Tiefpunkte am Bildschirm

Mit der Darstellung von psychischen Krankheiten taten sich Film und Fernsehen lange schwer. Durch den Boom von TV-Serien ändert sich das gerade. Sie könnten helfen, depressive Menschen besser zu verstehen.

Von Murièle Weber (Surprise Magazin)

In psychisch kranken Menschen spielen sich oft drama­ tische Szenen, geradezu epische Kämpfe ab. Dass diese meist nicht nach aussen dringen, macht es für Film und Fernsehen schwer, sie akkurat darzustellen. Äusserlich wirken Menschen mit Depressionen oft apathisch. Filme und Serien aber wollen unterhalten, und Apathie ist selten unterhaltsam.

Audiovisuelle Medien haben sich deshalb lange damit schwergetan, psychische Krankheiten darzustellen. Dabei prägen Filme und Serien unsere Vorstellung der Welt massgeblich mit. Die Darstellung verläuft oft in zwei Ka­ tegorien: der Freak oder das Genie. Während etwa ein Film wie «Silver Linings Playbook» mit Bradley Cooper und Jennifer Lawrence von 2012 die beiden Protagonisten als verquere Exzentriker darstellte, porträtierte die Serie «Dr. House» den von Hugh Laurie verkörperten Arzt als depressives Genie mit Ecken und Kanten. Ihre Probleme damit, Beziehungen aufzubauen oder aufrechtzuerhalten, werden thematisiert, aber ihr Unterhaltungswert liegt nun mal in ihrem Unangepasstsein, und darauf fokus­sierte die Darstellung. Dabei eignet sich eine Serie grund­ sätzlich besser zur Darstellung von Depressionen als ein Film. Denn was Filme nur schlecht vermitteln können, sind die langen Jahre, die es oft braucht, bis sich jemand Hilfe holt oder bis eine Therapie zu wirken beginnt. Ob die jahrelange Qual mit Zeitsprüngen innerhalb von 90 Minuten dargestellt wird oder über 50 Stunden Serien­ material, macht in der Wahrnehmung der Thematik einen Unterschied.

Das Genre der Sadcom vermag dabei die treffendste Darstellung. Sadcoms sind Sitcoms, die nicht mehr auf die nächste Pointe spielen, sondern sich der Studie von komplexen Charakteren widmen, wobei oft Misserfolge und Tragödien im Mittelpunkt stehen. Wenn die Komi­ kerin Tig Nataro in ihrer Serie «One Mississippi» ihre Darmkrankheit thematisiert, dann sieht man sie von Toi­ lette zu Toilette rennen, aber nie ist es ein billiger Witz, sondern eine abgrundtiefe Misere.

Interessanterweise sind es in den meisten Filmbeispie­ len Frauen, die an Depressionen leiden. Dafür gibt es zwei Erklärungen. Erstens werden Frauen öfter als Depressive gesehen, weil es für sie noch immer einfacher ist, sich ver­ letzlich zu zeigen. Auf Männern lastet häufig der Druck, stark zu sein. Genau dies thematisiert die Serie «This Is Us», wo ausnahmsweise ein Mann an Depressionen leidet und dies auch mit seinen Kindern bespricht. Andererseits gilt das Fernsehen, im Gegensatz etwa zum Kino, als typi­ sches Frauenmedium.

Die Hilflosigkeit der Aussenstehenden

Zwei Sadcoms, die sich besonders darin hervortun, De­ pressionen akkurat darzustellen, sind «You’re the Worst» des amerikanischen Senders FX und «Fleabag» der BBC. In «Fleabag» hat die gleichnamige Protagonistin ihre beste Freundin verloren, mit der zusammen sie ein Café geführt hatte. Seither quält sich Fleabag durch die Tage, flüchtet sich in bedeutungslosen Sex, um überhaupt wie­ der etwas zu spüren, und hält sich die Menschen mit sar­ kastischen Kommentaren und gelegentlichen Einblicken in ihr düsteres Seelenleben vom Hals. Vor allem aber ist sie alleine. Weder Familie noch Freunde wissen wirklich, was in ihr vorgeht.

Ab und zu bricht der schwarze Abgrund dann in den unpassendsten Momenten aus ihr heraus. Zum Beispiel, als sie in einem Taxi sitzt und der Fahrer sie im Small Talk fragt, warum sie das Café allein führe. «Es ist eigentlich eine lustige Geschichte», beginnt sie. «Meine Freundin hat sich unabsichtlich getötet.» Die Freundin wollte ihren fremdgehenden Partner bestrafen und beabsichtigte, sich selbst zu verletzen und ihm dann zu verbieten, sie im Spital zu besuchen. Deshalb lief sie vor ein Fahrrad, wurde aber auf die Strasse geschleudert und verstarb. «Sie ist so ein Arsch!», beendet Fleabag ihre Geschichte mit beissen­ dem Lachen. Der Taxifahrer schweigt betreten. Sie erzählt ihm die Geschichte, weil da niemand ist, der ihr wirklich zuhören würde.

Viele Menschen funktionieren auch mit Depressio­ nen. Sie gehen arbeiten, treffen Freunde, betreuen ihre Kinder – nur dass sie es ungleich viel mehr Energie kos­tet, eine Normalität aufrechtzuerhalten, die es in ihrem Leben eigentlich schon lange nicht mehr gibt, die der Rest der Welt aber erwartet.

Genau das zeigt die Serie «You’re the Worst» besonders gut. Darin treffen sich Jimmy (Chris Greer) und Gretchen (Aya Cash) an der Hochzeit seiner Ex­Freundin, deren Feier er stören will und an der Gretchen ein Küchengerät vom Gabentisch klaut. Die beiden haben einen One­Night­ Stand und beginnen dann zögerlich eine Beziehung.

Schon in der ersten Staffel medikamentiert sich Gret­ chen selber mit Sex, Alkohol und Drogen, aber erst in der zweiten Staffel zeigt sich, dass Gretchen seit ihrer Kindheit an Depressionen leidet, die sich mal stärker, mal schwä­ cher bemerkbar machen. Es beginnt damit, dass sie in der Nacht aus dem Bett steigt und mit dem Auto davonfährt, um in sicherer Distanz zu weinen – da, wo Jimmy sie nicht überraschen kann. Über mehrere Folgen verheimlicht sie ihm ihre Krankheit, bis er sie dann doch bemerkt.

Was die Serie sehr schön zeigt, ist die Hilflosigkeit, mit der Umstehende sich auseinandersetzen müssen. Kein «Denk positiv», kein «Das wird schon wieder» und erst recht kein «Reiss dich doch zusammen» hilft. Gretchen zieht sich komplett in sich selbst zurück und liegt nur noch apathisch auf dem Sofa. Schliesslich sagt sie Jimmy, er solle sich von ihr trennen, weil es nicht besser werde. Jimmy ist verzweifelt hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, nicht aufzugeben, und der Unfähigkeit, eine Zu­ kunft für sie beide zu sehen.

Eindrücklich ist dabei auch, was Chris Greer, der Dar­ steller von Jimmy, in einem Interview sagte: «Aya ist eine grossartige Schauspielerin. Sie bietet mir mit ihrer Dar­ stellung in allen Szenen immer so viele verschiedene Op­ tionen, spontan und unvoreingenommen zu reagieren. Aber während den Depressionsszenen kam, aus verständ­ lichen Gründen, nichts. Dabei konnte ich die Frustration, die Jimmy empfindet, bei mir selber fühlen, weil ich mich selber ständig fragte: ‹Mach ich das richtig? Mache ich genug? Mache ich zu viel?›» Damit hat Greer verständlich zusammengefasst, warum es für Umstehende so schwie­ rig ist, mit Menschen mit Depressionen umzugehen. Denn wenn die andere Person nicht mehr auf einen reagieren kann, ist man selber alleine.

«Fleabag», erhältlich bei Amazon; «You’re the Worst», erhältlich bei Amazon oder über Streaming-Dienste; «One Mississippi», erhältlich bei Amazon; «This Is Us», läuft bei Sixx, erhältlich bei Amazon

Weitere Beispiele: «United States of Tara», im Handel erhältlich; «Rick and Morty», Netflix; «BoJack Horseman», Netflix; «Shameless», läuft beim Bezahlsender FOX oder über Streaming-Dienste; «Please Like Me», Netflix; «Jessica Jones», Netflix; «Lady Dynamite», Netflix; «Crazy Ex-Girlfriend», Netflix; «13 Reasons Why», Netflix; «Homeland», läuft auf Sat1; «Mr Robot», bei Amazon oder im Handel erhältlich; «Louie», im Handel erhältlich; «Transparent», auf Amazon Prime streamen; «Girls», im Handel erhältlich.

Gemeinschaft der Ungleichen

In «Roma» finden die Dame des Hauses und ihr Dienstmädchen zusammen.

Von Murièle Weber (Surprise)

Die unterschiedlichen Lebensbedingungen verschiedener sozialer Schichten ziehen sich wie ein roter Faden durch die Handlung von «Roma». Und nicht umsonst beginnt Regisseur Alfonso Cuarón seinen persönlichsten Film, basierend auf seinen Kindheitserinnerungen, mit der Arbeit der sehr jungen Hausmädchen im Hause seiner Eltern im Jahr 1970. Cleo schrubbt den Boden, während sich ein Flugzeug, das gerade über das Haus fliegt, in der Wasserlache spiegelt – als Sinnbild eines Lebens, das sie nie haben wird. Später begegnen wir Cleo immer wieder in ihrem kargen Bett über der Garage, das sie mit der anderen Hausangestellten teilt, oder wir sehen ihr zu, wie sie die Scheisse des Familienhundes vom Boden kratzt.

Aber auch die Mutter der Familie hat es nicht leicht, denn ihr Mann betrügt sie und verlässt die Familie, ohne für deren Unterhalt zu sorgen. Als dann Cleo auch noch ungewollt schwanger und von ihrem Freund verlassen wird, bilden die beiden Frauen eine Notgemeinschaft. Cuarón wollte den drei Dingen, die ihn am meisten geprägt haben, ein Denkmal setzen: seinem Heimatland, den Frauen und seiner Familie.

Entstanden ist ein liebevolles Sittenporträt einer Gesellschaft in Aufruhr, das Cuarón auch mittels des Corpus-ChristiMassakers darstellt – eines Studentenprotestes, der von der Geheimpolizei gewalttätig niedergeschlagen wurde. Umso mehr zeichnet sich im Vergleich dazu die Stärke der Mutter und die liebevolle Sanftmut von Cleo ab, die die Kinder in einer heilen Blase aufwachsen lassen. Das in Schwarz-Weiss verfilmte Werk betört mit langen Einstellungen. Diese entwickeln eine Sogwirkung, die den Zuschauer in ihren Bann zieht, weil man sich in dieser Welt mit ihren vielen kleinen Details verlieren kann. Völlig zu Recht wird der Film deshalb zu einem der besten des letzten Jahres erklärt und ist mit zehn Nominierungen Favorit bei den diesjährigen Oscars.