Serie «Alias Grace». USA 2017. Von Sarah Polley. Mit Sarah Gadon, Edward Holcroft, Anna Paquin und David Cronenberg.
Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)
Die Literatur des 19.Jahrhunderts ist voll von diesen Geschichten: Oliver Twist, der im Waisenhaus hungert, Jane Eyre, die ungerecht behandelt wird und ihre einzige Freundin an den Typhus verliert, oder Effi Briest, die nach ihrem Ehebruch verstossen wird. 1996 verarbeitete auch die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood das Schicksal einer Rechtlosen in ihrem feministischen Roman «Alias Grace». Der realen Dienstmagd Grace Marks wurde 1843 vorgeworfen, zusammen mit dem Stallburschen ihren Arbeitgeber und seine Hausangestellte ermordet zu haben. Dafür kam sie ins Gefängnis. Aber bis heute ist nicht klar, ob sie nur zur Tatzeit anwesend oder aktiv am Mord beteiligt war. Atwood schrieb eine fiktive Version der Geschehnisse, die nach «The Handmaid’s Tale» die zweite serielle Verfilmung ihres Werkes ist. Erzählt wird Grace’ Geschichte in Rückblicken in Form von sechs Therapiesitzungen, in denen Grace (Polley) ihrem Psychiater (Holcroft) von ihrem schweren Leben erzählt. Die sechs Teile entsprechen etwa drei Filmen: Der erste widmet sich der Immigration der irischen Familie nach Kanada, der zweite dreht sich um die Arbeits- und Sozialsituation im kanadischen Toronto, und im dritten Teil kommt der feministische Unterton voll zum Tragen, wenn es darum geht, ob einer der männlichen Ärzte oder sie selber die Deutungshoheit über ihre Geschichte hat. Wer schon immer etwas über kanadische Geschichte wissen wollte, ist hier richtig. Wer genug hat von den immergleichen Geschichten über das 19.Jahrhundert, sollte einen Bogen um die Serie machen.