Wenn die TV-Serie zur Playlist wird

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Bei ihrer Musikauswahl richten sich die Leute immer häufiger nach ihrer Lieblingsserie. Das ist besonders für Bands abseits des Mainstreams eine Chance. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Wer sich vor den Zeiten des Internets einen bestimmten Song anhören wollte, musste sich oft physisch mächtig ins Zeug legen. Jahrzehntelang hatten viele Menschen immer eine leere Kassette eingelegt, um dann blitzschnell zum Recorder zu hechten, wenn das gewünschte Stück im Radio lief. Das Internet hat das wie so vieles vereinfacht. Gefällt einem in der Bar, im Radio oder am Fernsehen ein Lied, zückt man das Handy und sucht über die App Shazam den Titel, bevor man den Song direkt über die App in seinem Spotify-Account ablegt, um ihn dann später wieder anzuhören. 

Die Art und Weise, wie und wo wir Musik entdecken, hat sich verändert. Neue Melodien können überall aufgespürt werden und sind auf Knopfdruck zugänglich. Noch immer gehen die wenigsten Menschen gezielt auf die Suche nach neuer Musik, stöbern in Plattenläden, lesen Musikblogs oder hören sich durch obskure Playlists. Meistens ist es der Alltag, der zu Entdeckungen führt. Dabei entwickelt sich besonders das Fernsehen als Goldgrube. Denn mit dem neuen goldenen Zeitalter der TV-Serien hat sich nicht nur die filmisch-narrative Qualität des Mediums exponentiell erhöht, sondern auch der Anspruch an die musikalische Untermalung.

Qualität der Serienmusik steigt

Audiovisuelle Medien waren schon immer ein fruchtbares Feld für Musik. Bild und Ton wirken zusammen. Die wenigsten Filme funktionieren ohne passenden Soundtrack, weil Musik immer auch Gefühle erzeugt. Neu ist die gesteigerte Qualität der Musikauswahl in Serien. Immer mehr Menschen suchen deshalb im Internet und über Apps nach Songs aus ihren Lieblingsshows. 

Auf der Website Tunefind kann man gezielt nach Liedern aus Lieblingsserien suchen. Die Seite gibt in Zusammenarbeit mit Shazam und Nielsen Music jedes Jahr die Top-Listen der am meisten gesuchten Soundtracks heraus. 2018 wie schon 2017 stand «Grey’s Anatomy» an erster Stelle, dann folgte die Jugendserie «Riverdale». 2018 wurde die amerikanische Sängerin Lauren Daigle, deren Song «Rescue» in «Grey’s Anatomy» lief, am häufigsten gesucht. In der Vergangenheit wurde bereits die britische Band Snow Patrol von dieser Show transportiert. Von den Schweizern hat besonders die Basler Band Zeal & Ardor, die Heavy Metal und Gospel mischt, davon profitiert, dass ihre Musik in US-Serien lief, nämlich in «Fortitude» oder «Underground».

Seit Musik über das Internet so einfach zugänglich ist, nicht zuletzt via Youtube, kaufen weniger Menschen Tonträger. Künstler sind deshalb interessiert an anderen Einnahmequellen und haben weniger Hemmungen, ihre Musik von anderen nutzen zu lassen. Die diesjährige Ausgabe des Newcomer-Festivals M4Music hat das grosse Potenzial erkannt und dazu ein Podium veranstaltet. Die fünf anwesenden Experten betonten, dass Filme- und Serienmacher weniger an den grossen Hits interessiert sind, sondern viel Energie darauf verwenden, Musik zu finden, die unbekannt ist und speziell klingt.

«Das x-te Mal einen Rolling-Stones-Song reinzuklatschen, das interessiert jetzt ­wirklich niemanden mehr», erklärte Martin Todsharow. Er arbeitet als Musiksupervisor und ist damit zuständig für die Auswahl der Musik für Filmsoundtracks. «Regisseure und Produzenten fühlen sich geehrt, wenn sie einen Song bekommen, der bis anhin noch nicht veröffentlicht wurde oder wenig bekannt ist.» Ausserdem verwies Todsharow darauf, dass die Budgets der Produktionen oft kleiner sind als früher und daher weniger Geld für grosse Musikdeals zur Verfügung stehen. Das bietet besonders kleineren Bands und unbekannten Musikern eine Chance.

Wenn Serienmacher einen eklektischen Musikgeschmack haben, kommt das auch Schweizer Musikern zugute. Als Ezra Koenig, der Sänger der amerikanischen Band Vampire Weekend, 2017 seine eigene Serie «Neo Yokio» produzierte, wählte er das schweizerdeutsche Lied «Campari Soda» von Taxi. «Er kannte den Song bereits und wollte ihn unbedingt haben», erzählt Pirmin Marti von der Schweizer Musikagentur Mojo 3. Marti wohnt mittlerweile in San Diego und vermittelt dort sogenannte Sync-Deals – also Musik für audiovisuelle Medien. 

Auch der Zürcher Latin-Pop-Sänger Loco Escrito schaffte es in eine amerikanische Serie, in «Shut Eye». Die Lausanner Rapper Sens Unik wiederum waren in der Serie «Legends» zu hören. Und auch Schweizer Musikhörer entdecken ihre eigenen Künstler. Für Güzin Kars Serie «Seitentriebe» wurde hauptsächlich Schweizer Musik verwendet. 

Individueller Musikgeschmack

Der Bedarf der Serien an passenden Songs fördert auch Bands abseits des Mainstreams. Der Grund: Es gibt es viel mehr Serien als je zuvor. Das erhöht die Notwendigkeit, ein sehr spezifisches, individuelles Produkt zu kreieren. Das führt zwar zu einem kleinen Nischenpublikum, dafür aber zu einer treuen Anhängerschaft. Wer den Humor mit den Serienmachern gemein hat, teilt oft auch deren Musikgeschmack. Kleine Serien sind deshalb musikalisch gut kuratierte Insider-Playlists. Besonders der Abspann hat sich bewährt. Während die Titelmusik fix ist und die Musik in den Szenen zur Handlung passen muss, haben die Serienmacher am Ende mehr Freiheiten. 

Die Wichtigkeit der Musikauswahl, also nicht der eigens für die Serie komponierten Musik, hat nun auch die Branche erkannt. 2010 wurde die Guild of Music Supervisors gegründet, die jedes Jahr die Besten der Branche prämiert. 2017 vergaben die Emmys – der wichtigste Preis im Fernsehgeschäft – zum ersten Mal eine Auszeichnung für die besten Musik-Supervisoren. 2017 erhielt Susan Jacobs den Emmy für die Serie «Big Little Lies», 2018 Robin Urdang für «The Marvelous Mrs. Maisel». Auch hier zeigt sich, dass das Fernsehen dem Film um Längen voraus ist: Die Oscars nämlich anerkennen diese Arbeit noch nicht.

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