In Hollywoodfilmen fehlen sie immer noch: Vielschichtige Rollen für Frauen über vierzig. Umso mehr von ihnen findet man in Fernsehserien.
Von Murièle Weber
Aus dem Blickwinkel von Kindern sind Mütter oft böse. Denn sie haben die Macht, ihnen etwas zu verbieten. So empfindet das auch die 16-jährige Max (Mikey Madison), als ihre Mutter Sam (Pamela Adlon) sich weigert, Marihuana für sie zu kaufen. «Dabei könntest du so sicherstellen, dass ich nur gutes Gras rauche», findet Max. Später muss Sam sich im Einkaufszentrum von einer Frau anstarren lassen, als ihre Jüngste in Tränen ausbricht. «Sie weint, weil ich ihr die Ohrringe nicht gekauft habe», erklärt sie. «Wollen Sie sie ihr kaufen? Nein? Dann hören Sie auf mich so anzustarren.»
Die Schauspielerin Pamela Adlon hat mit «Better Things» (seit 2016) ihre erste Serie geschrieben. Dafür und für ihre beissende Direktheit applaudiert man ihr aus tiefem Herzen. Adlon, die man als Marcy Runkle aus «Californication» kennt, bezieht die Inspiration für ihre semiautobiografische Serie «Better Things» aus ihrem Alltag als alleinerziehende dreifache Mutter. Im Gegensatz zu Kinofilmen wie «Bad Moms», in denen selbst das Scheitern von Müttern glorifiziert wird, sieht man Sam des Öfteren beim Putzen und Aufräumen. Und sie darf auch einmal frustriert und muffig sein.
«Better Things» ist nur ein Beispiel für viele Serien, bei denen Frauen im Mittelpunkt stehen, während Hollywood immer noch nur vereinzelte interessante Hauptrollen für Schauspielerinnen bereithält. 2015 war mit oscarnominierten Filmen wie «Carol», «Joy», «Brooklyn» und «Room» zwar kein schlechtes Jahr für Frauen, aber bei den diesjährigen Nominierten, «Moonlight», «Hacksaw Ridge», «Manchester by the Sea», stehen wieder Männer im Mittelpunkt.
Das Fernsehen hingegen war schon immer auch ein Frauenmedium und auch progressiv. Radio-Seifenopern, die speziell für Frauen konzipiert wurden, um Seifenprodukte zu bewerben, schafften bereits 1946, im Jahr des ersten regulären Fernsehprogramms, den Sprung auf den Bildschirm. Es folgten Klassiker wie «I Love Lucy» (1951–57), mitkonzipiert von der Hauptdarstellerin, genauso wie die «Mary Tyler Moore Show» (1970–77), die sich um eine unverheiratete und unabhängige Karrierefrau drehte. In den achtziger Jahren folgte die Polizei-Serie «Cagney & Lacey». Was der erste weibliche Buddy-Film hätte werden sollen, wurde zur Serie, weil kein Filmstudio Interesse zeigte. Alle drei Serien waren erfolgreich bei Kritikern und hatten hohe Einschaltquoten.
Frauen nützen ihre Macht
Schauspielerinnen äussern sich regelmässig dazu, dass die Rollenangebote spätestens nach dem vierzigsten Geburtstag drastisch abnehmen. Maggie Gyllenhaal machte publik, dass man sie mit 37 für zu alt hielt, um noch die Geliebte eines 55-Jährigen zu spielen. Und Meryl Streep formulierte es so: «Filme spiegeln die Phantasien vieler Leute wider. Die meisten Filmstudios werden von Männern geführt, und in ihren Phantasien kommen nun einmal keine Frauen vor, die wie ihre erste Ehefrau aussehen.» Statt als Liebhaberin eines alten Mannes übernahm Gyllenhaal 2014 dann die Hauptrolle als einflussreiche Politikerin in der brillanten und mehrfach ausgezeichneten Miniserie «The Honourable Woman». Viele andere preisgekrönte Filmschauspielerinnen taten Ähnliches. Glenn Close spielte in «Damages», Holly Hunter in «Saving Grace», Jessica Lange in «American Horror Story» und Kathy Bates in «Harry’s Law».
Wenn eine Frau die sechzig überschritten hat und nicht Meryl Streep heisst, werden die Rollen noch weniger. Bahnbrechend waren da die «Golden Girls» (1985–1992). Sie zeigten: Mit sechzig ist das Leben noch lange nicht vorbei. Lange bevor «Sex and the City» auch nur als Idee existierte, sassen die vier alten Frauen um ihren Küchentisch, assen Quarktorte und diskutierten über ihr Sexleben. Dabei ging es auch um gleichgeschlechtliche Ehen oder Aids. Plötzlich waren alte Frauen nicht nur im Fernsehen sichtbar, ihre Körper hörten auch nicht mehr am Hosenbund auf.
«Grace and Frankie» (seit 2015) hob die Alterslimite sogar auf fast achtzig an. Jane Fonda (Grace) und Lily Tomlin (Frankie) verkörpern darin zwei Frauen, die aus allen Wolken fallen, als ihre Ehemänner ihnen eröffnen, ineinander verliebt zu sein und heiraten zu wollen. Während die esoterische Frankie im Drogenrausch Halt sucht, will die kontrollsüchtige Grace zurück in die Arbeitswelt. Schliesslich ringen die gegensätzlichen Frauen um eine Freundschaft. Denn wer könnte besser verstehen, was sie gerade durchmachen? Abgesehen davon, dass Serien ältere Frauen sichtbar machen, haben ihre Protagonistinnen vor allem eines gemeinsam: Macht. Diese setzen sie rücksichtslos ein, um sich vom altmodischen Anspruch zu befreien, als Frauen immer nett und angepasst sein zu müssen.
Annalise Keating, die Staranwältin und Professorin aus «How to Get Away with Murder» treibt die Unverfrorenheit auf die Spitze, wenn sie ihren Studenten dabei hilft, den Mord an ihrem Ehemann zu vertuschen. In den meisten Szenen entscheidet kühle Berechnung über Annalises Handeln, nur im Privaten lässt sie eine Verletzlichkeit zu, die ihre Figur so vielschichtig macht und zeigt, wie kaputt sie eigentlich ist. Annalise wird verkörpert von der Afroamerikanerin Viola Davis, die dreimal für einen Oscar nominiert war, in Hollywood aber trotzdem immer nur Nebenrollen bekam.
Diversität ist essenziell in Serien
Während Hollywood biografische Stoffe braucht, um Menschen unterschiedlicher Ethnien als Paar zu zeigen, wie momentan das Drama «Loving», sind solche Paare in Serien selbstverständlich. Nicht nur Annalise hat einen weissen Ehemann, auch die Protagonistin aus «Scandal» (seit 2012) hat eine Affäre mit ihrem weissen Chef, dem amerikanischen Präsidenten. Und nicht für einen Moment fallen diese Paare auf. Beide Protagonistinnen wurden von der afroamerikanischen Drehbuchautorin und Produzentin Shonda Rhimes kreiert, der Macherin von «Grey’s Anatomy» und der neuen Serie «The Catch». Rhimes ist zurzeit die mächtigste Frau im Seriengeschäft. Danach gefragt, warum ihre Protagonistinnen so stark und vielschichtig seien, antwortete sie: «Weil ich keine dummen, schwachen Frauen kenne.»
Immer häufiger schreiben sich Frauen, wie jetzt Pamela Adlon, ihre Rollen gleich selber auf den Leib. Das bekannteste Beispiel ist «Girls» von Lena Dunham. Interessanter, trauriger und boshafter ist die BBC-Serie «Fleabag» von Phoebe Waller-Bridge. Die 31-jährige Londonerin schuf darin eine moderne Antiheldin der Grossstadt, die an ihrem gebrochenen Herzen, ihrer Familie und ihren psychischen Problemen zu scheitern droht. Komik und Tragik liegen immer nahe beieinander. Als ihr Freund ihr mitteilt, dass er sie verlässt, sagt sie: «Das hast du gerade so poetisch gesagt, du solltest das aufschreiben.» Worauf er tatsächlich sein Notizbuch zückt und den Satz festhält, bevor er seinen dramatischen Abgang inszeniert.
Dass das Fernsehen die interessanteren Frauenrollen zu bieten hat, liegt erstens an der grossen Anzahl der Fernsehserien. Seit Erfindung des Breitband-Internets kommen immer neue Streaming-Dienste dazu, die häufig auch eigenes Material anbieten wollen, weil das Geld und Ehre bringt. Weil sie dafür herausstechen müssen, hat uns das grossartige Serien beschert wie «Transparent» über eine transsexuelle Frau im Seniorenalter und ihre Beziehungen zu Kindern und Ex-Frau. Zweitens verdienen Frauen immer mehr Geld, was sie für Werber und Bezahlsender interessanter macht. Drittens haben Studien gezeigt, dass Frauen häufiger fernsehen als Männer und innerhalb der Familie öfter das Fernsehprogramm bestimmen. Und schliesslich: Seit Frauen wie Oprah Winfrey, Shonda Rhimes und Jenji Kohan («Weeds» und «Orange Is the New Black») mehr Einfluss haben, können sie sich auf das konzentrieren, was sie interessiert: komplexe Rollen für Frauen.
Shonda Rhimes
Die 47-jährige dreifache Mutter wurde vom «Time-Magazin» zweimal zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt gewählt. Mit ihrer Firma ShondaLand produziert sie Serien, die in 250 Ländern in 67 Sprachen laufen. Mit afroamerikanischen, asiatischen und homosexuellen Figuren erhöht sie die Sichtbarkeit von Minderheiten.
Die neuen Serien mit Frauen
Viel Starpower
In den USA laufen drei grossartige Serien an: «The Big Fight» handelt nach «The Good Wife» von Alicia Florricks viel interessanterer Vorgesetzter Diane Lockhart. Als Opfer eines Finanzschwindels baut sich diese eine neue Existenz auf. Die Miniserie «Big Little Lies» blickt ins Innere von weissen Mittelstandsfamilien. Reese Witherspoon, Nicole Kidman und Shailene Woodley müssen sich kritischen Müttern stellen und nach einem Mord auch der Polizei. «Feud» behandelt die legendäre Fehde zwischen den Hollywood-Diven Bette Davis (Susan Sarandon) und Joan Crawford (Jessica Lange) während der Dreharbeiten zu «What Ever Happened to Baby Jane». Murièle Weber