Mütter stehen zu ihrer Lust

Neue Serien wie «Better Things» und «SMILF» zeigen Mütter von heute: Unvollkommen zwar und in Alltagskämpfe verwickelt, aber selbstbestimmt.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Mütter sind die asexu­ells­ten Kreaturen auf Gottes weitem Planeten. Ironischerweise, denn der Storch hat die Kinder nicht gebracht. Trotzdem hält sich in unserer Kultur der Archetypus der jungfräulichen Maria, die ihre Individualität und Sexualität aufgibt, um in der Mutterrolle aufzugehen.

Hollywoodfilme wie «The Graduate» (1967), «American Pie» (1999) und «Bad Moms» (2016) haben die Mutter zwar sexualisiert, aber immer aus der Sicht eines männlichen hormongesteuerten Teenagers zum hemmungslosen Sexobjekt stilisiert. Das ist quasi ein moderner Twist der Oedipus-Saga: Die Mutter des Freundes ist so erotisch, dass der Jugendliche gar nicht anders kann, als ihren Reizen zu erliegen. Selbstbestimmte weibliche Sexualität sieht anders aus.

Am Vater liegt es nie

Andererseits wird die Mutter gerne als Quell allen Übels eruiert. Läuft mit dem Nachwuchs etwas schief, gilt die allgemeingültige Prämisse: «Cherchez la femme». Die Serie «Mindhunter», in der es um die psychologische Analyse von Serienmördern geht, kommt zum Schluss, dass hinter jedem ­psychopathischen Mörder eine fehlerhafte Mutter steht. Am Vater liegt es nie.

Zwischen diesen beiden extremen Polen tut etwas mütterlicher Alltag not. Hier setzen die beiden Serien «SMILF» und «Better Things» ein. Beide wurden von ­Müttern ­konzipiert und umgesetzt. Denn während das Kino noch immer hauptsächlich die männliche Sicht zeigt, ist das Fernsehen ein Frauenmedium. Von Anfang an waren Frauen nicht nur inhaltlich in Serien und Seifenopern prominent, sondern auch hinter der Kamera, als Regisseurinnen, Autorinnen und Produzentinnen. Mit Serien wie «Girls» begann das Zeitalter der Alleskönnerin: der Frau, die ihre eigene Serie schreibt, Regie führt und die Hauptrolle spielt, um semi-autobiografische Geschichten zu erzählen. Während lange junge Frauen im Mittelpunkt standen, erobern nun die Mütter dieses Terrain.

In einer Szene in «SMILF» («Single Mother I’d Like to Fuck») sieht man die Protagonis-tin Bridgette (Frankie Shaw) mit Kind vor einem Wandgemälde von Maria mit Jesuskind im Arm stehen. Jemand hat Madonna zwei unproportionale Brüste aufsprayt. Das ist es, was diese Serien machen, sie überschreiten gerade die Vorstellungen von Mutterschaft mit selbstbestimmter Sexualität, ganz viel Dreistigkeit und Mut zur Unvollkommenheit.

Kein Sex seit der Geburt des Kindes

Bridgette ist nicht perfekt. Sie lässt ihren zweijährigen Sohn auch mal kurz alleine in der Wohnung zurück, um zum nächsten Laden zu rennen und sich mit Junkfood einzudecken. Als sie dort einen alten Bekannten trifft, reagiert dieser auf die Neuigkeit ihrer Elternschaft erstaunt: «Du bist jemandes Mami. Das ist total verrückt.» Der Einladung zum Sex bei ihr folgt er dann trotzdem sofort. Für Bridgette ist das eine grosse Sache, denn seit der Geburt des Kindes hatte sie keinen Sex mehr. Sie will sich vor allem selber davon überzeugen, dass mit ihrem Körper noch alles stimmt.

Während Bridgette ihre Alltagskämpfe um Kind und gegen Armut im Arbeiter­viertel South Boston austrägt, hat auch Samantha (Pamela Adlon) in ihrer Villa in Los Angeles ihre Mühe mit der Mutterrolle. Als sie es sich endlich erlaubt, einer auf­keimenden Romanze eine Chance zu geben und mit einem Mann für ein Wochenende zu verreisen, laufen ihre Töchter Sturm. Denn auf die Frage, ob sie in ihrer Abwe­sen­heit eine Party feiern dürfen, antwortet diese: «Macht, was ihr wollt.» Die gebotene Freiheit mögen die Kinder daher nicht geniessen – zu sehr sind sie entsetzt über den Mangel an mütterlicher Aufmerksamkeit gegenüber ihren eigenen Bedürfnissen. «Kindervernachlässigung», schreit die eine. «Jetzt sind wir Waisen», schreit die andere.

Bridgette und Samantha sind vor allem eines: Individuen geblieben. Im Guten wie im Schlechten. Ihre Kinder haben sie nicht zu vollkommeneren Menschen werden lassen. Sie geben sich selber nicht für diese auf. Aber sie gehen ihren Weg, und das ist hart genug. Um den Eindruck von aussen können sie sich nicht auch noch kümmern.

Serien-Täterinnen

In Hollywoodfilmen fehlen sie immer noch: Vielschichtige Rollen für Frauen über vierzig. Umso mehr von ihnen findet man in Fernsehserien.

Von Murièle Weber

Aus dem Blickwinkel von Kindern sind Mütter oft böse. Denn sie haben die Macht, ihnen etwas zu verbieten. So empfindet das auch die 16-jährige Max (Mikey Madison), als ihre Mutter Sam (Pamela Adlon) sich weigert, Marihuana für sie zu kaufen. «Dabei könntest du so sicherstellen, dass ich nur gutes Gras rauche», findet Max. Später muss Sam sich im Einkaufszentrum von einer Frau anstarren lassen, als ihre Jüngste in Tränen ausbricht. «Sie weint, weil ich ihr die Ohrringe nicht gekauft habe», erklärt sie. «Wollen Sie sie ihr kaufen? Nein? Dann hören Sie auf mich so anzustarren.» 

Die Schauspielerin Pamela Adlon hat mit «Better Things» (seit 2016) ihre erste Serie geschrieben. Dafür und für ihre beissende Direktheit applaudiert man ihr aus tiefem Herzen. Adlon, die man als Marcy Runkle aus «Californication» kennt, bezieht die Inspiration für ihre semiautobiografische Serie «Better Things» aus ihrem Alltag als alleinerziehende dreifache Mutter. Im Gegensatz zu Kinofilmen wie «Bad Moms», in denen selbst das Scheitern von Müttern glorifiziert wird, sieht man Sam des Öfteren beim Putzen und Aufräumen. Und sie darf auch einmal frustriert und muffig sein.

«Better Things» ist nur ein Beispiel für viele Serien, bei denen Frauen im Mittelpunkt stehen, während Hollywood immer noch nur vereinzelte interessante Hauptrollen für Schauspielerinnen bereithält. 2015 war mit oscarnominierten Filmen wie «Carol», «Joy», «Brooklyn» und «Room» zwar kein schlechtes Jahr für Frauen, aber bei den diesjährigen Nominierten, «Moonlight», «Hacksaw Ridge», «Manchester by the Sea», stehen wieder Männer im Mittelpunkt. 

Das Fernsehen hingegen war schon immer auch ein Frauenmedium und auch progressiv. Radio-Seifenopern, die speziell für Frauen konzipiert wurden, um Seifenprodukte zu bewerben, schafften bereits 1946, im Jahr des ersten regulären Fernsehprogramms, den Sprung auf den Bildschirm. Es folgten Klassiker wie «I Love Lucy» (1951–57), mitkonzipiert von der Hauptdarstellerin, genauso wie die «Mary Tyler Moore Show» (1970–77), die sich um eine unverheiratete und unabhängige Karrierefrau drehte. In den achtziger Jahren folgte die Polizei-Serie «Cagney & Lacey». Was der erste weibliche Buddy-Film hätte werden sollen, wurde zur Serie, weil kein Filmstudio Interesse zeigte. Alle drei Serien waren erfolgreich bei Kritikern und hatten hohe Einschaltquoten. 

Frauen nützen ihre Macht

Schauspielerinnen äussern sich regelmässig dazu, dass die Rollenangebote spätestens nach dem vierzigsten Geburtstag drastisch abnehmen. Maggie Gyllenhaal machte publik, dass man sie mit 37 für zu alt hielt, um noch die Geliebte eines 55-Jährigen zu spielen. Und Meryl Streep formulierte es so: «Filme spiegeln die Phantasien vieler Leute wider. Die meisten Filmstudios werden von Männern geführt, und in ihren Phantasien kommen nun einmal keine Frauen vor, die wie ihre erste Ehefrau aussehen.» Statt als Liebhaberin eines alten Mannes übernahm Gyllenhaal 2014 dann die Hauptrolle als einflussreiche Politikerin in der brillanten und mehrfach ausgezeichneten Miniserie «The Honourable Woman». Viele andere preisgekrönte Filmschauspielerinnen taten Ähnliches. Glenn Close spielte in «Damages», Holly Hunter in «Saving Grace», Jessica Lange in «American Horror Story» und Kathy Bates in «Harry’s Law».

Wenn eine Frau die sechzig überschritten hat und nicht Meryl Streep heisst, werden die Rollen noch weniger. Bahnbrechend waren da die «Golden Girls» (1985–1992). Sie zeigten: Mit sechzig ist das Leben noch lange nicht vorbei. Lange bevor «Sex and the City» auch nur als Idee existierte, sassen die vier alten Frauen um ihren Küchentisch, assen Quarktorte und diskutierten über ihr Sexleben. Dabei ging es auch um gleichgeschlechtliche Ehen oder Aids. Plötzlich waren alte Frauen nicht nur im Fernsehen sichtbar, ihre Körper hörten auch nicht mehr am Hosenbund auf. 

«Grace and Frankie» (seit 2015) hob die Alterslimite sogar auf fast achtzig an. Jane Fonda (Grace) und Lily Tomlin (Frankie) verkörpern darin zwei Frauen, die aus allen Wolken fallen, als ihre Ehemänner ihnen eröffnen, ineinander verliebt zu sein und heiraten zu wollen. Während die esoterische Frankie im Drogenrausch Halt sucht, will die kontrollsüchtige Grace zurück in die Arbeitswelt. Schliesslich ringen die gegensätzlichen Frauen um eine Freundschaft. Denn wer könnte besser verstehen, was sie gerade durchmachen? Abgesehen davon, dass Serien ältere Frauen sichtbar machen, haben ihre Protagonistinnen vor allem eines gemeinsam: Macht. Diese setzen sie rücksichtslos ein, um sich vom altmodischen Anspruch zu befreien, als Frauen immer nett und angepasst sein zu müssen.

Annalise Keating, die Staranwältin und Professorin aus «How to Get Away with Murder» treibt die Unverfrorenheit auf die Spitze, wenn sie ihren Studenten dabei hilft, den Mord an ihrem Ehemann zu vertuschen. In den meisten Szenen entscheidet kühle Berechnung über Annalises Handeln, nur im Privaten lässt sie eine Verletzlichkeit zu, die ihre Figur so vielschichtig macht und zeigt, wie kaputt sie eigentlich ist. Annalise wird verkörpert von der Afroamerikanerin Viola Davis, die dreimal für einen Oscar nominiert war, in Hollywood aber trotzdem immer nur Nebenrollen bekam.

Diversität ist essenziell in Serien

Während Hollywood biografische Stoffe braucht, um Menschen unterschiedlicher Ethnien als Paar zu zeigen, wie momentan das Drama «Loving», sind solche Paare in Serien selbstverständlich. Nicht nur Annalise hat einen weissen Ehemann, auch die Protagonistin aus «Scandal» (seit 2012) hat eine Affäre mit ihrem weissen Chef, dem amerikanischen Präsidenten. Und nicht für einen Moment fallen diese Paare auf. Beide Protagonistinnen wurden von der afroamerikanischen Drehbuchautorin und Produzentin Shonda Rhimes kreiert, der Macherin von «Grey’s Anatomy» und der neuen Serie «The Catch». Rhimes ist zurzeit die mächtigste Frau im Seriengeschäft. Danach gefragt, warum ihre Protagonistinnen so stark und vielschichtig seien, antwortete sie: «Weil ich keine dummen, schwachen Frauen kenne.» 

Immer häufiger schreiben sich Frauen, wie jetzt Pamela Adlon, ihre Rollen gleich selber auf den Leib. Das bekannteste Beispiel ist «Girls» von Lena Dunham. Interessanter, trauriger und boshafter ist die BBC-Serie «Fleabag» von Phoebe Waller-Bridge. Die 31-jährige Londonerin schuf darin eine moderne Antiheldin der Grossstadt, die an ihrem gebrochenen Herzen, ihrer Familie und ihren psychischen Problemen zu scheitern droht. Komik und Tragik liegen immer nahe beieinander. Als ihr Freund ihr mitteilt, dass er sie verlässt, sagt sie: «Das hast du gerade so poetisch gesagt, du solltest das aufschreiben.» Worauf er tatsächlich sein Notizbuch zückt und den Satz festhält, bevor er seinen dramatischen Abgang inszeniert.

Dass das Fernsehen die interessanteren Frauenrollen zu bieten hat, liegt erstens an der grossen Anzahl der Fernsehserien. Seit Erfindung des Breitband-Internets kommen immer neue Streaming-Dienste dazu, die häufig auch eigenes Material anbieten wollen, weil das Geld und Ehre bringt. Weil sie dafür herausstechen müssen, hat uns das grossartige Serien beschert wie «Transparent» über eine transsexuelle Frau im Seniorenalter und ihre Beziehungen zu Kindern und Ex-Frau. Zweitens verdienen Frauen immer mehr Geld, was sie für Werber und Bezahlsender interessanter macht. Drittens haben Studien gezeigt, dass Frauen häufiger fernsehen als Männer und innerhalb der Familie öfter das Fernsehprogramm bestimmen. Und schliesslich: Seit Frauen wie Oprah Winfrey, Shonda Rhimes und Jenji Kohan («Weeds» und «Orange Is the New Black») mehr Einfluss haben, können sie sich auf das konzentrieren, was sie interessiert: komplexe Rollen für Frauen.

Shonda Rhimes 

Die 47-jährige dreifache Mutter wurde vom «Time-Magazin» zweimal zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt gewählt. Mit ihrer Firma ShondaLand produziert sie Serien, die in 250 Ländern in 67 Sprachen laufen. Mit afroamerikanischen, asiatischen und homosexuellen Figuren erhöht sie die Sichtbarkeit von Minderheiten. 

Die neuen Serien mit Frauen 

Viel Starpower 

In den USA laufen drei grossartige Serien an: «The Big Fight» handelt nach «The Good Wife» von Alicia Florricks viel interessanterer Vorgesetzter Diane Lockhart. Als Opfer eines Finanzschwindels baut sich diese eine neue Existenz auf. Die Miniserie «Big Little Lies» blickt ins Innere von weissen Mittelstandsfamilien. Reese Witherspoon, Nicole Kidman und Shailene Woodley müssen sich kritischen Müttern stellen und nach einem Mord auch der Polizei. «Feud» behandelt die legendäre Fehde zwischen den Hollywood-Diven Bette Davis (Susan Sarandon) und Joan Crawford (Jessica Lange) während der Dreharbeiten zu «What Ever Happened to Baby Jane». Murièle Weber