Mein Land, meine Seele

Bild: Pexels / Kerry

Im US-Western ist die Figur des Cowboy ein Spiegelbild gesellschaftlicher Veränderungen. Die Serie «Yellowstone» verhilft ihm zu einem komplexen Comeback. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

John (Kevin Costner), der Patriarch der Dutton-Familie, steht auf einem Feld seiner Ranch und blickt in die Ferne. So weit er sehen kann, gehört hier alles ihm. Langsam geht er auf den Horizont zu, bis er eins wird mit diesem Land, das er seit Jahrzehnten vor dem Einfluss anderer verteidigt. Dafür hat er gemordet, manipuliert und Leute in den Ruin getrieben.

So endet die erste Staffel der Serie «Yellowstone» von Taylor Sheridan, der sich mit den Drehbüchern zu Action-Thrillern wie «Sicario» (2015), «Hell and High Water» (2016) und «Wind River» (2017) einen Namen gemacht hat. «Yellowstone» und die drei Spielfilme, Sheridans sogenannte «Frontier-Trilogie», stehen in der Tradition des Westerns, dem uramerikanischsten aller Genres. 

Seit den Anfängen des Kinos verhandelt die vergleichsweise junge Nation in dieser Filmgattung ihre Identität. Die Figur des Cowboys ist quasi ihr Spiegelbild. Solange die USA noch isolationistisch waren, war er ein rauer, aber moralisch zuversichtlicher Aussenstehender. Mit dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Figur zu einem allmächtigen Sheriff. Zwischen den fünfzigerund den siebziger Jahren, als Amerika seine Macht auf die halbe Welt ausdehnte, wurde der Cowboy düsterer und moralisch ­komplexer. Dann verlor der Western an Bedeutung und wurde erst mit der Ver­arbeitung der Anschläge auf die Twin Towerswieder wichtig.

Konflikte an der Grenze

In den letzten rund 15 Jahren sind die Cowboys weicher und vielseitiger geworden und haben sich damit gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst. Das widerspiegelt sich zum Beispiel im männlichen Liebespaar in «Brokeback Mountain» (2005) oder im afroamerikanischen Cowboy in «Django Unchained» (2012). In Serien schliesslich stehen immer mehr Frauen im Mittelpunkt, wie «Westworld» und «Godless» zeigen.

Aber warum ist es ausgerechnet der Western, der die Seele der Amerikaner zu ergründen sucht? Ende des 19.Jahrhunderts präsentierte der junge US-Historiker Frederick Jackson Turner seine Frontier-These, die besagt, dass der einzigartige Charakter seiner Landsleute durch die Erfahrung der Ausdehnung der Grenze – der Frontier – geformt worden sei: Für die ankommenden Europäer gab es an der Ostküste bald kein Land mehr, also machten sie sich gegen Westen auf, stellten sich der Wildnis, der Gesetzlosigkeit und den Indianern. Diese Erfahrungen machte sie in seinen Augen zu Amerikanern.

In den letzten Jahren hat der Western ein Comeback erlebt, aber niemand hat die Frage nach der Identität der USA so konsequent verfolgt wie Taylor Sheridan mit seiner «Frontier»-Trilogie und jetzt in «Yellowstone». Der Autor interessiert sich wie kein anderer für die Grenzerfahrungen seiner Protagonisten: «Sicario» spielt an der amerikanisch-mexikanischen Grenze, stellt politische und ethische Fragen zum Umgang mit dem Drogenschmuggel und thematisiert damit explizit auch die Beziehung der USA zu Mexiko. «Hell or High Water» analysiert die wirtschaftlich schwierige Lage der Familien in unterentwickelten Gegenden im Hinterland der USA und den Einfluss des Grosskapitals aus den Städten auf diese Zurückgelassenen. «Wind River» schliesslich spielt im Niemandsland der Indianerreservate und ergründet den Umgang der USA mit seinen Ureinwohnern, speziell dem spurlosen Verschwinden vieler indigener Frauen.

Alle drei Spielfilme sind Neo-Western, die ohne die klassischen Cowboyhüte und weiten Steppen mit rötlichem Sand auskommen, aber genau wie ihre klassischen Vorbilder die Frage nach der Identität der USA stellen. In «Yellowstone» nimmt Sheridan die traditionelle Cowboy-Ikonografie im Sinne eines John Ford nun erstmals in einem seiner Werke auf und erkundet die Grenze zwischen dem Einflussbereich des Gliedstaates und demjenigen der Landesregierung.

Wie schon in der Spielfilmtrilogie ist es eine komplexe Welt, worin unterschiedliche Mächte miteinander ringen: Thomas Rainwater (Gil Birmingham), der Leiter des nahen Indianerreservats, setzt alles daran, das Land der Duttons ins Reservat einzuschliessen. Dan Jenkins (Danny Huston), der Yuppie aus Kalifornien, will wiederum Häuser neben die Farm bauen und so das Land den Städtern zugänglich machen. Aber der Patriarch John macht es ihnen nicht leicht, denn nicht nur er, sondern auch zwei seiner Kinder haben politische Ämter inne, und seine seit Generationen bestehenden Verbindungen mit den Familien in der Gegend ermöglichen es ihm, fast alle seinem Willen zu unterwerfen. Um Duttons fast schon diktatorische Macht im Gliedstaat zu brechen, hetzen ihm seine Gegner die Umweltbehörde auf den Hals und beteiligen sich an Landspekulationen.

Jeder muss sich selber helfen

In Sheridans Spielfilmen ist es einfacher, mit den Protagonisten zu sympathisieren, weil sie in einer ausweglosen Situation ihr Bestes geben. Aber John Dutton ist ein reicher, kalt kalkulierender Machtmensch, der Herrscher einer Dynastie, dem sich alle anderen unterzuordnen haben. Und doch scheint er der Einzige, dem sein Land wirklich am Herzen liegt. Damit bleibt er trotzdem ein Sympathieträger: Er ist der Patron, der sich kaputt schuftet für seine Ranch und für die ­Menschen, die dort leben. 

Die Fragen, die Sheridan damit aufwirft, sind hochaktuell: Wie wirkt sich die Macht einer Dynastie auf die Menschen um sie herum aus? Darf Amerika mit Gewalt seine Werte durchsetzen, wenn diese Werte mit denjenigen der Unterworfenen unvereinbar sind? Und wie weit darf ein Landeigentümer gehen, um sein Land vor den Auswüchsen des Kapitalismus zu verteidigen? Taylor ­Sheridans Sicht wirkt pessimistisch. In seinerWelt ist das System längst kaputt, und jeder kann sich nur noch selber helfen, ­notfalls eben mit Gewalt.

Da hört man noch was

Malaka Hostel am Festival des Arcs 2019, Foto: Mike Enichtmayer

Grosse Open Airs mögen mit Stars punkten. Aber sie sind teuer und überlaufen. Die Alternative: An kleinen familiären Festivals lassen sich die Berühmtheiten von morgen entdecken.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Jetzt, wo der Sommer endlich seine noch zarten Fühler ausstreckt, strömen wieder Horden von bleichen Menschen an die Sonne. Damit hat auch offiziell die Saison der Open Airs begonnen. Wer keinem der grossen Freiluft-Musikfestivals wie St. Gallen, Zürich, Paléo, Frauenfeld oder Greenfield die Treue geschworen hat, ist dieses Wochenende vielleicht an den alternativen Anlass par excellence gepilgert: die Bad Bonn Kilbi in Düdingen bei Freiburg. Tickets für diese Veranstaltung waren aber so heiss umkämpft, dass sie in Gold aufgewogen werden könnten. 

Darum lohnt sich ein Blick auf die Alternativen. Da reicht die Spannbreite von ganz kleinen Open Airs mit ein paar hundert Leuten am Tag, wie dem Rock Sedrun in Graubünden, bis zu den Grossen unter den Kleinen, wie dem Lakelive in Biel mit bis zu 10 000 Besuchern täglich. Viele dieser Anlässe sind irgendwann bei einem Bier im Freundeskreis gegründet worden oder einfach dem Wunsch entsprungen, auch kleineren Bands Auftritte zu ermöglichen. Das merkt man bis heute. Jedes der hier vorgestellten Open Airs ist regional verankert und setzt auf ein gutes Verhältnis zur lokalen Bevölkerung. Diese unterstützt die Anlässe oft, sei es durch Gönnerbeiträge, Sach­spenden und Landvermietung für wenig Geld – oder zumindest mit einer hohen Lärmtoleranz.

Disco im Apfelkeller

Ökologie ist allen diesen Festivals sehr wichtig. «Bei Nahrungsmitteln, Getränken, Kleidern und Baumaterialien achten wir auf biologischen Anbau, faire Produktionsbedingungen und wenn möglich regionale Bezugsquellen», sagt Martin Bürgin vom Organisationskomitee des Festival des Arcs bei Ehrendingen. Diese Achtsamkeit erstreckt sich auch auf andere Bereiche der Festivalorganisation. So hat zum Beispiel das Open Air Schlauer Bauer in Wetzikon mit Blinden und Gehbehinderten zusammengearbeitet, um das Gelände auch für sie zugänglich und sicher zu machen. Ihren Erfahrungsschatz haben sie an einem Workshop den anderen kleinen Festivals vermittelt. «Der Wille, sich gegenseitig zu unterstützen, ist gross in der Szene. Wenn irgendwie möglich, helfen wir einander und besuchen uns gegenseitig», meint Bürgin.

Die kleinen Open Airs können oft mit aussergewöhnlichen Standorten begeistern. Das Open Eye übernimmt für ein Wochenende einen Bauernhof in Oberlunkhofen im Aargau, der Apfelkeller wird dabei zur Disco und der Miststock zur Bar. Das Quellrock in Bad Ragaz nistet sich in einer Burgruine ein, von der aus man einen wunderschönen Blick auf die umliegenden Berge hat. An manchen Festivals werden nicht nur Zelte aufgebaut, sondern ganze Häuserkonstruktionen gezimmert und aufwendig dekoriert. Das Clanx-Festival im Appenzell setzt beispielsweise auf einen feuerspeienden Fahnenmast, während das B-Sides in Kriens bei Luzern gleich einen ganzen Holzturm aufs Gelände setzt. 

Im Zentrum steht natürlich die Musik. Es wird viel Zeit aufgewendet, um über persönliche Kontakte oder den Besuch von anderen Festivals und Konzerten die passenden Künstler für das eigene Festival zu gewinnen. Damit decken sie die ganze Spannbreite ab von Rock über Latin und Folk zu Afrobeats bis Elektro. Dabei setzen einige Open Airs auf bekannte Namen wie das Lumnezia in Graubünden mit Limp Bizkit und Mando Diao. Das B-Sides hat die Wortkünstlerin Kate Tempest eingeladen und das Lakelive in Biel Hecht und Lo & Leduc. 

Der grosse Vorteil von kleinen Open Airs ist die Möglichkeit, für verhältnismässig wenig Geld noch relativ unbekannte Talente zu entdecken oder sich Musiker und Musikerinnen anzuhören, die nur einen Nischengeschmack bedienen, wie zum Beispiel das Frauenduo Mokoš am Festival des Arcs, das seine Musik als Piraten-Folk bezeichnet. Weil die Anlässe noch klein sind und wenig Geld zur Verfügung haben, sind sie auf die freiwillige Arbeit von vielen angewiesen, die sich wiederum dem Festival verbunden fühlen und mit Freunden und Familie daran teilnehmen. Das trägt zur für sie typischen familiären Stimmung bei. «Wir investieren viel in die Atmosphäre und das Gefühl des Zusammenhalts zwischen den Teilnehmern, aber auch den Künstlern», sagt Martin Bürgin. «Vor einigen Jahren zum Beispiel gaben wir allen Besuchern ein Stück Holz, mit dem sich alle am Bau einer Skulptur beteiligen konnten, die wir am Ende abgebrannt haben. Aber auch sonst endet der Abend oft damit, dass die Leute zusammen um eines der Lagerfeuer sitzen.»

Konzerte für Kinder

Nicht bei allen Festivals geht es nur um die Musik: «Wir laden Akrobaten, Autoren und Theaterleute ein, die selber etwas aufführen oder mit dem Publikum interagieren», beschreibt Bürgin das Festival des Arcs. Das B-Sides wiederum veranstaltet Vernetzungsanlässe, und das Lakelive organisiert auch Sportaktivitäten und Jassturniere. Kleine Festivals richten sich auch nicht nur an Jugendliche und Junggebliebene, sondern auch an Familien. Viele organisieren extra etwas für die ganz Kleinen. Am Donnerstagnachmittag finden am Openair Etziken bei Solothurn beispielsweise Kinderkonzerte statt, ebenso haben das Festival des Arcs, Lakelive, Clanx, Open Eye und Rock Sedrun solche Angebote, die auch mal die Arbeit mit Akrobatinnen oder das Basteln und Informationsworkshops über Ökologie umfassen. 

Die Romandie hat neben schönem Wetter und dem grössten Open Air der Schweiz, dem Paléo, auch viele phantastische kleine Festivals. Das Hors Tribu in Môtiers mit 700 Besuchern am Tag gehört zu den ganz kleinen. Da es im Herzen des Absinth-Landes organisiert wird, gibt es am Anlass die Möglichkeit, die grüne Fee vor Ort zu degustieren. In Genf wiederum findet das À la pointe X Festival JonXion für Elektromusik auf einer kleinen Brache am Kreuzungspunkt zwischen Rhone und Arve statt. 

Anstatt sich diesen Sommer an den immergleichen Quartierfesten in Zürich die Beine in den Bauch zu stehen, während man eine halbe Stunde auf sein Bier warten muss, warum nicht wieder einmal den Schlafsack und das Zelt packen und für ein Wochenende mit den Freunden oder den Kindern in die Romandie oder die Bündner Berge ziehen?


Lakelive am Bielersee

Das grössere und kommerziellere Lakelive findet dieses Jahr an den Wochenenden vom 26. Juli und dem 3. August am Bielersee statt. Musikalisch funktioniert das Festival nach dem Motto «Für jeden hat es etwas». Neben der Opening Night mit Mando Diao gibt es eine Latin Night, eine Urban Night und eine Swiss Night. Das Gelände ist in drei Abschnitte unterteilt: An der «Sandy Beach» steht eine Bühne, und man hat die Möglichkeit, Kanus oder Stand-up-Paddles zu nutzen. Am «Meeting Point» gibt es Kinderaktivitäten und eine Zirkusbühne, und auf der «Show Stage» finden die grossen Konzerte statt. Für 5 Franken kann man ein Ticket nur für den Strandteil kaufen. Das Ticket für alle Konzerte kostet zwischen 65 und 79 Franken pro Tag. Hinter dem Lakelive steht kein Freundeskreis, sondern eine Agentur.

Week-end au bord de l’eau in Siders

Das Festival findet dieses Jahr vom 28. bis 30. Juni am Lac de Géronde in Siders statt. Selbst ­britische Festivalratgeber sind schon darauf aufmerksam geworden. Musikalisch wird es unter anderem vom welschen Radiosender Couleur 3 geprägt, dessen Musikredaktor DJ Joh mit seinem urbanen Sound ­präsent ist und einen Mix aus House, Elektro und Hip-Hop auflegt. Daneben finden sich andere Elektro-Künstler, auch etwas Lo-Fi, Disco und Afro-Beat. Im Grunde alles, wozu man tanzen kann. Die Veranstalter kommen aus der Gegend und haben an diesem See auch ihre eigene Jugend verbracht. Es gibt einen Campingplatz in der Nähe, und mit 79 Fr. für drei Tage ist das 2500-Personen-Festival ein Highlight. Das Schwimmen im kleinen See ist zwar erfrischend, aber man entsteigt ihm gern mit einem Pollenpelz überzogen.

Wenn die TV-Serie zur Playlist wird

Foto: Pexels, Andre Moura

Bei ihrer Musikauswahl richten sich die Leute immer häufiger nach ihrer Lieblingsserie. Das ist besonders für Bands abseits des Mainstreams eine Chance. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Wer sich vor den Zeiten des Internets einen bestimmten Song anhören wollte, musste sich oft physisch mächtig ins Zeug legen. Jahrzehntelang hatten viele Menschen immer eine leere Kassette eingelegt, um dann blitzschnell zum Recorder zu hechten, wenn das gewünschte Stück im Radio lief. Das Internet hat das wie so vieles vereinfacht. Gefällt einem in der Bar, im Radio oder am Fernsehen ein Lied, zückt man das Handy und sucht über die App Shazam den Titel, bevor man den Song direkt über die App in seinem Spotify-Account ablegt, um ihn dann später wieder anzuhören. 

Die Art und Weise, wie und wo wir Musik entdecken, hat sich verändert. Neue Melodien können überall aufgespürt werden und sind auf Knopfdruck zugänglich. Noch immer gehen die wenigsten Menschen gezielt auf die Suche nach neuer Musik, stöbern in Plattenläden, lesen Musikblogs oder hören sich durch obskure Playlists. Meistens ist es der Alltag, der zu Entdeckungen führt. Dabei entwickelt sich besonders das Fernsehen als Goldgrube. Denn mit dem neuen goldenen Zeitalter der TV-Serien hat sich nicht nur die filmisch-narrative Qualität des Mediums exponentiell erhöht, sondern auch der Anspruch an die musikalische Untermalung.

Qualität der Serienmusik steigt

Audiovisuelle Medien waren schon immer ein fruchtbares Feld für Musik. Bild und Ton wirken zusammen. Die wenigsten Filme funktionieren ohne passenden Soundtrack, weil Musik immer auch Gefühle erzeugt. Neu ist die gesteigerte Qualität der Musikauswahl in Serien. Immer mehr Menschen suchen deshalb im Internet und über Apps nach Songs aus ihren Lieblingsshows. 

Auf der Website Tunefind kann man gezielt nach Liedern aus Lieblingsserien suchen. Die Seite gibt in Zusammenarbeit mit Shazam und Nielsen Music jedes Jahr die Top-Listen der am meisten gesuchten Soundtracks heraus. 2018 wie schon 2017 stand «Grey’s Anatomy» an erster Stelle, dann folgte die Jugendserie «Riverdale». 2018 wurde die amerikanische Sängerin Lauren Daigle, deren Song «Rescue» in «Grey’s Anatomy» lief, am häufigsten gesucht. In der Vergangenheit wurde bereits die britische Band Snow Patrol von dieser Show transportiert. Von den Schweizern hat besonders die Basler Band Zeal & Ardor, die Heavy Metal und Gospel mischt, davon profitiert, dass ihre Musik in US-Serien lief, nämlich in «Fortitude» oder «Underground».

Seit Musik über das Internet so einfach zugänglich ist, nicht zuletzt via Youtube, kaufen weniger Menschen Tonträger. Künstler sind deshalb interessiert an anderen Einnahmequellen und haben weniger Hemmungen, ihre Musik von anderen nutzen zu lassen. Die diesjährige Ausgabe des Newcomer-Festivals M4Music hat das grosse Potenzial erkannt und dazu ein Podium veranstaltet. Die fünf anwesenden Experten betonten, dass Filme- und Serienmacher weniger an den grossen Hits interessiert sind, sondern viel Energie darauf verwenden, Musik zu finden, die unbekannt ist und speziell klingt.

«Das x-te Mal einen Rolling-Stones-Song reinzuklatschen, das interessiert jetzt ­wirklich niemanden mehr», erklärte Martin Todsharow. Er arbeitet als Musiksupervisor und ist damit zuständig für die Auswahl der Musik für Filmsoundtracks. «Regisseure und Produzenten fühlen sich geehrt, wenn sie einen Song bekommen, der bis anhin noch nicht veröffentlicht wurde oder wenig bekannt ist.» Ausserdem verwies Todsharow darauf, dass die Budgets der Produktionen oft kleiner sind als früher und daher weniger Geld für grosse Musikdeals zur Verfügung stehen. Das bietet besonders kleineren Bands und unbekannten Musikern eine Chance.

Wenn Serienmacher einen eklektischen Musikgeschmack haben, kommt das auch Schweizer Musikern zugute. Als Ezra Koenig, der Sänger der amerikanischen Band Vampire Weekend, 2017 seine eigene Serie «Neo Yokio» produzierte, wählte er das schweizerdeutsche Lied «Campari Soda» von Taxi. «Er kannte den Song bereits und wollte ihn unbedingt haben», erzählt Pirmin Marti von der Schweizer Musikagentur Mojo 3. Marti wohnt mittlerweile in San Diego und vermittelt dort sogenannte Sync-Deals – also Musik für audiovisuelle Medien. 

Auch der Zürcher Latin-Pop-Sänger Loco Escrito schaffte es in eine amerikanische Serie, in «Shut Eye». Die Lausanner Rapper Sens Unik wiederum waren in der Serie «Legends» zu hören. Und auch Schweizer Musikhörer entdecken ihre eigenen Künstler. Für Güzin Kars Serie «Seitentriebe» wurde hauptsächlich Schweizer Musik verwendet. 

Individueller Musikgeschmack

Der Bedarf der Serien an passenden Songs fördert auch Bands abseits des Mainstreams. Der Grund: Es gibt es viel mehr Serien als je zuvor. Das erhöht die Notwendigkeit, ein sehr spezifisches, individuelles Produkt zu kreieren. Das führt zwar zu einem kleinen Nischenpublikum, dafür aber zu einer treuen Anhängerschaft. Wer den Humor mit den Serienmachern gemein hat, teilt oft auch deren Musikgeschmack. Kleine Serien sind deshalb musikalisch gut kuratierte Insider-Playlists. Besonders der Abspann hat sich bewährt. Während die Titelmusik fix ist und die Musik in den Szenen zur Handlung passen muss, haben die Serienmacher am Ende mehr Freiheiten. 

Die Wichtigkeit der Musikauswahl, also nicht der eigens für die Serie komponierten Musik, hat nun auch die Branche erkannt. 2010 wurde die Guild of Music Supervisors gegründet, die jedes Jahr die Besten der Branche prämiert. 2017 vergaben die Emmys – der wichtigste Preis im Fernsehgeschäft – zum ersten Mal eine Auszeichnung für die besten Musik-Supervisoren. 2017 erhielt Susan Jacobs den Emmy für die Serie «Big Little Lies», 2018 Robin Urdang für «The Marvelous Mrs. Maisel». Auch hier zeigt sich, dass das Fernsehen dem Film um Längen voraus ist: Die Oscars nämlich anerkennen diese Arbeit noch nicht.

Mit dem Serienmörder im Bett

So unschuldig sieht Joe Goldberg (Penn Badgley) bei hellem Tageslicht aus.

Liebesfilme propagieren ein übergriffiges Verhaltensmuster: Die neue Netflix-Serie «You» entlarvt Liebesfilme propagieren häufig ein übergriffiges Verhaltensmuster: Die neue Netflix-Serie «You» entlarvt das gekonnt und unterhaltsam. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Filmwissenschaftlerinnen haben schon lange darauf hingewiesen: Romantische Komödien glorifizieren ein übergriffiges Verhalten. Noah (Ryan Gosling) in «The Notebook» droht sich umzubringen, wenn seine Angebetene sich weigert mit ihm auszugehen. Ted (Ben Stiller) in «There’s Something About Mary» engagiert einen Privatdetektiv um seine Jugendliebe aufzuspüren. Und Edward (Robert Pattison) in «Twilight» schleicht in der Nacht ins Zimmer von Bella, um ihr beim Schlafen zuzusehen.

Verhaltensweisen, die im richtigen Leben strafrechtlich relevant oder zumindest moralisch verwerflich sind. Ein Nein ist in dieser Logik nur die Vorstufe zum Ja und Stalking ein Ausdruck von Liebe. Diese Verhaltensweisen sind so tief in unserer Kultur als Ausdruck romantischer Liebe verankert, dass sie kaum je in Frage gestellt werden. Aber genau das entblösst die neue Serie «You» basierend auf dem gleichnamigen Buch von Caroline Kepnes.

Joe Goldberg, der Manager eines Buchladens, trifft in seinem Geschäft auf die bezaubernde Guinevere Beck, eine Literaturstudentin. Zwischen den Bücherreihen hindurch beobachtet er die junge Frau und lässt die Zuschauer als voice-over an seinem internen Monologe teilnehmen. «Deine Armreifen klirren, du magst offensichtlich Aufmerksamkeit. Gut, ich beisse an. Du entschuldigst dich schnell, offensichtlich ist es dir peinlich, dass du ein gutes Mädchen bist. Oh, du trägst keinen BH und du willst, dass mir das auffällt. Du hast genug Bargeld dabei, um das Buch zu bezahlen, aber du gibst mir deine Kreditkarte, offensichtlich willst du, dass ich deinen Namen kenne.»

Nach Feierabend setzt er sich auf seine Couch und googelt Guineviere Beck. «Alle deine Accounts sind auf öffentlich gestellt, du willst, dass man dich sieht. Natürlich entspreche ich dem.» Über ihre Fotos findet er ihre Adresse. Am nächsten Tag steht er vor ihrem Hauseingang: «Grosse Fenster hast du, offensichtlich willst du gesehen werden. Ein Vorschlag: Lass uns den Tage zusammen verbringen.» Über das Internet kennt er ihren ganzen Tagesablauf und folgt ihr unbemerkt aus sicherer Distanz überall hin.

Als sie einige Folgen später wie erwartet ein Paar werden, hat er bereits ihren damaligen  Freund umgebracht und ihre beste Freundin bedroht. In Guineveres Augen aber entpuppt er sich als der perfekte Partner, der ihr Frühstück ans Bett bringt und ihr den Rücken freihält, damit sie ihre Gedichte schreiben kann und dessen Motto es ist «für die Liebe mache ich alles» – buchstäblich.

Mit diesem doppelten Blick einerseits durch ihre Augen und andererseits durch die objektivere Kamera zusammen mit seinem internen Monolog schafft es die Serie das stalkerische Verhalten des Protagonisten von romantischen Komödien zu entlarven und gleichzeitig zu kommentieren. Dass Joe den Zuschauern abwechslungsweise als der perfekte Partner und der schlimmste Psychopath erscheint, ist dabei durchaus gewollt. Die passende Serie zur #metoo-Debatte.

Meine heiss geliebte Feindin

Mit «My Brilliant Friend» wurde der erste Roman von Elena Ferrantes Neapel-Saga als Miniserie verfilmt. Dabei lässt der amerikanische Sender HBO ein Armenviertel der fünfziger Jahre detailgetreu auferstehen.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Es ist ein kurzer, dunkler, feuchter Tunnel unter einem Bahnübergang, der den Rione (das heisst Stadtteil) vom Rest von Neapel trennt. Aber auch wenn die Distanz von hier bis ins Zentrum und zum Meer nur drei Kilometer beträgt, ist der Weg für viele Menschen im Armenviertel der fünfziger Jahre zu weit. Und so sehen die beiden Freundinnen Lila und Lenù das strahlend blaue Gewässer erst 15-jährig zum ersten Mal.

Mit elf wagen sie einen Ausbruch ans Meer, aber in der Mitte des Weges will Lila aus unerklärlichen Gründen plötzlich umkehren. Erst später wird Lenù klar, dass eine Intrige von Lila sie zu dem Abenteuer animiert hat. Denn Lenùs Vater, ein niederer Angestellter beim Gericht, erlaubt seiner Tochter, nach der obligatorischen Schulzeit von fünf Jahren die Mittelschule zu besuchen. Lilas Vater, der Schuhmacher, ist nicht so grosszügig, und nun soll die beste Schülerin ihres Jahrgangs die Putzarbeit in der Werkstatt übernehmen. Weil Lila hofft, dass Lenùs Eltern es sich anders überlegen, wenn diese die Schule schwänzt, stachelt sie die beste Freundin zum missglückten Ausflug an.

Es ist eine brutale und zutiefst schmerzhafte Welt, die Elena Ferrante in ihrer Neapel-Tetralogie beschreibt und deren erster Roman, «Meine geniale Freundin», nun von HBO in acht Folgen als Miniserie auf Italienisch verfilmt wurde. Getreten wird gerne – physisch und psychisch –, vornehmlich nach unten. Die Reicheren piesacken die Ärmeren, die Männer die Frauen, die Frauen einander, die Buben die Mädchen, die Hübschen die Hässlichen, die Intelligenten die Dummen.

In dieser von Gewalt zerfressenen Welt hat Elena, genannt Lenù, nur einen Halt, ihre beste Freundin Raffaela, genannt Lila. Diese ist wilder, aber intelligenter als die strebsame und angepasste Elena, deshalb nimmt Lenù sie sich zum Vorbild. «Ab jetzt mache ich alles so wie du», sagt sie, und es klingt wie ein Schwur. Als Elena auf die Mittelschule geht und Lila nicht folgen kann, macht diese es der besten Freundin umgekehrt nach und bringt sich Latein, Griechisch und höhere Algebra eben selber bei. Selbst als Autodidaktin ist sie besser als Lenù.

Die Serie betont das Dorfartige, die unausweichliche, alles beherrschende Intimität zwischen den Menschen in diesem Armenviertel, und legt damit Wert auf den sozialkritischen Aspekt der Tetralogie. Dafür hat die Produktionsgesellschaft einen ganzen Stadtteil bauen lassen. Dicht an dicht stehen die Wohnkasernen, in der die Unterschicht in kleinen, abgenutzten Wohnungen zusammengepfercht ist. Die Detailgetreue ist berauschend. Eine Heerschar von Statisten bevölkert die Strassen, auf verrosteten Mofas und Velos, auf wackligen Holzstühlen vor der einzigen Bar, an der verbleichte Schilder für Aranciata und Gelato werben.

Gleichzeitig zeigen diese Szenen aber auch, dass die Serie zwar schön, jedoch sehr konventionell verfilmt wurde. Wer sich den Spielfilm «Roma» von Alfonso Cuarón ansieht, dem wird klar, was hier noch möglich gewesen wäre, wenn der Regisseur ­Saverio Costanzo auf Plansequenzen – minutenlange, ungeschnittene Szenen – gesetzt hätte, wie es Cuarón tut. Damit saugt der Oscarpreisträger den Zuschauer in sein Sittengemälde über den mexikanischen Stadtteil Roma in den siebziger Jahren hinein, während die Zuschauerin bei der Visionierung von «My Brilliant Friend» leider am Sessel klebenbleibt. 

Aber auch so wird das verzwickte und komplexe Beziehungsgeflecht zwischen den Familien im Rione sichtbar. Ihm kann niemand entrinnen. Die Familie, in die man hineingeboren wird, definiert, wer man ist innerhalb dieser brutalen Hackordnung. Und dann hat auch die Camorra noch überall ihre Finger im Spiel. Als Lila und Lenù bald zu hübschen Frauen heranreifen, wird die Situation noch schwieriger, denn damit werden sie mit der Frage konfrontiert, an welchen Mann sie sich binden wollen, mit einem ganzen Rattenschwanz an unausweichlichen Folgen. 

Denn das ist die Neapel-Tetralogie auch: das soziologische Sittengemälde eines süditalienischen Armenviertels. Besonders schön zeigt ein Wettkampf mit Feuerwerkskörpern an Silvester diese komplexe Welt. Die Reichen protzen schon lange vor dem Jahreswechsel mit ihrem Feuerwerk. Die Jungen der ärmeren Familien legen zusammen und lassen sich nicht lumpen mit ihren Knallkörpern. In kürzester Zeit wird aus dem metaphorischen Streit ein zutiefst realer. Lilas Bruder will um jeden Preis gewinnen und gibt gezwungenermassen erst auf, als mit einer Pistole auf die Halbwüchsigen geschossen wird. 

Die jugendliche Wut auf das starre System, das ihnen keine Möglichkeiten zur Veränderung bietet, lässt die Mädchen die Politik entdecken. Und wieder ist es Lenù, die sie durch Lilas Augen erfährt. Wie bei Sherlock Holmes und Doktor Watson, wenn Watson die Hinweise auf die Tat erst durch Holmes Augen ersichtlich werden. Deshalb fängt die Kamera oft Lenùs stumm beobachtenden Blick ein, der fix auf die Freundin gerichtet ist, während diese sich unbeugsam und wunderschön gegen die widrigen Umstände auflehnt. Oft vergeblich. Aber dieser Blick eröffnet Lenù und damit den Zuschauern den Zugang zu diesem faszinierenden Biotop, das HBO mit grossartigen Bildern erschaffen hat.

Lachen übers Alter

Netflix entdeckt die Senioren: Nach dem Frauen-Knüller «Grace and Frankie» erhalten mit «The Kominsky Method» nun auch die alten Herren ihre eigene Sitcom. Darin brillieren Michael Douglas und Alan Arkin als Buddy-Gespann.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Das Alter ist kein Ort für Weicheier», soll Bette Davis an ihrem 70. Geburtstag auf ein Kissen gestickt haben. Das ist auch die Prämisse der neuen Netflix-Serie «The Kominsky Method», in der sich Sandy Kominsky (Michael Douglas) und sein bester Freund Norman (Alan Arkin) mit den Auswirkungen des hohen Alters herumschlagen müssen. Sandy ist ein gescheiteter Schauspieler, der sich seit Jahrzehnten als Schauspiellehrer über Wasser hält. Norman ist ein erfolgreicher Agent, der es aber nicht schafft, Sandy neue Rollen zu beschaffen. Deshalb lügt er ganz oft: «Du willst doch nicht in einer Sitcom mitspielen. Du bist einer der grossen, klassischen Schauspiellehrer, wie sähe das denn aus?»

Ein Grossteil des Humors ergibt sich denn auch aus dem Alter der Protagonisten. Dabei ist besonders die Prostata ein beliebtes Thema. Als Norman sich länger auf der Toilette aufhält, fragt Sandy durch die Türe, ob es ein Problem gebe. «Nein, nein, ich uriniere nur gerade in Morsezeichen, alles in kurzen Signalen und langen Pausen.» Und als einige Folgen später Sandy ähnliche Probleme hat, steckt ihm der Urologe (Danny DeVito) über Minuten den Finger in den Hintern, was für die Zuschauer genauso unangenehm ist wie für Sandy – DeVito spielt die Szene mit einem teuflischen Grinsen. 

Tief hängende Eier

Es ist köstlich, wie sich die beiden Oscarpreisträger Michael Douglas, 74, und Alan Arkin, 84, die Bälle zuspielen. Sie erinnern dabei an Walter Matthau und Jack Lemmon im Klassiker «Grumpy Old Men». Wenn Sandy zu spät zu einem Essen kommt und Norman sich darüber lustig macht, dass dieser zu viel Zeit vor dem Spiegel verbracht habe, entgegnet Sandy: «Echt jetzt? Kaum bin ich hier, greifst du schon nach meinen Eiern?» Worauf Norman antwortet: «Na ja, sie hängen so tief, da sind sie gut erreichbar.»

Chuck Lorre, der Schöpfer von «The Kominsky Method», wurde reich und berühmt dank klassischen Sitcoms wie «The Big Bang Theory» und «Two and a Half Men», deren Dialoge jeweils auf eine Pointe herauslaufen. Die neue Sitcom ist bereits die zweite, die er für Netflix realisierte, nach der gescheiterten «Disjointed» (2017), in der Kathy Bates eine Verkäuferin von legalem Cannabis verkörpert. Diese Serie funktionierte vor allem deshalb nicht, weil jeder Dialog nur auf die nächste Pointe ausgerichtet war. Das liess die Figuren wie Stehaufmännchen aussehen, die hochspringen, ihre Zeile aufsagen, auf den Lacher warten und wieder in der Versenkung verschwinden.

Für «The Kominsky Method» geht Lorre nun einen anderen Weg und probiert sich zum ersten Mal am neueren Sitcom-Format, das auf subtileren Humor und tiefgründigere Geschichten setzt. Leider schafft es Lorre noch nicht, auf alle Einzeiler zu verzichten. Was Sandy beim Essen von Churros dazu verleitet, zu erklären, Trumps Mauer sollte nicht gebaut werden, weil Immigranten die bessere Patisserie herstellten.

Chuck Lorre wird zu Recht vorgeworfen, keine guten Frauenrollen zu schreiben. In «The Big Bang Theory» gab es zu Beginn neben den vier komplexen Nerds nur das dumme Blondchen von nebenan. In «The Kominsky Method» werden die Frauen zu sehr darauf reduziert, die Probleme der Männer zu lösen, etwa wenn Normans Frau (Susan Sullivan) an Krebs stirbt und fortan als Geist seine Probleme anhören muss. Oder sie sorgen für ein paar Lacher, etwa wenn Normans Tochter Phoebe (Lisa Edelstein) als Mittvierzigerin betrunken Normans Freunde anmacht, wobei Edelstein, bekannt als Dr.House’ dominante Chefin, das grossartig macht. Trotzdem sieht man den Fortschritt und das Potenzial der weiblichen Rollen.

Neben den Frauen sind auch die Millennials als Sandys Schauspielschüler unterentwickelt. Sie werden reduziert auf ihre Identität: der Schwule, die Schwarze, die Anwältin der politischen Korrektheit. Für ihre Anliegen hat Sandy nur ein Augenrollen übrig und den unsäglichen Rat: «In unserem Inneren sind wir alle gleich.»

Trotz einigen Schwachstellen ist die Serie amüsant und herzerwärmend. Besonders gut ist sie immer dann, wenn Michael Douglas und Alan Arkin genug Raum für ihr Schauspiel erhalten. Douglas war zunächst unsicher, ob er auch fürs Komödienfach tauge, aber er macht seine Arbeit sehr gut. Wirklich grossartig jedoch ist Arkin. Sein Talent zum Griesgram hat er bereits in «Little Miss Sunshine» als vulgärer Grossvater und in «Argo» als abgehalfterter Produzent bewiesen. Sein Norman scheint an den fiktiven Misanthropen Larry David aus der Sitcom «Curb Your Enthusiasm» angelehnt.

Jüdischer Humor

Wie in «Curb Your Enthusiasm» gibt es auch in «The Kominsky Method» immer wieder Gastauftritte von Schwergewichten der Branche, die sich häufig gleich selber spielen. Elliot Gould will Norman ein Drehbuch vorschlagen, Jay Leno führt mit vielen Lachern durch die Beerdigung von Normans Frau und Patti LaBelle singt am gleichen Anlass «Lady Marmalade». Und wie «Curb Your Enthusiasm» setzt «The Kominsky Method» auf jüdischen Humor: Auch in traurigen Situationen wird schallend gelacht, wie etwa an der Beerdigung von Normans Frau; man nimmt sich selber nicht so ernst, Sexwitze werden ausgereizt, und die Familie steht im Mittelpunkt. Und so bekommt Norman nicht nur Besuch von seiner toten Frau, sondern auch von allen anderen verstorbenen Frauen seiner Familie, die sich über seinen Kopf hinweg angiften, was er ergeben kommentiert mit: «Das ist alles mein Fehler. Sprichst du mit einem Geist, bist du plötzlich in einer jiddischen Version von Macbeth.»

Die Serie weist grosses Potenzial für weitere Staffeln auf. Man kann nur hoffen, dass Netflix diese produziert, damit die Rollen der Frauen und der Millennials ausgebaut werden und die Komik des Schauspielunterrichts voll ausgereizt wird. Vor allem aber will man mehr griesgrämigen Schlagabtausch zwischen Sandy und Norman sehen. Denn das Alter ist zwar kein Witz, aber nur mit Witz erträglich.

Atlanta wird zur neuen Kulturmetropole der USA

Abgrundtiefe Armut und grenzenloser Reichtum treffen in der Rap-Hauptstadt Atlanta unmittelbar aufeinander.

Das Zentrum der Südstaaten hat viel mehr zu bieten als Coca-Cola und CNN. Seit ein paar Jahren zieht eine junge Kreativszene Musiker und Filmstudios an.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Das Herz der amerikanischen Kultur schlägt traditionell an den Küsten am stärksten. New York und Los Angeles spielen in allen Bereichen ganz vorne mit. Bis jetzt. 

Denn seit einigen Jahren mausert sich die kleine verschwitzte Schwester aus Amerikas tiefem Süden zu einer echten Konkurrenz. Atlanta ist den meisten bekannt als Heimatort von Martin Luther King, CNN und Coca-Cola, als Austragungsort der Olympischen Spiele 1996 und dem Handlungsort des Nostalgieschinkens «Vom Winde verweht» (1939).

Kultur verlangt nach neuem Input und einer Vermischung unterschiedlicher Stile, und dafür sind die Küsten prädestiniert. Aber eben auch Atlanta, das 1837 an einem Knotenpunkt zweier Eisenbahnstrecken gegründet wurde. Damals dachte niemand an die moderne Popkultur, sondern eher an den Handel mit Waren. Der findet auch heute noch in Atlanta statt, nur sind es mittlerweile vor allem Drogen, die an einem der wichtigsten Autobahnknotenpunkte zwischen Süden und Norden und über den verkehrsreichsten Flughafen der Welt verkauft werden.

Beliebt bei der Oberschicht

Das findet sich in Atlantas Rap wieder: dem Trap. Das englische Wort für «Falle» meint im Jargon ein Haus, wo Drogen verkauft werden. Viele Trap-Musiker haben als Dealer begonnen. Bands wie Migos zeigen sich noch immer gerne mit ihren Uzis. Aber die Trapmusik ist nicht nur an sich erfolgreich: Die «Harvard Political Review» hat herausgefunden, dass seit 2015 mehr als doppelt so viele Rap-Songs aus Atlanta kommen als aus ­Südflorida, der Nummer 2 im Rap-Business. Der Trap ist mittlerweile auch zum Baustein für viele andere Musikgenres geworden und findet sich in der elektronischen Musik genauso wie im Country.

Trap hat einen langsameren Rhythmus als der durchschnittliche Rapsong. Typische Vertreter sind Migos, Young Thug, Future oder Gucci Mane. Die Songs klingen dunkler und erzählen oft vom Verkauf von Drogen und dem schnellen Geld. «Bad and Boujee» von Migos erzählt, wie es ist, nicht in der Mittelschicht aufgewachsen, dann aber mit Drogen reich geworden zu sein und dazuzu­gehören. «Boujee» ist ein Slangwort für bourgeois. Aber ihre Vergangenheit haben sie nicht vergessen, deshalb «Bad and Boujee».

Atlanta hatte in den neunziger Jahren schon einmal zwei starke Musikvertreter – die Rapgruppe OutKast («Hey Ya!») und die R’n’B Band TLC («No Scrubs»). Sie waren die ersten Musiker, die nicht mehr in den Norden gehen mussten, um ihre Karriere zu starten, weil es zum ersten Mal eine kleine Infrastruktur in der Stadt selber gab. Mittlerweile ist die Atlanta-Musikszene so wichtig geworden, dass auch andere Künstler wie Janelle Monaé kommen.

Aber nicht nur die Künstler kommen, auch die afroamerikanische Mittel- und Oberschicht hat Atlanta entdeckt. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts flüchteten Millionen von Afroamerikanern in den Norden. Seit den siebziger Jahren kehren sie in kleinen Gruppen in den Süden zurück, seit zehn Jahren in grosser Zahl. Die afroamerikanische Oberschicht mag dabei vor allem Atlanta, weil Afroamerikaner hier am meisten verdienen und die traditionellen afroamerikanischen Universitäten hier sind. Hier sind sie überdies in der Mehrzahl. Die «New York Times» nannte Atlanta bereits «the Black Mekka».

Der wichtigste Künstler der Stadt ist Donald Glover, der dieses Jahr als Rapper Childish Gambino mit dem Video zu «This Is America» hohe Wellen schlug. Darin prangert er die Waffenobsession der USA an und fordert, dass Afroamerikaner monetär bekommen, was ihnen wegen der Sklaverei zusteht. Er ist der Inbegriff des neuen Atlanta: bürgerlich aufgewachsen, gebildet, gut vernetzt und erfolgreich. Dagegen stehen Migos für das alte Atlanta: arm, geprägt von Drogen und Gewalt, aber auch von der Fähigkeit, aus wenig viel zu machen. Glover dankte ihnen bei der letztjährigen Emmy-Verleihung. Er erhielt zwei Auszeichnungen für seine hochgelobte Serie «Atlanta». Diese erzählt von Earn (Glover), einem Uni-Abbrecher, der seinen rappenden Cousin Paper Boi managen will. Die Serie zeigt die dunkleren Ecken der Stadt, wo es noch dreckig ist, aber auch die Kreativität herkommt. Paper Bois Philosophie des Raps ist: «Aus einer schlechten Situation das Beste machen – das ist Rap.»

Am Trap zeigt sich denn auch alles, was Atlanta ausmacht: eine ausufernde Kreativität, abgrundtiefe Armut, die trotz Oberschicht und florierendem Arbeitsmarkt nicht auszumerzen ist, Reichtum und eine Kumulation von jungen Talenten.

Aber Glover ist nicht der Einzige, der hier Serien filmt. Die Stadt ist zu einem Anziehungspunkt für Film- und Fernsehproduktionen geworden. Mit dem «Entertainment Industry Investment Act» von 2008 bietet Georgia Steuerreduktionen, wenn im Staat gefilmt wird. Davon haben viele profitiert, letztes Jahr gab es über 320 Serien- und Filmproduktionen, die meisten um Atlanta. Diese führten gemäss Governor Nathan Deal zu Einnahmen von 9,5 Milliarden Dollar. «The Walking Dead» wird hier gefilmt, auch «Strangers Things» oder «Dynasty».

Die Stadt kann glänzen

Mit Steuerreduktionen haben schon viele Staaten Filmproduktionen angelockt, nur um später festzustellen, dass kaum Jobs entstanden. In Georgia ist das anders. Marvel hat in Atlantas Vorstadt die Pinewood-Studios gebaut, bereits «Thor: Ragnarok» und «Black Panther» wurden hier gefilmt, weitere Marvel-Filme sollen folgen. 

Das ist für die Stadt erfreulich, hilft ihr aber noch wenig, sich in der Welt zu präsentieren. Die Handlung ist nämlich meistens anderswo angesiedelt. Dabei hat Atlanta das Potenzial, auch selber zu glänzen. Edgar Wright hat das mit «Baby Driver» (2017) gezeigt. Mit seinem Soul-Soundtrack verkörpert der Film den Inbegriff von Coolness.

Gedankt hat Donald Glover in seiner Emmy-Dankesrede nicht nur Migos, sondern auch Atlanta und «allen schwarzen Menschen dort. Dafür dass ihr authentisch seid. Dafür, dass ihr am Leben und phantastische Menschen seid.» Und das ist ein weiterer Grund für den Aufstieg Atlantas. Denn heute bezeichnet sich eine Mehrheit junger Menschen in den USA als nicht weiss. Die Stadt ist jung, cool, kreativ, und sie ist schwarz. Das ist die Zukunft auch.

Atlanta ist jung, cool, kreativ, und es ist schwarz. Das ist die Zukunft auch. 

Im Morgengrauen bist du tot

Die Nacht hält unbegrenzte Möglichkeiten und nicht zähmbare Gefahr bereit. Szene aus dem Film «Asphaltgorillas».

In Filmen wie «So was von da» und «Asphaltgorillas» verändert eine Nacht das Leben der Protagonisten grundlegend. Das Vorbild dafür ist Shakespeare.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Am Ende des Abends liegen Oskar und seine Freunde mehr auf der Bar, als dass sie davor stehen würden. Vor ihnen Gläser mit Absinth, im Hintergrund pocht Elektromusik. «Schöner Moment. Gutes Ende. Abspann bitte», sinniert Oskar, der Protagonist des Dramas «So was von da», im Rausch. «Es sind alle da. Die ganze Familie. Schöner wird es heute Abend nicht mehr. Denn alles, was zählt, ist das Hier und Jetzt.» Zu dieser Erkenntnis kommt Oskar (Niklas Bruhn) nach einer Höllennacht voller kurzer, intensiver Begegnungen mit Freund und Feind in seinem halb zerfallenen illegalen Klub auf der Reeperbahn in Hamburg. Oskar ist nicht mehr, wer er am Abend davor noch war. Die Erlebnisse in dieser einen Nacht haben sein Leben für immer verändert. Dieses Motiv findet sich in unzähligen Filmen.

Das prägnanteste Beispiel ist der dystopische Horrorfilm «The Purge» (2013). Darin bleibt einmal pro Jahr nach Sonnenuntergang jedes Verbrechen straffrei. Die Idee dahinter ist eine Art soziale Säuberung, die für den Rest des Jahres Frieden schaffen soll. Während die Protagonisten die Gewalt zunächst noch befürworten, haben sie – nach dem durchlebten Schrecken – ihre Meinung bei Sonnenaufgang geändert.

Das Motiv der alles verändernden Nacht findet sich auch im Drama «Oh Boy» (2012) von Jan-Ole Gerster, in dem ein gescheiterter Student im nächtlichen Berlin eigentlich nur einen Kaffee trinken will, aber nach Begegnungen mit einem Altnazi, einer ehemaligen Schulkollegin und einer Gruppe Halbstarker bei Sonnenaufgang beschliesst, sein Leben endlich in den Griff zu bekommen.

Ausschweifungen im Dunkeln

Während der Tag für die Rationalität des Verstandes steht, sieht man in seinem dunklen Gegenspieler das Unbewusste, Psychotische, das, was geheilt oder ausgetrieben werden muss. Deshalb beschreiben wir die Aufklärung als jene Zeit, die Licht in das Dunkel des Mittelalters brachte, und deshalb reden wir von der Umnachtung des Geistes. Gleichzeitig sagen wir aber auch, etwas habe sich «im Schutze der Nacht zugetragen», als ob die Dunkelheit eine Art Nebelmaschine wäre, die illegales Tun verhüllt und Gefahr birgt, aber auch mehr Raum für Verführungen und Ausschweifungen bietet.

Diese Idee der Nacht als einer Bühne oder eines psychologischen Raums, in dem Träume, Traumata und Ausschweifungen so intensiv erfahren werden, dass die Protagonisten am Ende geläutert oder zumindest verändert aus ihr hervortreten, geht auf Shakespeare zurück. Sein Stück «Ein Sommernachtstraum» zeigt das exemplarisch: Im nächtlichen Wald treffen vier Verliebte aufeinander, beide Männer lieben Hermia, während Helena verschmäht wird. Da streicht das schelmische Feenwesen Puck den Männern einen Liebessaft ein, worauf sich beide in Helena verlieben. Als der Tag anbricht, können sich alle vier nicht mehr daran erinnern, ob die Geschehnisse der vorherigen Nacht Traum, Albtraum oder Realität waren. Aber weil das Erlebte ihre Psyche verändert hat, gibt es am Schluss zwei glückliche Paare.

Im Medium Film drängt sich dieses nächtliche Motiv geradezu auf, denn Filme ­entfalten ihre Wirkung erst in der künstlich erzeugten Nacht eines Kinosaales. Gleichzeitig benötigen sie Licht zur Herstellung, weil Dunkelheit nur in Kontrast zum Licht wiedergegeben werden kann. Die Nacht muss deshalb beleuchtet werden, damit sie darstellbar wird. Noch im Stummfilm konnte nur bei Tag gedreht werden, mittels blau eingefärbter Szenen vermittelte man den Eindruck von Dunkelheit. In den vierziger Jahren entstand die Ästhetik des Film noir. Werke wie «The Maltese Falcon» (1941) oder «Double Indemnity» (1944) enthielten viele düstere Szenen bei Nacht oder schlechten Lichtverhältnissen und gaben dem Genre nicht nur thematisch – es ging oft um zwielichtige Figuren und manipulative Frauen –, sondern auch visuell seinen Namen. 

Inzwischen ermöglichen Digitalkameras Aufnahmen auch bei sehr schwachen Lichtverhältnissen. So konnten die deutschen Produktionen «Asphaltgorillas» von Detlev Buck und «So was von da» von Jakob Lass tatsächlich bei Nacht gefilmt werden. Während Letzterer auf eher düstere Klubbeleuchtung setzt, badet «Asphaltgorillas» geradezu im Neonlicht. Die Actionkomödie, in der Atris (Samuel Schneider) nicht länger der Handlanger von Gauner El Keitar sein will und sich auf ein krummes Geschäft mit seinem Jugendfreund Frank einlässt, spielt in einer Berliner Nacht, die inszeniert ist wie eine Zwischenwelt aus Stripklubs, Shishabars und Dönerbuden.

In all diesen Filmen ist es aber nicht nur die Nacht an sich, die zur Veränderung in den Protagonisten führt, sondern Begegnungen mit Menschen, die dann anzutreffen sind. Die Dunkelheit bietet den Raum und die Bühne für das Durchleben von emotionalen Erfahrungen, die die Veränderung einleiten. Im Drama «So was von da», der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Musikjournalist Tino Hanekamp, ist es Oskars Begegnung mit seiner unglücklichen Liebe Mathilda, die Konfrontation mit Unterweltboss Kiezkalle, der von ihm 10’000 Euro Schutzgeld erpresst, und das Mitgefühl mit dem Unglück seiner Freunde Rocky und Nina, die Oskar erkennen lassen, dass nur der Moment zählt. Diese Einsicht ermöglicht es ihm, sein Leben neu zu beginnen.

Für Atris aus «Asphaltgorillas» ist es die Begegnung mit Frank, der ihm, wie schon damals in ihrer Kindheit, lauter Versprechen macht, aber keines davon hält, und die Treffen mit einer jungen Marie (Ella Rumpf), die Atris zweierlei einsehen lassen: Er muss nicht die Frau heiraten, die seine Mutter für ihn ausgewählt hat, und auch nicht für den immergleichen Gauner arbeiten. Er kann sich befreien und neu anfangen. Es ist dieser Neubeginn, den der Sonnenaufgang verspricht. Das kann nur ein Film.

Wie ein Gangster-Rap

Beide Werke verstehen die Nacht als Raum für psychologische Veränderungen, aber in der visuellen Umsetzung sind sie sehr verschieden. Während «Asphaltgorillas» auf eine schrille, glänzende, temporeiche Berliner Nacht setzt, lässt sich «So was von da» gemächlich durch das nächtliche Hamburg und den Abrissklub treiben. Leider will «Asphaltgorillas» dabei zu viel, preist sich dem Publikum als besonders cool an und wirkt dadurch anbiedernd und aufdringlich. Obwohl das Drama einige schöne Momente und tarantinoeske Kampfszenen aufzu­weisen hat, ist es zu glatt. «Asphaltgorillas» ist wie einer der Gangster-Rap-Songs, aus denen sein Soundtrack besteht: Der Film erzählt eine Geschichte, hat mehrere Abschnitte und Punchlines, aber er ist vor allem Oberfläche, Attitüde. Ihm fehlt das Herz.

«So was von da» hingegen gleicht mehr dem menschlichen Herzschlag, wie auch der Technobeat seines Soundtracks. Der Film hat keine komplexe Rahmenhandlung, muss er aber auch nicht haben. Er ist vielmehr interessiert an Momentaufnahmen, wie man sie in einer verrauchten WG als Polaroids aufgereiht an einer Schnur finden könnte, wobei jedes der Bilder einen ganz besonderen Moment dieser einen Nacht im Leben von Oskar festhält: das ausschweifende Partyleben, die Gespräche mit den Freunden, die Auftritte der Band Grossstadtgeflüster und Bela B. von den Ärzten. Und genau deswegen vermag der Film zu verführen, weil er nicht versucht, mehr zu sein, als er ist.

Open Air hat’s schwer

Foto: Pexels, Jonathan Borba

Im Festivalsommer 2018 kämpfen Veranstalter mit Lokalgroove und besonderen Angeboten um jeden Besucher. Doch jetzt drängen auch noch finanzkräftige ausländische Konkurrenten auf den Markt?

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Die Saison des Schlamms und der Sonnenbrände hat wieder begonnen. Alle paar Kilometer versammeln sich Menschen, um unter freiem Himmel die Musik oder zumindest die sommerlichen Temperaturen zu geniessen. Die Palette reicht vom Paléo Festival in Nyon, dem grössten mit insgesamt 230 000 Besuchern an sechs Tagen, über das Zürich Open Air mit 80 000 Gästen an vier Tagen bis zu ganz kleinen Veranstaltungen wie dem Blues Rules in Crissier.

An den grossen Open Airs werden jedes Jahr aufs Neue komplexe Welten erstellt und nach wenigen Tagen wieder abgerissen. Am Paléo Festival dauern Auf- und Abbau vier beziehungsweise drei Wochen. Jeden Tag sind dort und am Open Air Frauenfeld um die 50 000 Personen auf dem Gelände. Das entspricht etwa der Einwohnerzahl der Stadt Biel. Dafür müssen Anreise, Infrastruktur, Künstler, Sicherheit und Gastronomie organisiert werden. 

Die vier Grossen – Nyon, Frauenfeld, Zürich und St. Gallen – bestätigen alle, dass der grösste Ausgabenposten für Infrastruktur, Komfort, Abfall und Sicherheit anfällt. Das sind im Schnitt 50 Prozent des Gesamtbudgets. Bei einem Grossanlass wie dem Paléo macht das immerhin 13 Millionen Franken aus, in St. Gallen sind es 5 Millionen. Das sind grosse Summen. Alle vier sagen auch, dass die Sicherheitskosten in den letzten Jahren im Zuge von gesellschaftlichen und technischen Veränderungen gestiegen sind.

Für die Künstlergagen und den Aufbau der Bühnen wird dagegen deutlich weniger ausgegeben: Beim Paléo Festival sind es 27 Prozent, beim Open Air St. Gallen sogar nur 22 Prozent des Gesamtbudgets. Man hätte gerne gewusst, wie viel das Zürich Open Air dafür ausgibt, weil die Veranstaltung seit ihrem Start 2010 immer wieder mit grossen Namen lockt. Dieses Jahr sind es der Rap-Gott Kendrick Lamar, der einen prestigeträchtigen Pulitzerpreis erhalten hat, und Imagine Dragons, die Band, die 2017 bei Spotify weltweit am dritthäufigsten gespielt wurde. Aber leider veröffentlichen die Zürcher genauso wenig Zahlen wie das Open Air Frauenfeld. Nyon und St. Gallen legen offen, dass sie über 50 Prozent durch Tickets einnehmen, etwa 25 Prozent aus dem Verkauf von Essen und Getränken und rund 18 Prozent über Sponsoring und Merchandising.

Irrwitzige Honorare für Bands

Seit etwa zehn Jahren steigen die Gagen der Künstler kontinuierlich. «Der Markt ist sehr vital, es gibt unzählige Festivals. In Amerika hat es sogar eine richtige Renaissance gegeben. Aufgrund dieses Angebots ist die Nachfrage nach Bands dermassen erhöht, dass teilweise irrwitzige Summen gezahlt werden», sagt Christof Huber, der Festivaldirektor des Open Airs St. Gallen. Das Festival hat sich mit anderen Veranstaltern und Musikagenturen zur Dachmarke Wepromote zusammengeschlossen. Das verschafft ihnen Zugang zu Klubs, Konzerthallen und Veranstaltungen und den Musikern die Möglichkeit, eine ganze Tournee statt einzelner ­Konzerte zu organisieren.

Die Veranstalter reagieren damit auf global agierende Medienunternehmen wie das amerikanische «Live Nation», das für Künstler massgeschneiderte Tourneen in eigenen Hallen und an eigenen Festivals organisiert und dafür immer öfter Exklusivität erwartet. Unabhängige Festivals haben es da schwer. Seit 2017 ist Live Nation auch der Mehrheitsaktionär am Open Air Frauenfeld. «Durch den Einstieg von Live Nation sind wir Teil eines grossen Netzwerks geworden. So können wir weiterhin eine hohe Qualität des Programms mit internationalen Superstars wie Eminem garantieren», sagt Joachim Bodmer, der Pressesprecher des Open Airs Frauenfeld, und bestätigt damit indirekt, dass das vorher schwierig wurde. Dany Hassenstein, der Programmgestalter des Paléo, sieht darin noch kein grosses Problem, aber eine Gefahr für die Zukunft: «Wir beobachten diese Konglomerate sehr kritisch. Im Moment ist der Markt noch unter Kontrolle der Agenten. Aber in Frankreich sehen wir schon, dass Independentfestivals oft das Nachsehen haben.»

Unter diesen Umständen ein Musikprogramm zusammenzustellen, ist anspruchsvoll. «Es ist definitiv kein Wunschkonzert», sagt Rolf Ronner, der Festivaldirektor des Zürich Open Air. Die Veranstalter müssen abklären, wer im Sommer in Europa auf Tournee ist. Die Zeiten, als Künstler extra für ein Konzert in die Schweiz flogen, sind vorbei. Auch hier hilft Vernetzung: «Wir haben ein grosses Netzwerk aus Journalisten, anderen Veranstaltern und Agenten. Mit denen tauschen wir uns aus. Dann orientieren wir uns auch an den Ticketverkäufen der Künstler und an den sozialen Netzwerken. Und wir schauen uns ihre Konzerte live an», beschreibt Hassenstein den Prozess.

Das Open Air St. Gallen lässt hingegen auch das Publikum mitreden. «Wir machen ausgedehnte Umfragen nach Stilrichtungen und wollen wissen, welche Bands gewünscht sind. Wir waren selber davon überrascht, dass das Publikum oft solche bevorzugt, die bereits vor einem Jahr bei uns aufgetreten sind», sagt Huber. «Mit der Planung beginnen wir dann bereits ein Jahr zuvor.»

Wie wichtig die Bands für ein Festival sind, ist nicht klar. Viele Umfragen bestätigen, dass nicht immer die Künstler den Ausschlag für den Ticketkauf geben. Ans Paléo kommen nur zwei Prozent aller Besucher aus der Deutschschweiz, über 90 Prozent reisen aus der Romandie an und rund acht Prozent aus dem grenznahen Frankreich. «Das Festival ist in der Region sozial verankert. Wir haben knapp 5000 Freiwillige, die mitarbeiten und oft ihre Freunde und Familien mitbringen. Ausserdem haben wir rund 80 Bars auf dem Gelände, von denen ein Grossteil von Sportklubs aus der Region betrieben wird», sagt Hassenstein. Nebenbei setzt das Paléo auf kunstvolle Bauten, unter anderem von der Fachhochschule Westschweiz. Das Festival lädt Artisten und Gaukler ein und erlaubt NGO, dem Publikum ihre Anliegen zu präsentieren; dieses Jahr zum Beispiel der «SOS Mediterranée Suisse», die mit ihrem Schiff Aquarius Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettet.

«Trash-Heroes» gegen Abfall

Auch das Open Air St. Gallen ist lokal verankert und hat ein loyales Publikum. Das Open Air Frauenfeld, das ausschliesslich auf Hip-Hop, R’n’B und Reggae setzt, investiert ins Ambiente. «Wir bieten dem Gast ein Gesamterlebnis. Unsere Bühne ist 124 Meter lang und sieht aus wie die Skyline einer Grossstadt. Das Festival ist ein wenig wie Disney World oder Las Vegas. Für vier Tage kann der Alltag vergessen werden», sagt Bodmer. Das Zürich Open Air wiederum setzt auf Komfort und Sauberkeit, was das ältere und zahlungskräftige Publikum erwartet.

Um der Unsitte, das Zelt nach dem letzten Konzert einfach zurückzulassen, Herr zu werden, hat das Open Air St. Gallen ein Depot eingeführt. Auch in anderen Bereichen setzen die Veranstalter auf Nachhaltigkeit. In St. Gallen werden Mehrwegbecher verwendet, und Trash-Heroes sensibilisieren das Publikum für die Abfallproblematik. Das ist auch dem Paléo Festival wichtig.Während die Veranstalter den Einfluss ausländischer Medienunternehmen wie Live Nation kritisch beobachten, sehen sie die grösste Herausforderung in der Vielzahl der Veranstaltungen in der Schweiz. «Der Markt hat eine Dichte wie wahrscheinlich nirgends sonst auf der Welt», sagt Huber und wird von Hassenstein bestätigt: «Wer sich umhört, spürt, dass es schwieriger geworden ist. Bei den vielen Festivals das eigene Publikum zu behalten, ist wahrscheinlich die grösste Aufgabe.» Da ist es verständlich, dass das Paléo und das Open Air St. Gallen auf ihre Verankerung in der Region achten und das Open Air Frauenfeld auf ein Musik-Genre, nämlich Urban, setzt. Ob das reicht, muss sich zeigen.

Sie ertanzen sich ein wenig Freiheit

Die in den USA gefeierte Serie «Pose» lässt die transsexuelle Ballroom-Szene der 1980er wiederaufleben. Sie prägte den Tanzstil von Madonna.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

«Strike a Pose» – nimm eine Pose ein – befahl Madonna 1990 ihren Fans im Song «Vogue». Im dazugehörigen schwarz-weissen Videoclip führten Madonna und ihre Tänzer mit ihren Armen eckige Formen aus und fuhren mit den Händen wild um ihre Köpfe. Das Video gewann drei MTV-Awards und wurde in den Kanon der Popkultur aufgenommen. 

Einmal mehr hatte sich Madonna bei einer Subkultur bedient – und dieser zum Durchbruch im Mainstream verholfen. Denn sowohl die Posen als auch der Name «Vogue» für diese Art von Tanz stammen aus der Ballroom-Szene der achtziger Jahre im New Yorker Quartier Harlem. Dort trafen sich arme afro- und lateinamerikanische Schwule und Transfrauen, um in Tanzwettbewerben, sogenannten Bällen, gegeneinander anzutreten. Im «Voguing» mischten sie Posen aus Frauen-Modemagazinen wie «Vogue» mit Körperhaltungen von alter ägyptischer Kunst, Kampfsport und Ballett. 

Das Ziel war nicht nur, die Tanzfiguren möglichst perfekt auszuführen, sondern auch, den Gegner herabzusetzen. Denn der Tanz hat seine Wurzeln im «throwing shade», der Gepflogenheit, einen Streit durch wettkämpferisches Tanzen beizulegen. Wobei nicht einfach der Beste gewinnt; der Gegner soll durch Imitation seiner Bewegungen beleidigt werden. Was von aussen oft aussieht wie ein wildes Gefuchtel mit den Händen, hat eine lange Tradition. Jede Pose steht in einem historischen Kontext und erzählt oft eine komplexe Geschichte. Eine Jury bestimmt schliesslich den Gewinner. Festgehalten wurde diese Community im Film «Paris is Burning».

Für diese Wettkämpfe formieren sich die Teilnehmer in Gruppen, die gegeneinander antreten, sogenannte Häuser: «The House of Ninja» oder «The House of Xtravaganza». Das Vorbild ist auch hier die Modewelt mit «The House of Chanel» oder «The House of Saint Laurent». Jedes Haus hat eine Mutter oder einen Vater, die sich in der Szene bereits einen Namen gemacht haben und nun den Nachwuchs, ihre Kinder, heranziehen. Meist wurden die jungen Teilnehmer von ihren Eltern wegen ihrer Homo- oder Transsexualität verstossen, und das Haus ist ihre Ersatzfamilie. 

Die Serie «Pose» von Ryan Murphy («Glee», «American Horror Story») spielt in dieser Szene der achtziger Jahre und folgt Blanca, die nach einer Aids-Diagnose ihr eigenes Haus gründen will. Im Park trifft sie auf den obdachlosen, schwulen, 17-jährigen Damon, der von einer Tanzkarriere träumt. Er und die Prostituierte Angel wollen sämtliche wichtigen Trophäen gewinnen. Murphy hat für alle transsexuellen Figuren Transfrauen engagiert und gibt ihnen so nicht nur die Möglichkeit einer Karriere, sondern macht transsexuelle Körper damit auch sichtbarer. 

Dieser Welt der Ausgestossenen stellt Murphy die Welt des Überflusses gegenüber, in der sich auch der Baulöwe Donald Trump bewegte. Ihr Repräsentant ist Stan: verheiratet, Kinder, Haus in der Vorstadt. Körperlich aber fühlt er sich zur transsexuellen Angel hingezogen und nutzt jede Gelegenheit, sie heimlich zu treffen. 

Die Bälle, um die sich alles dreht, haben eine wichtige soziale Funktion. Sie bieten Menschen am Rande der Gesellschaft die Chance, innerhalb ihrer Community zu Ruhm und Ehre zu kommen. «Du kannst dir hier einen Namen machen, und in unserer Gesellschaft ist das alles. Wir werden nie an den Oscars über den roten Teppich gehen, aber das ist unser Moment, ein Star zu sein», erklärt Blanca Damon. 

Die härteste aller Ball-Kategorien ist ­«realness». Dort wird eine möglichst perfekte Anpassung verlangt. Ist das Thema zum Beispiel «weibliche Abendgarderobe», müssen die teilnehmenden Transfrauen so weiblich wie möglich aussehen, wobei das Ziel immer reiche, weisse, heterosexuelle Weiblichkeit ist. Lautet das Thema «Wall Street» sollten die Teilnehmer aussehen wie heterosexuelle Banker von der Börse und teure Anzüge tragen. Die meist bettelarmen Afro- und Lateinamerikaner investieren viel Zeit und Geld, um sich die Kleider und Accessoires zu besorgen und die Posen einzustudieren. Sie imitieren darin einen Lebensstil, von dem sie aufgrund ihrer Herkunft, Ethnie und Sexualität permanent ausgeschlossen sind. «Es geht darum, sich an die hetero­sexuelle, weisse Welt anzupassen», erklärt Blanca Damon. «Und den amerikanischen Traum zu verkörpern, zu dem wir keinen Zugang haben.» 

«Voguing» hat dank Madonna und dem Dokumentarfilm «Paris Is Burning» (1990) von Jennie Livingston den Weg in die Pop-Kultur gefunden und beeinflusste viele Künstler. Zum Beispiel Beyoncé, deren Tanzstil im Videoclip zu «Get Me Bodied» von 2006 und die Zeile «Snap for the Kids» eine Hommage an die Kinder der Häuser der Ballszene darstellen. Und auch der Film «Phantom of the Opera» verrät im Tanz zum Song «Masquerade» den Einfluss des Vorbildes. Sogar Madonna kam 2012 nochmals auf das Voguing zurück im Videoclip zu «Girl Gone Wild». Und an der Paris Fashion Week 2014 konnte man Supermodel Karlie Kloss in Voguing-Posen auf dem Laufsteg sehen. 

«Pose» zeigt nicht nur ein Stück Zeitgeschichte – die «Gier ist geil»-Mentalität, die Aids-Krise, die gewalttätige Trans- und Homophobie –, sondern auch exemplarisch, wie Minderheiten die Ansprüche der Gesellschaft für sich umdeuten und auf kreative Art nutzen. Sie erzählt vom Überleben in widrigen Umständen und von der Möglichkeit, auch hier zu strahlen und sich ein Stück Freiheit zu ertanzen.