikstile. Es ist die aufregende Zeit, die Musikjournalist Simon Reynolds in seinem Buch «Retromania» heute vermisst. Seither, bemängelt er, zitiert sich die Pop-Musik selbst, und alte Musikstile feiern ein Revival nach dem anderen. Die Band Hurts klingt nach dem Synthi-Pop der achtziger Jahre, Adele nach dem Soul der Sechziger. Das hat sich bewährt.
Diese Erfahrung macht auch Richie, als er seinen Musikmanager beauftragt, eine Punkband auf ein Vorspielen einzustimmen. Dieser lässt die Gruppe klingen wie eine Coverband der Kinks. Immerhin hatten die noch so etwas wie eine Melodie, findet er. Aber das ist nicht das, was Richie gesucht hat: «Die klingen wie Hafermehlbrei. Du hast alles weggerieben, was an denen interessant war. Die waren roh, frisch. Was hast du dir nur gedacht?» Das ist es auch, was Simon Reynolds in «Retromania» beanstandet: Mit der Stagnation oder gar Rückbesinnung auf vergangene Trends geht der Musik der rebellische Unterton verloren. Dabei treiben gesellschaftliche Rebellionen und technische Innovationen die Musik vorwärts und beeinflussen sich gegenseitig.
In der South Bronx regieren 1977 Disco und Korruption. Ganze Strassenzüge werden gesäumt von zerfallenen Häusern, von denen oft nur Trümmerteile übrig bleiben. Die Stadt ist bankrott, die Gewalt rekordverdächtig hoch, und die meisten Politiker scheren sich nicht um die Armen.
Sprachrohr einer Minderheit
«Ich komme aus der gefährlichsten Stadt der Welt. Tag für Tag ein weiteres Drama, dem wir uns nicht entziehen konnten. Die Musik war der einzige Ausweg. Denn wir waren im verfallenen Magen einer hungrigen Bestie», rappt der Protagonist der Netflix-Serie «The Get Down» über seine Kindheit im Ghetto. An einer Untergrund-Party hört der Teenager zum ersten Mal Rapmusik. Grandmaster Flash höchstpersönlich legt auf. Rap entstand, als DJs auffiel, dass die Leute während der kurzen, oft nur zehn Sekunden dauernden Schlagzeug-Sequenzen von Funksongs ausflippten. Deshalb begannen sie diese Sequenzen zu minutenlangen Musikstücken zusammenzuhängen. Die Technik dazu wird «Get Down» genannt.
Was als neuer Musikstil begann, wurde bald zur Grundlage für die rappenden Master of Ceremonies. «Solange der Beat andauert, so lange kann der Wortschmied weitermachen», wird dem Jungen erklärt. Der MC wurde zum Sprachrohr einer ungehörten Minderheit. Mit ihm bekam der Rap eine revolutionäre und politische Note.
Das finanziell gebeutelte Dublin der achtziger Jahre ist die Kulisse für den Film «Sing Street». Darin will der fünfzehnjährige Conor ein Mädchen beeindrucken. Also gründet er eine Band und dreht mit ihr ein Musikvideo. Es ist die Zeit der New-Wave-Gruppen wie Duran Duran und die Blütezeit der Musikclips. «Wenn das die Zukunft ist, sind wir alle am Arsch. Die bewegen ja nur die Lippen», kommentiert der Vater einen Musikclip der Band. Der ältere Bruder rollt genervt mit den Augen: «Das ist Kunst, die perfekte Kombination zwischen Musik und Ästhetik», ruft er zurück. Und der Jüngere plant bereits die musikalische Revolution an seiner katholischen Schule inklusive blonder Strähnchen und blauem Lidschatten.
Wer sich für Musikgeschichte interessiert, bekommt mit den drei Serien einen Einblick in eine ihrer kreativsten Perioden. «Vinyl» zeigt neben Punk auch Bob Marley oder Alice Cooper. «The Get Down» setzt den Kampf zwischen den rivalisierenden DJs Grandmaster Flash und DJ Kool Herc in Szene. Und «Sing Street» zeigt den Einfluss von New Wave und Musikvideos auf die Kultur. Vor allem aber sind es die Energie, die Aufbruchstimmung und die Begeisterung, Zeuge von etwas Neuem zu sein, die sie auszeichnen und zu einem Seh-Ereignis machen.