
Grosse Open Airs mögen mit Stars punkten. Aber sie sind teuer und überlaufen. Die Alternative: An kleinen familiären Festivals lassen sich die Berühmtheiten von morgen entdecken.
Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)
Jetzt, wo der Sommer endlich seine noch zarten Fühler ausstreckt, strömen wieder Horden von bleichen Menschen an die Sonne. Damit hat auch offiziell die Saison der Open Airs begonnen. Wer keinem der grossen Freiluft-Musikfestivals wie St. Gallen, Zürich, Paléo, Frauenfeld oder Greenfield die Treue geschworen hat, ist dieses Wochenende vielleicht an den alternativen Anlass par excellence gepilgert: die Bad Bonn Kilbi in Düdingen bei Freiburg. Tickets für diese Veranstaltung waren aber so heiss umkämpft, dass sie in Gold aufgewogen werden könnten.
Darum lohnt sich ein Blick auf die Alternativen. Da reicht die Spannbreite von ganz kleinen Open Airs mit ein paar hundert Leuten am Tag, wie dem Rock Sedrun in Graubünden, bis zu den Grossen unter den Kleinen, wie dem Lakelive in Biel mit bis zu 10 000 Besuchern täglich. Viele dieser Anlässe sind irgendwann bei einem Bier im Freundeskreis gegründet worden oder einfach dem Wunsch entsprungen, auch kleineren Bands Auftritte zu ermöglichen. Das merkt man bis heute. Jedes der hier vorgestellten Open Airs ist regional verankert und setzt auf ein gutes Verhältnis zur lokalen Bevölkerung. Diese unterstützt die Anlässe oft, sei es durch Gönnerbeiträge, Sachspenden und Landvermietung für wenig Geld – oder zumindest mit einer hohen Lärmtoleranz.
Disco im Apfelkeller
Ökologie ist allen diesen Festivals sehr wichtig. «Bei Nahrungsmitteln, Getränken, Kleidern und Baumaterialien achten wir auf biologischen Anbau, faire Produktionsbedingungen und wenn möglich regionale Bezugsquellen», sagt Martin Bürgin vom Organisationskomitee des Festival des Arcs bei Ehrendingen. Diese Achtsamkeit erstreckt sich auch auf andere Bereiche der Festivalorganisation. So hat zum Beispiel das Open Air Schlauer Bauer in Wetzikon mit Blinden und Gehbehinderten zusammengearbeitet, um das Gelände auch für sie zugänglich und sicher zu machen. Ihren Erfahrungsschatz haben sie an einem Workshop den anderen kleinen Festivals vermittelt. «Der Wille, sich gegenseitig zu unterstützen, ist gross in der Szene. Wenn irgendwie möglich, helfen wir einander und besuchen uns gegenseitig», meint Bürgin.
Die kleinen Open Airs können oft mit aussergewöhnlichen Standorten begeistern. Das Open Eye übernimmt für ein Wochenende einen Bauernhof in Oberlunkhofen im Aargau, der Apfelkeller wird dabei zur Disco und der Miststock zur Bar. Das Quellrock in Bad Ragaz nistet sich in einer Burgruine ein, von der aus man einen wunderschönen Blick auf die umliegenden Berge hat. An manchen Festivals werden nicht nur Zelte aufgebaut, sondern ganze Häuserkonstruktionen gezimmert und aufwendig dekoriert. Das Clanx-Festival im Appenzell setzt beispielsweise auf einen feuerspeienden Fahnenmast, während das B-Sides in Kriens bei Luzern gleich einen ganzen Holzturm aufs Gelände setzt.
Im Zentrum steht natürlich die Musik. Es wird viel Zeit aufgewendet, um über persönliche Kontakte oder den Besuch von anderen Festivals und Konzerten die passenden Künstler für das eigene Festival zu gewinnen. Damit decken sie die ganze Spannbreite ab von Rock über Latin und Folk zu Afrobeats bis Elektro. Dabei setzen einige Open Airs auf bekannte Namen wie das Lumnezia in Graubünden mit Limp Bizkit und Mando Diao. Das B-Sides hat die Wortkünstlerin Kate Tempest eingeladen und das Lakelive in Biel Hecht und Lo & Leduc.
Der grosse Vorteil von kleinen Open Airs ist die Möglichkeit, für verhältnismässig wenig Geld noch relativ unbekannte Talente zu entdecken oder sich Musiker und Musikerinnen anzuhören, die nur einen Nischengeschmack bedienen, wie zum Beispiel das Frauenduo Mokoš am Festival des Arcs, das seine Musik als Piraten-Folk bezeichnet. Weil die Anlässe noch klein sind und wenig Geld zur Verfügung haben, sind sie auf die freiwillige Arbeit von vielen angewiesen, die sich wiederum dem Festival verbunden fühlen und mit Freunden und Familie daran teilnehmen. Das trägt zur für sie typischen familiären Stimmung bei. «Wir investieren viel in die Atmosphäre und das Gefühl des Zusammenhalts zwischen den Teilnehmern, aber auch den Künstlern», sagt Martin Bürgin. «Vor einigen Jahren zum Beispiel gaben wir allen Besuchern ein Stück Holz, mit dem sich alle am Bau einer Skulptur beteiligen konnten, die wir am Ende abgebrannt haben. Aber auch sonst endet der Abend oft damit, dass die Leute zusammen um eines der Lagerfeuer sitzen.»
Konzerte für Kinder
Nicht bei allen Festivals geht es nur um die Musik: «Wir laden Akrobaten, Autoren und Theaterleute ein, die selber etwas aufführen oder mit dem Publikum interagieren», beschreibt Bürgin das Festival des Arcs. Das B-Sides wiederum veranstaltet Vernetzungsanlässe, und das Lakelive organisiert auch Sportaktivitäten und Jassturniere. Kleine Festivals richten sich auch nicht nur an Jugendliche und Junggebliebene, sondern auch an Familien. Viele organisieren extra etwas für die ganz Kleinen. Am Donnerstagnachmittag finden am Openair Etziken bei Solothurn beispielsweise Kinderkonzerte statt, ebenso haben das Festival des Arcs, Lakelive, Clanx, Open Eye und Rock Sedrun solche Angebote, die auch mal die Arbeit mit Akrobatinnen oder das Basteln und Informationsworkshops über Ökologie umfassen.
Die Romandie hat neben schönem Wetter und dem grössten Open Air der Schweiz, dem Paléo, auch viele phantastische kleine Festivals. Das Hors Tribu in Môtiers mit 700 Besuchern am Tag gehört zu den ganz kleinen. Da es im Herzen des Absinth-Landes organisiert wird, gibt es am Anlass die Möglichkeit, die grüne Fee vor Ort zu degustieren. In Genf wiederum findet das À la pointe X Festival JonXion für Elektromusik auf einer kleinen Brache am Kreuzungspunkt zwischen Rhone und Arve statt.
Anstatt sich diesen Sommer an den immergleichen Quartierfesten in Zürich die Beine in den Bauch zu stehen, während man eine halbe Stunde auf sein Bier warten muss, warum nicht wieder einmal den Schlafsack und das Zelt packen und für ein Wochenende mit den Freunden oder den Kindern in die Romandie oder die Bündner Berge ziehen?
Lakelive am Bielersee
Das grössere und kommerziellere Lakelive findet dieses Jahr an den Wochenenden vom 26. Juli und dem 3. August am Bielersee statt. Musikalisch funktioniert das Festival nach dem Motto «Für jeden hat es etwas». Neben der Opening Night mit Mando Diao gibt es eine Latin Night, eine Urban Night und eine Swiss Night. Das Gelände ist in drei Abschnitte unterteilt: An der «Sandy Beach» steht eine Bühne, und man hat die Möglichkeit, Kanus oder Stand-up-Paddles zu nutzen. Am «Meeting Point» gibt es Kinderaktivitäten und eine Zirkusbühne, und auf der «Show Stage» finden die grossen Konzerte statt. Für 5 Franken kann man ein Ticket nur für den Strandteil kaufen. Das Ticket für alle Konzerte kostet zwischen 65 und 79 Franken pro Tag. Hinter dem Lakelive steht kein Freundeskreis, sondern eine Agentur.
Week-end au bord de l’eau in Siders
Das Festival findet dieses Jahr vom 28. bis 30. Juni am Lac de Géronde in Siders statt. Selbst britische Festivalratgeber sind schon darauf aufmerksam geworden. Musikalisch wird es unter anderem vom welschen Radiosender Couleur 3 geprägt, dessen Musikredaktor DJ Joh mit seinem urbanen Sound präsent ist und einen Mix aus House, Elektro und Hip-Hop auflegt. Daneben finden sich andere Elektro-Künstler, auch etwas Lo-Fi, Disco und Afro-Beat. Im Grunde alles, wozu man tanzen kann. Die Veranstalter kommen aus der Gegend und haben an diesem See auch ihre eigene Jugend verbracht. Es gibt einen Campingplatz in der Nähe, und mit 79 Fr. für drei Tage ist das 2500-Personen-Festival ein Highlight. Das Schwimmen im kleinen See ist zwar erfrischend, aber man entsteigt ihm gern mit einem Pollenpelz überzogen.