Der Soundtrack unseres Lebens

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Seit Fernsehserien immer besser wurden, hat sich auch die Arbeit der Musiksupervisoren verändert: Sie stellen den Soundtrack aus bereits bestehenden Songs zusammen, statt generische Filmmusik zu verwenden.

Von Murièle Weber (FRAME)

Essenzielle Bestandteile für den Seriengenuss sind nicht mehr nur ein Fernseher und ein Sofa, sondern auch eine App namens Shazam. Mit ihr kann man die Titel von Songs aufspüren, die man in einer Bar oder eben vor dem Fernseher hört. Wenn Shazam jährlich die am häufigsten gesuchten Stücke vorstellt, finden sich darunter immer häufiger Titel, die in Serien eingespielt werden, besonders oft werden die Lieder aus «Gray’s Anatomy» gesucht.

Seit es das Kino gibt, wird es von Musik begleitet. Sie verleiht den bewegten Bildern eine emotionale Färbung und widerspiegelt das Innere einer Person. Mittlerweile ist es so, dass viele Filme in der kollektiven Erinnerung auch und vor allem über ihre Filmmusik existieren. Was wäre «Star Wars» ohne die bedrohlichen Fanfaren? Oder der «Weisse Hai» ohne die dramatischen Streicher? Musik und Film verschmelzen zu einer unlöslichen Einheit. 

Für seinen Independentfilm «The Graduate» (1967) liess Mike Nichols als Erster nicht nur Musik komponieren, sondern setzte auch viele bereits bestehende Folksongs ein – zum Beispiel «The Sound of Silence» von Simon & Garfunkel. Radiostationen spielten den Soundtrack Tag und Nacht, was den Musikern zu Erfolg verhalf und Gratiswerbung war für das Coming-of-Age-Drama. Dass Nichols mit bestehenden Songs arbeitete, lag auch daran, dass dies damals billiger war, als einen Komponisten und ein mehrköpfiges Orchester zu bezahlen. Breite Akzeptanz fand dieses Konzept aber lange nicht. Wenn Regisseure bestehende Musik für ihre Filme verwendeten, dann meist, weil sie die Geschichte damit in einer bestimmten Zeit – die sechziger Jahre in «Dirty Dancing» (1987) – oder an einem Ort – jamaicanischer Reggae in «The Harder They Come» (1973) – verankern wollten.

Tarantino macht es vor

Dann kam Quentin Tarantino, der nicht nur den Filmkanon auswendig kennt, sondern auch eine über 10000 Alben umfassende Musiksammlung besitzt. Mit seinen Filmen wie «Pulp Fiction» (1994) oder «Inglourious Basterds» (2009) hat er sowohl alternde Schauspieler wie John Travolta und Kurt Russell vor dem Vergessen bewahrt als auch obskure Songs. Er hat vorgemacht, wie man bestehende Musik im Film einsetzt, damit sie einen bleibenden Eindruck hinterlässt: Die Folterszene in «Reservoir Dogs» (1992) wäre nicht halb so verstörend ohne den überdrehten Klang von «Stuck in the Middle with You» der Band Stealers Wheel. Und das ominöse Stück «Misirlou», eigentlich ein Volkslied aus dem Nahen Osten und in «Pulp Fiction» in einer Garage-Surf-Version zu hören, ist seither fest in der Popkultur verankert. 

Noch stärker als Tarantino haben jedoch die Fernsehserien die Musikauswahl verändert. Bis in die achtziger Jahre gab es in diesen Programmen meist komponierte Musik. In den neunziger Jahren gingen Serienmacher dazu über, bestehende zeitgenössische Musik zu verwenden, häufig solche von Indiebands, dem Musikgeschmack der Zielgruppe entsprechend, beispielsweise für «Friends» oder das Teenie-Drama «My So Called Life». 

Anfang des neuen Jahrtausends wurden die Serien inhaltlich und in ihrer Umsetzung besser, und ihre Macherinnen und Macher verwendeten auch mehr Zeit auf die Musikauswahl. In «Six Feet Under», «The Wire» oder «The Sopranos» etwa hörte man viele exzentrische Stücke. In den letzten Jahren hat sich diese Entwicklung noch stärker ausgeprägt. Es wird jetzt kaum mehr komponiert, sondern vielmehr kuratiert. Das heisst: Musiksupervisoren suchen nach bestehenden Songs, die ins Konzept einer Serie passen. Inzwischen erklingt die Musik in Serien nicht mehr nur im Hintergrund, um die Handlung zu unterstützen. Heute ist sie vielmehr ein Gestaltungselement. So wie früher ein Schauplatz der Handlung wie eine eigenständige Figur wahrgenommen wurde – etwa das kleine Städtchen Twin Peaks aus der gleichnamigen Serie von David Lynch –, so eigenständig wirkt heute die Musik. «Peaky Blinders» beispielsweise lebt von Songs, die von Nick Cave, PJ Harvey oder Iggy Pop stammen, Künstlern also, die sich jenseits des Mainstream bewegen.

Musik als roter Faden

Da immer mehr bestehende Songs verwendet werden, hat sich die Arbeit der Musiksupervisoren stark verändert. Zuerst waren diese hauptsächlich damit beschäftigt, die Lizenzen für die verwendeten Lieder einzuholen. Je wichtiger die Musik wurde, desto kreativer wurde ihr Beruf: Sie bekamen den Auftrag, nach geeigneten ausgefallenen Songs zu suchen.

Heutzutage kümmern sich Musiksupervisoren je nach Projekt um Lizenzierung und Recherche, ausserdem sind sie oft auch das Bindeglied zwischen Regie und Komponisten. In vielen Fällen entwickeln Musiksupervisoren ein individuelles Konzept, das komponierte Musik und bestehende Songs miteinander vereint. 

Die Britin Catherine Grieves (Interview S. 49) übernahm diese Arbeit für «Killing Eve» von Phoebe Waller-Bridge. Die Serie ist komplex: gewalttätig, lustig, sie lebt von vielen emotionalen Momenten. Musikalisch sei diese Vielfalt schwierig abzubilden, sagt Grieves. Um einen musikalischen roten Faden zu entwickeln, wollte sie mit einem Komponisten zusammenarbeiten. Auf ihren Vorschlag hin holten die Produzenten David Holmes dazu, der schon die Musik für «Ocean’s Eleven» komponiert hatte. 

Da «Killing Eve» in verschiedenen europäischen Ländern spielt, verbrachte Catherine Grieves viel Zeit damit, sich Songs in fremden Sprachen anzuhören, und stiess dabei auf Perlen wie das französische Chanson «Roller Girl» von Anna Karina oder auf eine niederländische Version von «Angel of the Morning», im Original von Juice Newton. Ihre Song-Auswahl wurde schliesslich angereichert mit Stücken von David Holmes’ Band Unloved, die vor allem dunkle Synthie-Musik beigesteuert hat. 

Grieves, Holmes und alle Beteiligten einigten sich schliesslich auf einen Soundtrack, der aus Songs der sechziger Jahre besteht oder davon inspiriert ist, weil das am besten zur visuellen Ästhetik der Serie passt. 

Wer sich mit Musiksupervisoren unterhält, hört viele abenteuerliche Geschichten darüber, wie sie an die Rechte von Songs kamen: «Als ich einen über 90-jährigen Komponisten anrief, sagte der, er stehe gerade unter der Dusche, ich solle später mit einem Scheck vorbeikommen», erzählt Robin Urdang lachend. Die Amerikanerin arbeitet hauptsächlich für Indie-Filmproduktionen, zuletzt etwa für das Drama «Call Me by Your Name» von Luca Guadagnino.

Für die Serie «The Marvelous Mrs. Maisel» von Amy und Dan Palladino, die in den fünfziger Jahren spielt, suchte Urdang nach aussergewöhnlicher amerikanischer, französischer und jüdischer Musik von damals, die an Musicals erinnert und der Serie eine extravagante Naivität verleiht. 

Songs erzählen eigene Geschichten

Nicht nur die Recherche und das Abklären von Lizenzen sind aufwendig. Es ist auch kompliziert, bereits bestehende Songs und deren Songtexte mit den Filmdialogen in Einklang zu bringen. Passende instrumentale Musik dazu zu kreieren, wäre einfacher. Serienmacher setzen trotzdem gern auf bestehende Songs, weil diese in sich abgeschlossene kurze Geschichten erzählen, die oft schon eine ganze Welt in sich tragen. Wenn sich die Geschichte des Liedes mit den Bildern einer Szene verbindet, entwickelt diese eine Wucht, die uns Zuschauerinnen und Zuschauer ergriffen nach dem Handy greifen lässt, um Shazam zu öffnen. 

Ein solcher Moment findet sich in der ersten Staffel von «Killing Eve», als die Auftragskillerin Villanelle (Jodie Comer) der MI6-Agentin Eve (Sandra Oh) als Ausdruck ihrer Bewunderung einen Koffer voller neuer Kleider schickt. Einige Tage zuvor hat Villanelle Eves besten Freund umgebracht. Als Eve den Koffer aufmacht, läuft im Hintergrund «Psychotic Beats» von den Killer Shangri-Lahs. Diese singen: «I had to kill you / I’m really sorry / Was it so much fun?» Die Musik entlarvt die Dimension dieser Beziehung der beiden Frauen, die zwischen Anziehung und Schrecken schwankt. 

Die Beatles sind zu teuer

Um solche Effekte zu erreichen, suchen Musiksupervisorinnen nach Musik, die einzigartig ist, viel ausdrückt und ein emotionales Gewicht hat. Die Zuschauer wollen nicht bereits Bekanntes hören, sondern überrascht werden. Kommt hinzu, dass die Rechte von zu bekannten Songs oft einfach zu teuer wären. Darum hört man in Filmen selten Lieder von Queen oder den Beatles.

Der Schweizer Pirmin Marti von Mojo3 arbeitet für die neue SRF-Serie «Frieden» oder den Kinofilm «Platzspitzbaby». Er kennt das Budgetproblem: «Regisseure sagen mir, welche Art von Musik und Stimmung sie wollen, und die Produzenten definieren, was sie bezahlen können. Daraufhin mache ich Vorschläge, die ins Budget passen und das Konzept des Projekts musikalisch unterstützen.» Dabei ist viel Kreativität und Zugang zu Liedern gefragt, deren Rechte einfach erhältlich sind, und bei hiesigen Produktionen wird auch Schweizer Musik wieder wichtiger. Für die Serie «Seitentriebe» von Güzin Kar (die 2.Staffel läuft ab Oktober auf SRF) entschieden sich die Macherinnen dafür, fast ausschliesslich auf inländische Musik zu setzen. «Der Rest der Beteiligten kommt aus der Schweiz, da ist es naheliegend, auch bei der Musik auf einheimische Talente zu setzen und als Bonus die hiesige Musikszene zu unterstützen.» 

Würdigung bei den Emmys

Inzwischen ist die Arbeit der Musiksupervisoren so wichtig geworden, dass es bei den Emmys, dem amerikanischen Fernsehpreis, seit 2017 die Kategorie «Outstanding Music Supervision» gibt. Robin Urdang hat letztes Jahr zusammen mit den Autoren Amy und Dan Palladino für den Soundtrack von «The Marvelous Mrs. Maisel» gewonnen. Dieses Jahr sind sie für die zweite Staffel nominiert. Sie treten an gegen «Russian Doll», «Better Call Saul», «Fosse/Vernon» und «Quincy».

Filmmusik-Wettbewerb

Der internationale Filmmusikwettbewerb, veranstaltet vom ZFF, dem TonhalleOrchester Zürich und dem Forum Filmmusik, findet dieses Jahr zum 8. Mal statt. 321 Komponistinnen und Komponisten aus 46 Ländern reichten Musik zum 5-minütigen Kurzfilm «Danny and the Wild Bunch» von Robert Rugan ein. Uraufführung der Arbeiten: 28. September, Tonhalle Maag, Zürich

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