Zwei Helden des Alltags

Bruno (Vincent Cassel) und Malik (Reda Kateb) bieten Aussenseitern eine neue Chance.

Die «Intouchables»-Macher erzählen in «Hors normes» von Freunden, die sich für autistische Menschen einsetzen.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Bruno (Vincent Cassel) und Malik (Reda Kateb) helfen seit 20 Jahren Menschen am Rande der Gesellschaft: Bruno versucht, autistischen Kindern so etwas wie einen normalen Alltag zu ermöglichen, und Malik bildet junge Leute aus Brennpunktvierteln zu Pflegern aus.

Joseph (Benjamin Lesieur) ist einer der Betreuten. Der junge Mann mit Autismus soll endlich auf eigenen Beinen stehen, dafür coacht ihn Bruno. Joseph soll unter anderem mit dem Zug zur Werkstatt fahren können, wo er eine Ausbildung macht – aber weil er Angst hat, eine Brücke zu überqueren, zieht er jeweils kurz vor dem Übergang die Bremse. Das bringt die Pendler in Rage und Bruno in Erklärungsnot.

Aber Bruno braucht dringend einen Erfolg, denn die Stadt will seinen privaten Verein nicht anerkennen. Zwar verzeichnet er beachtliche Erfolge – so müssen selbst seine schwer autistischen Schützlinge nicht mehr permanent festgebunden werden, sondern lernen zu sprechen. Aber es reicht eben nicht dazu, dass sie ein völlig unabhängiges Leben führen können.

Die Regisseure Olivier Nakache und Eric Toledano feierten 2011 mit «Intouchables» einen riesigen Erfolg. Seither werden in Frankreich reihenweise Filme über sozial Benachteiligte und ihre Betreuer gedreht. Gezeigt wird oft Freiwilligenarbeit, ohne die der Betreuungsaufwand bei Schwerbehinderten, Obdachlosen oder Autisten kaum zu stemmen wäre, wobei der Staat diesen Vereinen ihre Arbeit erschwert.

Nakache und Toledano gingen bei «Hors normes» einen Schritt weiter und bildeten Autisten in einem Workshop zu Schauspielern aus. Damit waren sie erfolgreich – Benjamin Lesieur konnte anfangs kaum sprechen, aber übernahm im Film als Joseph eine Nebenrolle mit Dialogen.

Wie schon «Intouchables», so lebt auch dieser Film von den liebevollen Neckereien zweier unterschiedlicher Persönlichkeiten – hier Bruno und Malik, der Jude und der Muslim. So wird der Versuch, den orthodoxen Juden zu verkuppeln, zu einem Running Gag. Für warme Gefühle sorgen die vielen kleinen Erfolgsgeschichten der Jugendlichen, die eine Zukunft für sich entdecken.

Die Löwinnen steigen auf

Ramona (Jennifer Lopez) lernt Destiny (Constance Wu) das Strippen.

Kino Nach der Wirtschaftskrise fangen in der Komödie «Hustlers» Stripperinnen an, ihre Kunden auszunehmen – und kehren damit den Kapitalismus um.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Die New Yorker Wallstreet befindet sich auf einem Höhenflug, die Börsenmakler geben ihr Geld mit vollen Händen aus – manchmal über 100 000 Dollar an einem Abend. In dieser aufregenden Zeit, in einer kalten Winternacht, begegnen sich die Stripperinnen Destiny (Constance Wu) und Ramona (Jennifer Lopez). Die ältere Ramona nimmt die Jüngere nicht nur unter ihren Nerz, sondern auch unter ihre Fittiche.

Die Göttin, die jeden Abend von geifernden Männern mit einem Regen aus 100-Dollar-Noten gefeiert wird, zeigt ihrem Schützling, wie man am besten abkassiert. «In diesem Jahr verdiente ich mehr als ein Gehirnchirurg», erklärt uns Destiny.

Verschworene Gemeinschaft

Und dann kommt der Börsencrash von 2008. Keiner will mehr Geld ausgeben. Die verbliebenen Stripperinnen nehmen gerade noch ein paar Hundert Dollar pro Nacht ein, und meist müssen sie dafür ihren Mund einsetzen. Deshalb kommt Ramona auf die Idee, der Spendierfreudigkeit ihrer Kunden nachzuhelfen – auch unter Einsatz von Drogen. Wenn die Männer am nächsten Tag ohne Erinnerung aufwachen, sind ihre Kreditkarten bis zum Maximalbetrag belastet worden.

Der Film basiert auf einer wahren Geschichte, die die Journalistin Jessica Pressler 2015 im Artikel «Hustlers at Scores» aufarbeitete. Daraus hat die Regisseurin Lorene Scafaria («Seeking a Friend for the End of the World») ein Lehrstück über den Kapitalismus gemacht: Alle müssen feilbieten, was ihnen zur Verfügung steht. «Hustlers» ist dabei eine weibliche Version eines Heist-Films, wobei nicht ein Casino oder eine Bank, sondern das ausbeuterische System geknackt wird. Zu Beginn müssen die Frauen vom Türsteher bis zum DJ alle bestechen, um überhaupt strippen zu dürfen. Am Ende haben sie die Hackordnung umgekehrt, und die Clubs überleben nur noch, weil die Frauen die Kunden zu ihnen locken. Jetzt sind sie die Löwinnen der Nahrungskette.

Während sich Pressler um die Aufarbeitung der Fakten bemüht, setzt Scafaria auf die Beziehung der Frauen zueinander. Auf die Männer ist kein Verlass, also gründen sie ihre eigene kleine verschworene Gemeinschaft. Die Studie dieser intensiven Beziehungen macht die Magie des Films aus. Dabei haben auch die Rapperin Cardi B und die Body-Positivity-Sängerin Lizzo einen Gastauftritt.

«Viele Radikalisierte sind gut integriert»

Vater Kara (Kida Khodr Ramadan, mitte) trifft auf der Suche nach seinem Sohn den kleinen Waisen Malik (Ahmed Kour Abdo).

Warum werden Jugendliche zu Jihadisten? Die schweizerisch-türkische Regisseurin Esen Isik hat über diese Frage das Drama «Al-Shafaq» gedreht.

Von Murièle Weber (für den Züritipp)

In Ihrem Film sprechen Sie sehr unterschiedliche Themen an: jugendliche Jihadisten, das Spannungsfeld zwischen alter und neuer Welt, in der sich Einwanderer bewegen, das Patriarchat, aber auch das Leid, das durch Krieg entsteht. Hätten Sie nicht genug Stoff für eine Serie gehabt?

Wahrscheinlich schon. Aber diese Themen spielen alle zusammen. Ich wollte aufzeigen, dass die Thematik von Jugendlichen, die als Jihadisten in den Krieg ziehen, komplex ist und es keine einfachen Antworten gibt.

Gab es einen persönlichen Auslöser für Sie?

Der Neffe einer Bekannten flog in die Türkei, wo ihn seine Familie in letzter Minute an der syrischen Grenze zurückholen konnte. Da habe ich mich gefragt, warum machen Jugendliche das? Anfangs dachte ich, das sind nur Leute aus dem radikalen Milieu, aber viele sind gut integrierte Jugendliche. Und etwa die Hälfte sind Konvertiten. Beides hat mich schockiert.

In «Al-Shafaq» radikalisiert sich der junge Burak. Auf seine Ausreise reagieren der Vater und die Mutter sehr unterschiedlich.

Die Mutter sagt, sie werde ihm nie vergeben können, dass er an kriegerischen Handlungen teilgenommen hat, selbst wenn Allah das tut. Das ist die Wut, die ich auch selber fühle angesichts des Leides, das angerichtet wird.

Im Film kommen auch zwei Staatsanwälte vor, welche die Familie nach dem Verschwinden des Sohnes um Hilfe bittet. Diese wirken sehr hilflos.

Anfangs erhofft sich die Familie durchaus Hilfe, aber als sie merkt, dass die Beamten die radikale Szene überwacht haben und vielleicht sogar wussten, dass Burak ausreisen wollte, wird sie wütend. Diese Wut fühlen viele Familien, weil sie sich fragen: «Warum hat der Staat nichts unternommen, um unsere Kinder an der Ausreise zu hindern?»

Finden Sie, die europäischen Staaten trifft eine Mitschuld?

Ja. Ich möchte bei diesem Punkt sehr präzise sein: Die radikalislamische Szene ist sehr klein, aber sehr laut und bekommt deswegen Gehör, auch dank der sozialen Medien. All diese Vereine, Firmen, Stiftungen und Hassprediger im Schutz der Moscheen, die in diese Richtung gehen, werden aus dem Ausland finanziert, von Saudiarabien, der Türkei, Katar oder dem Iran. Welche politischen Absichten verfolgen diese Länder wohl? An Orten, die von diesen Ländern Geld bekommen, wird sicher nicht über demokratische Strukturen, Gleichberechtigung und Menschenrechte geredet. Man darf da nicht naiv sein!

Was müsste also getan werden?

Die Frage ist: Wer gibt die Religion weiter? Sie ist ja Teil des kulturellen Erbes und bereits für die Kinder von elementarer Bedeutung. Weil aber anerkannte Übersetzungen des Korans fehlen, bleibt die Vermittlung des Glaubens den Predigern vorbehalten, die sie mit ihrer eigenen Haltung prägen. Dem muss man entgegenhalten. Darum ist es auch wichtig, einen übergreifenden Religionsunterricht in der Schule zu verankern.

ESEN ISIK (50) lebt und arbeitet in Zürich. Bekannt wurde sie mit ihrem Episodenfilm «Köpek» über drei Menschen in Istanbul, die gesellschaftliche Unterdrückung erleben. «Köpek» wurde 2016 in fünf Kategorien für den Schweizer Filmpreis nominiert und gewann die Auszeichnung für den besten Film und die beste Darstellerin.

AL-SHAFAQ

Von Esen Isik, CH 2019; 98 Min.DRAMA Die türkische Familie Kara lebt in Zürich, der Vater Abdullah (Kida Khodr Ramadan, bekannt aus der Serie «4 Blocks») beherrscht sie mit harter Hand. Als der jüngere Sohn Burak (Ismail Can Metin) ihm zu entgleiten droht, regt er ihn dazu an, sich stärker mit dem Islam zu befassen. Der Sohn radikalisiert sich und verschwindet plötzlich nach Syrien. Abdullah reagiert ungläubig und macht sich auf die Suche. Im türkisch-syrischen Grenzgebiet trifft er auf den Flüchtlingsjungen Malik (Ahmed Kour Abdo) und wird so mit den Konsequenzen der Handlungen seines Sohnes konfrontiert. Die verschiedenen Perspektiven im Film sind spannend, aber auch etwas verwirrend. Eigentlich hätte der komplexe Stoff eine Miniserie verdient.

Dieser Käfig besteht aus Marmor

So palastartig sieht das Altersheim in Florida aus.

Der Dokumentarfilm «Golden Age» porträtiert eine Altersresidenz für Superreiche in Miami. Ganz schön skurril.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Ein alter Mann will König für einen Tag sein. Also wird er in eine rote Robe gesteckt und erhält Krone und Zepter. So ausgestattet, schreitet er weite Gänge ab und instruiert Angestellte und Einwohner, wie sie ihm zu huldigen haben. Das ist eine von vielen bizarren Szenen aus einer Altersresidenz für Super­reiche in Miami.

Das Gebäude gleicht einem Las-Vegas-Casino. Jeder Winkel ist bis ins Detail ausgeleuchtet, Fenster gibt es keine. So verlieren die Bewohner bald den Kontakt zum Draussen, genau wie zu Tag und Nacht. Zwischen Kronleuchtern, Marmor und Gold werden die Alten dauerunterhalten. Alles ist im Preis inbegriffen: Happy Hour, Halloweenparty, Singstunden. Hauptsache, niemand langweilt sich und will die Residenz verlassen oder sich gar draussen unter das gemeine Volk mischen.

Keine Spur von Altersmüdigkeit: Superreiche in einer Altersresidenz. Video: YouTube/First Hand Film

In ihrem goldenen Käfig, auf den der Filmtitel anspielt, verlieren die Alten vollends den Kontakt zur Realität, falls diese Superreichen den jemals hatten. So erklärt ein begeisterter Trump-Anhänger, warum man unbedingt die Grenze zu Mexiko schliessen muss, während zugleich das ganze Servicepersonal im Haus aus Lateinamerikanern besteht, die ziemlich sicher zu schlechten Konditionen angestellt sind.

Wenn an einer Sitzung der Sohn des Inhabers dem Angestellten 100 Dollar verspricht, der die Regeln für perfekten Service auswendig herunterleiern kann, dreht es einem vollends den Magen um. Dass eine Angestellte das dann nur auf Spanisch machen kann, überrascht hingegen gar nicht. Schliesslich ist sie zum Putzen da – Englischkenntnisse würden sie nur dazu motivieren, sich über ihre Rechte zu informieren.

Den Einblick in diese abstruse Welt verschafft uns der Schweizer Dokumentarfilmer Beat Oswald. Die Idee zu «The Golden Age» kam ihm, als er 2001 in Florida studierte. Damals beeindruckte ihn die Unverkrampftheit, mit der die Amerikaner sich dem Thema Pensionierung nähern.

In den letzten fünf Jahren befasste er sich intensiv mit dieser wachsenden Serviceindustrie und wurde dabei auf The Palace, wie die porträtierte Residenz heisst, aufmerksam. Drei Monate lang mischten sich die Filmcrew unter das Personal und die Bewohner. Die Erlaubnis dafür gab ihnen die Besitzerfamilie ohne Bedenken – denn die wusste, dass die Anwesenheit der Crew für die Bewohner ein weiterer Unterhaltungsfaktor darstellen würde.

Das dritte Geschlecht

Pe Rak, eine der Protagonistinnen, in einem Bus in Thailand.

Der Dokumentarfilm «Katoey» porträtiert drei Transfrauen in Thailand. Sind die Leute dort toleranter?

Von Murièle Weber (Züritipp)

Eine Überlieferung der buddhistischen Genesis besagt, dass die Ureltern – Pu Sangaiya und Nang Itthang – drei Kinder hatten: ein Junge, ein Mädchen und eines dazwischen. Diese Urgeschichte motivierte Regisseur Stefan Jung dazu, sich in Thailand auf die Suche nach diesem dritten Geschlecht zu machen mit der Frage im Hinterkopf, ob die thailändische Gesellschaft dadurch toleranter sei.

Während vier Jahren begleitete er drei Transfrauen, die sich selber als Katoey, als «Zwitter», bezeichnen. Die geschlechtsangleichende Operation steht in ihrem Leben nicht im Mittelpunkt – oft, weil schlicht das Geld fehlt. Und so bleiben die Körper irgendwo im weiten Kontinuum zwischen männlich und weiblich angesiedelt.

Es ist ein kleiner Film, der nur die drei Frauen zu Wort kommen lässt und sie in ihrem Alltag begleitet. Eine ist Lehrerin an einer Mädchenschule, eine andere Coiffeuse und die dritte eine Bauersfrau, die mit ihrem alten Vater und dem jungen Freund zusammenlebt. Alle drei hatten es nicht einfach im Leben, sie werden aber in ihrer Einzigartigkeit akzeptiert und sind integriert.

Trotzdem umgibt die drei Frauen eine Traurigkeit, die wohl einer gewissen Einsamkeit entstammt. Die Bauersfrau erzählt einmal, Katoey seien treuer und loyaler gegenüber ihren Männern als «normale» Frauen, und darin zeigt sich bereits das Dilemma: Wer keine richtige, funktionierende Frau ist, muss dieses Manko durch mehr Aufmerksamkeit ausgleichen.

Stefan Jung kann seine Fragestellung, ob die thailändische Gesellschaft toleranter sei, weil in ihrer Genesis ein drittes Geschlecht vorkommt, nicht beantworten. Aber eines zeigt der Film eindrücklich: dass jedes Leben und jeder Körper in seiner Einzigartigkeit faszinierend ist. Und dass es sich lohnt, davon zu erzählen.

Sie ist kokett und stark

Lady Galore, Foto von Petra van Velzen

Das 22. schwullesbischen Festival zeigt «Galore», das Porträt einer Dragqueen aus Holland. Wir sprachen mit Lady Galore.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Die Eltern waren nicht gerade begeistert, als sich Sander den Baas als schwul outete. So zog er bald vom Fischerstädtchen Den Helder nach Amsterdam. Nach einer Reihe von Jobs als Kosmetiker, Réceptionist oder Altersheim-Animator lieh er sich für einen Event die Perücke einer Dragqueen – in der Verkleidung als Frau stiess er auf so viel Zustimmung, dass er Angebote für weitere Auftritte bekam.

«Für mich gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen Drag und Feminismus», sagt uns Den Baas am Telefon. «Frauen haben so viel Stärke, und das versuche ich in einer überspitzten Form als Dragqueen zu zeigen. Lady Galore weiss, was sie will und steht dafür auch ein. Aber natürlich bin ich als Galore auch sehr kokett und zugänglich.»

Als Dragqueen gehe es ihm in erster Linie um Unterhaltung, sagt der 35-Jährige. «Es gibt ja verschiedene Formen von Drag. In Amsterdam ist zum Beispiel das Make-up am wichtigsten.» Den Baas’ Set besteht meist aus zwei Songeinlagen als Playback und einem kurzen Teil in der Mitte, in dem er frei improvisiert erzählt. «Wichtig ist mir ausserdem, etwas für meine Community zu machen, deshalb organisiere ich Workshops und bin eine mütterliche Figur für die jüngeren Dragqueens.»

Als der stark übergewichtige Den Baas sich 2017 dazu entschloss, eine Magenbandoperation durchführen zu lassen, fragte er die Zwillingsbrüder Lazlo und Dylan Tonk, ob sie als Filmemacher den Transformationsprozess begleiten würden. Diese waren sofort begeistert vom Projekt und folgten Sander zu Auftritten und Anlässen, aber eben auch ins Spital und die Essberatung.

«Lazlo und Dylan sind grossartige Regisseure, und ich bin stolz über die internationale Premiere», so Den Baas. «Bei meinem ersten Besuch in Zürich, war ich ganz begeistert vom klaren Wasser in eurem See und den Kühen, die ich mitten in der Stadt sah. Ich glaube, die filmten mit ihnen eine Werbung für Unterhosen.»

Sander den Baas sagt, die Leute seien oft zurückhaltend, wenn sie ihn als Drag Queen sehen. «Aber ich freue mich immer, wenn sie auf mich zukommen und reden oder ein Foto machen wollen.»

www.pinkapple.ch

Galore: von Dylan and Lazlo Tonk, Dokumentarfilm, NL 2019, 74 min.

Endlich erwachsen

https://www.flickr.com/photos/antdude3001/43295844722
Der erwachsene Shazam (Zachary Levi) mit seinem besten Freund Freddy (Jack Dylan Grazer). Bild: flickr

Ein Spass für junge Fans: Dank Magie wird ein Teenager zum Superhelden im Film «Shazam!».

Von Murièle Weber (Züritipp)

«Shazam!», ruft der 14-jährige Billy (Asher Angel) und verwandelt sich in den gleichnamigen Superhelden (Zachary Levi) im roten Kostüm. Die Superkräfte hat das Pflegekind vom sterbenden Magier Shazam erhalten, der eigentlich die sieben Todsünden bewachen sollte, dazu aber zu schwach war. Deshalb treiben sich die Sünden nun als zähnefletschende Monster auf der Welt herum.

Befreit wurden die Sünden vom Bösewicht Dr. Thaddeus Sivana (Mark Strong), der ursprünglich vom Magier als neuer Shazam auserwählt worden war, sich aber der Superkräfte als nicht würdig erwies. Nun stehen sich der verbitterte Sivana und der unerfahrene Shazam in einem Kampf auf Leben und Tod gegenüber.

Nach erwachsenen Comic-Adaptionen wie «Man of Steel», «Suicide Squad» oder «Wonder Woman» wendet sich DC mit «Shazam» bewusst an ein junges Publikum. Harmloser Spass steht im Vordergrund: Als Billy seine magischen Fähigkeiten erhält, wendet er sich an seinen Pflegebruder Freddy (Jack Dylan Grazer), der sich mit Superhelden auskennt. Die beiden versuchen in allerlei Tests, Shazams Kräfte zu eruieren, bevor sie diese für recht banale Zwecke einsetzen, zum Beispiel zur Unterhaltung von Touristen.

Der Film hat das Herz am richtigen Fleck und wird getragen von den zwei liebenswerten Jungs und ihrer spitzbübischen Freude an Billys Geheimidentität. Auch die Dynamik zwischen dem kindlichen Shazam und Freddy ist amüsant. Aber leider nutzt der Film das Potenzial nicht richtig aus, sondern verliert sich in allerlei Nebengeschichten über die Figuren und findet keinen gleichmässigen Rhythmus. Dem Zielpublikum jedoch dürfte das kaum auffallen.

Shazam, David F. Sandberg, USA 2019, 132 min.

Gerecht handeln

Patrick Hohmann im Gespräch mit Baumwollbauern.

Lassen sich Geschäfte auch nachhaltig führen? Der Dokumentarfilm «Fair Traders» zeigt Möglichkeiten auf.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Der italienisch-schweizerische Regisseur Nino Jacusso («Shana: The Wolf’s Music») folgt zwei Unternehmern und einer Biobäuerin in ihrem Alltag und fragt sie, was sie dazu motiviert, sich für die Umwelt und die Gesellschaft einzusetzen.

Die Porträtierten sind derart spannende Personen, dass man ihnen stundenlang zuhören könnte. Patrick Hohmann baut mit der Stiftung Biore Biobaumwolle in Afrika und Indien an, die unter anderem von Coop für die Naturaline benutzt wird. Sina Trinkwalder, die auch als Buchautorin arbeitet, stellt mit der Firma Manomama umweltverträgliche Kleider her, wobei sie Angestellte beschäftigt, die wegen ihres Alters oder ihres Lebenslaufs nur schwierig eine andere Stelle finden würden. Und die ehemalige Kindergärtnerin Claudia Zimmermann betreibt im Kanton Solothurn einen Biohof mit angeschlossenem Laden. «Fair Traders» ist visuell vielleicht kein berauschender, aber inhaltlich ein motivierender und ansteckender Film.

Big Brother auf hoher See

Der Anthropologe Santiago Genovés (gelbes Shirt) umgeben von seinen menschlichen Studienobjekten.

Der Film «The Raft» erzählt von einem Sozialexperiment, das unter sehr skurillen Bedingungen stattgefunden hat.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Sie denken, «Big Brother» oder «Das Dschungelcamp» seien Ende der Neunzigerjahre erfunden worden? Da kennen Sie wahrscheinlich das Acali-Experiment aus den Siebzigern noch nicht. Zu diesem wurde der mexikanische Anthropologe und Gewaltforscher Santiago Genovés inspiriert, als er 1972 eine Flugzeugentführung miterlebte. Voller Begeisterung studierte er die Beteiligten des Vorfalls und wie sie sich in dieser Stresssituation verhielten. Und er beschloss, die Umstände nachzustellen, weil es ihm persönlich so viel Spass gemacht hatte.

Deswegen suchte er sechs junge, hübsche Frauen und fünf Männer, die mit ihm auf einem kleinen Floss in drei Monaten den Atlantik überqueren sollten. Er hoffte, dass sich die Teilnehmer bald an die Gurgel gehen würden und er diese Gewaltausbrüche – abgeschottet von der Zivilisation ohne Einmischung – würde studieren können. Um sicherzustellen, dass die Situation auch sicher eskalieren würde, dachte er sich einen besonders perfiden Plan aus: Er gab den Frauen auf dem Floss mehr Macht als den Männern. Der Kapitän war zum Beispiel eine schwedische Blondine und der Arzt eine anpackende Israelin.

Auf dem Kahn, von den Medien 1973 «Sexfloss» getauft, passierte dann aber – nichts. Die Männer und Frauen aus verschiedenen Ländern verstanden sich grossartig. Trotz der beengten Verhältnisse und der fehlenden Privatsphäre war der Umgang respektvoll. Es entstanden neue Freundschaften, die Leute bildeten eine friedliche Gemeinschaft. Das wiederum konnte Genovés nicht akzeptieren. Deshalb begann er damit, die Teilnehmer gegeneinander aufzustacheln. Und dann geschah das, wovon wahrscheinlich so mancher gebeutelte Dschungelbewohner heimlich träumt: Es wurde ein Mord geplant. Allerdings nicht innerhalb der Gruppe, sondern an Genovés, der das Leben der Probanden mit immer perfideren Störmanövern in immer grössere Gefahr brachte.

«The Raft» ist ein äusserst lustiger Dokumentarfilm, wenn er leider auch einige Längen hat. Besonders die Nachstellungen wären nicht immer nötig gewesen, da es vorzügliches Originalfilmmaterial gibt. Die Geschichte aber zeigt, wie das Weltbild und die Vorurteile eines Wissenschaftlers eine Studie verfälschen können. Die Studienobjekte jedenfalls hatten eine grossartige Zeit, der Wissenschaftler weniger.

Wenn das Idol zum Rivalen wird

In der Nick-Hornby-Verfilmung «Juliet, Naked» ist Ethan Hawke als Rockstar zu sehen, der sich in die Freundin eines Fans verliebt.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Es gibt ein paar Gruppen, die sicherheitshalber nie aufeinandertreffen sollten, weil die Chance für eine Katastrophe hoch ist. Bei Werwölfen und Vampiren ist das so, bei Mutterbären und aufdringlichen Touristen – oder bei besessenen Fans und ihren Idolen. Was passieren kann, wenn die letzten beiden Gruppen kollidieren, zeigt die neue Nick-Hornby-Verfilmung.

Eigentlich aber geht es zuerst einmal um Annie (Rose Byrne), eine Enddreissigerin, die in einer kleinen englischen Küstenstadt das lokale Museum leitet, und um ihren langjährigen Partner Duncan (phänomenal: Chris O’Dowd). Der ist normalerweise ein respektabler Unidozent, in seiner Freizeit lässt er aber seiner Fanliebe zum Neunzigerjahre-Indiemusiker Tucker Crowe (Ethan Hawke) freien Lauf. Und hier entstehen die Probleme; wenn er zum Beispiel auf seiner Fanwebsite stundenlang die wildesten Theorien mit anderen Männern mittleren Alters bespricht.

Als Duncan dann auch noch Crowes berühmtestes Album «Juliet» in einer Rohfassung als «Juliet, Naked» per Post zugeschickt wird und Annie sich das Album vor ihm anhört, ist die Hölle los. Deshalb verzieht er sich mit seinem tragbaren CD-Player auf eine einsame Parkbank, wo die Tränen zu den Liebesliedern ungestört fliessen können. Am nächsten Tag erdreistet sich die vernachlässigte Annie, auf Duncans Website «Juliet,Naked» zu kritisieren. Dafür erntet sie per Mail Applaus von Tucker Crowe höchstpersönlich – woraus eine tiefe Mailfreundschaft entsteht.

Der Film verfolgt zwei Storylines: die erblühende Romanze zwischen Annie und dem alternden Tucker und die Fanobsession von Duncan, die in einem desaströsen Treffen mit seinem Idol gipfelt. Der Film ist lustig und tiefgründig wie die Hornby-Adaption «About a Boy» und ähnlich besessen von Musik wie «High Fidelity». Und er wirft auf intelligente Art und Weise die Frage auf, wem Kunst gehört: dem Künstler oder seinen Fans? In einer philosophischen Diskussion zwischen Duncan und Tucker bringt es Duncan auf den Punkt: «Ich schätze dieses Album. Vielleicht mehr als alles andere, was ich je gehört habe. Nicht, weil es perfekt wäre, sondern für das, was es mir bedeutet. Was es Ihnen bedeutet, ist mir letzten Endes egal.» Recht hat er.