Die Popmusik wird langsamer

Bild: pexels / John Tekeridis

Unter Einfluss von Elektro- und Rapsounds findet eine Entschleunigung statt. Dies zeigen die Top-Songs von Spotify. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Niemand wurde 2017 auf Spotify so oft gestreamt wie Ed Sheeran. Damit hat er Drake entthront. Warum das interessant ist? Sheeran ist bekannt für seine Schmusesongs, derzeit steht er gerade mit «Perfect» auf Platz 1 der Hitparade. Aber nicht dieser Song wurde im laufenden Jahr bei Spotify am häufigsten angeklickt, sondern «Shape of You», ein Song mit Dancehall-Elementen. Auch die anderen Songs der Top-Ten-Liste auf Spotify enthalten Bestandteile elektronischer Musik. Damit bildet sich ab, was sich seit einigen Jahren in der Pop-Musik vollzieht: Electronic Dance Music (EDM) gewinnt an Einfluss.

Unter EDM werden sehr unterschiedliche Genres zusammengefasst, zum Beispiel der melodiöse House aus Chicago, der mechanisch klingende Techno mit dem harten Beat aus Detroit, der schnelle Jungle mit Sprechgesang aus dem Süden Londons oder der vom Reggae inspirierte moderne Dancehall aus Jamaica.

Seit Jahrzehnten gibt es Künstler, die mit Pop und EDM experimentieren, aber erst seit einigen Jahren nimmt der Einfluss auf die Pop-Musik zu. Die französische Band Daft Punk mischt seit den neunziger Jahren House und Techno mit Synthiepop und Funk. Als sie 2006 am Open Air Coachella auftrat, begeisterte sie mit ihrem Mix auch das Rockmusikpublikum in den USA. Wichtig für den Einfluss von EDM war auch ein weiterer Franzose: DJ David Guetta. Mit seinem vierten Album «One Love» schaffte er 2009 den Durchbruch in den USA mit dem Stück «I Gotta Feeling» von The Black Eyed Peas.

Seither hat sich der Einfluss der EDM auf die Pop-Musik laufend verstärkt. Mittlerweile ist er im Grossteil der aktuellen Songs zu hören: Taylor Swift nutzt die schweren Beats der Industrial Music für «…Ready For It?» und Justin Bieber den Danceball für «Sorry». Die Rockband Imagine Dragons (in der Schweiz am vierthäufigsten gestreamt) hat ihren Song «Thunder» mit EDM-Rhythmen unterlegt. Und Coldplay, die mit Gitarrenrock berühmt wurden, sind gleich mit zwei Songs mit EDM-Einflüssen in den besten Listen bei Spotify vertreten: «Hymn for the Weekend» und «Something Just Like This». 

Diese Einflüsse verändern den Pop-Song nicht nur musikalisch, sondern auch strukturell. Der Refrain ist traditionell die wichtigste Stelle. Musikalisch und erzählerisch läuft alles auf diesen Höhepunkt hinaus. Auf diesen Teil wartet jeder und alle können ihn mitsingen: «Oops, I did it again, got lost in the game». Traditionell funktionieren EDM-Tracks ohne Stimme. Sie haben anstelle des Refrains aber ein gut erkennbares melodiöses Stück, den sogenannten Drop, der das Tanzpublikum in Ekstase versetzt. In der Popmusik ersetzt nun dieser Pop-Drop den Refrain.

Das Stück «Closer» der Chainsmokers, der Könige des Pop-Drops, ist typisch für die neue Art der Songstruktur: Es beginnt mit einer Strophe, dann kommt ein Teil, der später nochmals wiederholt wird, das wäre traditionell der Refrain, aber das Stück steigert sich musikalisch weiter bis zum melodiösen Teil, dem Pop-Drop, den alle nun nicht mehr mitsingen, aber mitsummen und dazu die Arme in die Höhe reissen.

Eine weitere Entwicklung, die sich seit Jahren abzeichnet: Der Einfluss an World Music nimmt zu. Diesen Trend hat besonders Drake befeuert, indem er Afrobeats aus Westafrika und Dancehall aus Jamaica in seine Musik einfliessen liess. Dieses Jahr war der Einfluss von Lateinamerika spürbar, mit dem Sommerhit «Despacito» des Puertoricaners Luis Fonsi aus Salsa und Reggaeton-Elementen. In «Unforgettable» von French Montana wiederum finden sich Einflüsse aus Afrika und Jamaica. Und dieses Jahr zeigt sich erneut, dass die Pop-Musik insgesamt langsamer wird. Ältere Pop-Musikstücke haben eine Geschwindigkeit von 130 bis 170 Schlägen pro Minute. Die am häufigsten angeklickten Songs 2017 liegen fast alle unter 100 Schlägen pro Minute. Yakov Vorobyev hat mit einer selbstprogrammierten App die 25 am häufigsten gestreamten Songs zwischen 2012 und 2017 untersucht und herausgefunden, dass in diesen fünf Jahren das durchschnittliche Tempo um 23 Schläge pro Minute gesunken ist.

Diese Verlangsamung wird hauptsächlich dem verstärkten Einfluss der langsameren Rap-Musik zugeschrieben. Diese Entwicklungen machen die Pop-Musik konstant interessant und zeigen sie als Abbild der Gesellschaft. Wir leben in einer globalisierten Welt, logisch, dass sich die Musikstile so noch schneller mischen als bis anhin. Daraus entstehen dann wirklich gelungene Stücke wie «Shape of You», aber leider auch total misslungene wie «Something Just Like This», ein melodiöses Gitarrenstück, das völlig unnötig durch ätzende quietschende Beats verhunzt wird. Nun, die am häufigsten gestreamten Songs sind zwar ein Indikator für die Entwicklung der Pop-Musik, aber nicht immer für guten Geschmack.

Top-Musiker 2017 auf Spotify Schweiz

1.

Ed Sheeran: Der Engländer spielt auf seinem neuen Album «÷» mit verschiedenen Musikstilen von irischem Folk, über Hip Hop bis zu Dancehall, mit dem Stück «Shape of You» ist er am erfolgreichsten.

2.

Drake: Der kanadische Rapper arbeitet sehr erfolgreich mit EDM und Worldmusic-Stilen. «Passionfruit» wurde 2017 am häufigsten ge­streamt. Es ist eine Mischung aus Club-House und R’n’B. 

3.

The Chainsmokers: Die Amerikaner dominieren mit ihren eintönigen EDM-untermauerten Popsongs seit Jahren die Charts. Mit ihrem ersten Album «Memories … Do Not Open» waren sie nicht so erfolgreich, nur neun Wochen war es in der Hitparade.

Alben sterben aus, jetzt kommt die Playlist

Rapper Drake ist zurzeit der am meisten gehörte Musiker der Welt. Der 30-Jährige hat begriffen, wie der Streaming-Markt funktioniert.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Streaming verändert die Musik. Jetzt gerade in diesem Moment. Nicht nur die Art, wie wir sie uns anhören, sondern die Musik an sich. Und der kanadische Rapper Drake forciert den Wandel wie kein anderer. Er ist der am meisten gestreamte Künstler der Welt. Alleine bei Spotify wurde seine Musik über neun Milliarden Mal angeklickt. 

In Medienberichten über Streaming wird gerne die Kurzlebigkeit und mangelnde Qualität von heutiger Musik beklagt. Dabei ist es genau umgekehrt. Früher zählten die Anzahl Albumverkäufe für die Hitparade. Dabei wusste niemand, was mit einem Album nach dem Kauf geschah, ob es überhaupt gehört wurde. Es war durchaus möglich, dass man ein Album nur wegen zwei, drei Songs kaufte, überprüfen konnte das niemand. Trotzdem wurde gerechnet, als würde sich die Person das ganze Album anhören.

CD im freien Fall

Seit Drake ganz auf Streaming setzt, sind seine Alben länger geworden. Die letzten beiden enthalten 20 oder mehr Songs und sind über als 80 Minuten lang, die maximal bespielbare Länge einer CD. Das trifft auch auf andere Künstler zu. Logisch, je mehr Songs sie veröffentlichen, umso höher ist die Chance auf einen Hitparadenplatz. In den USA entsprechen 150 Streams einem Single-Kauf (in der Schweiz sind es 108), und 1500 Streams sind das Äquivalent eines Albums. Die Musik muss folglich länger überzeugen. Und jeder Song muss bestehen können. Erst, wenn man sich von einem Stück 30 Sekunden angehört hat, wird der Stream gezählt. Gleichzeitig kann ein Künstler bei 20 Songs auch mehr Risiken eingehen, als wenn er nur 12 auf eine CD packen muss, und dann über Monate beobachten, was bei den Fans ankommt. 

Das in sich kohärente Album wird unter diesen Umständen zum Exoten. Eine der grössten aktuellen Veränderungen betrifft die Vorstellung davon, was ein Album ist. 2016 war ein aufschlussreiches Jahr: Frank Ocean gab mit «Endless» ein visuelles Album heraus, das man sich nur als Video-Stream anhören kann und das es nie auf CD gab. Heute setzen viele Popstars auf Streaming und behandeln den Verkauf physischer CD und Downloads als Nebensache, wenn sie denn überhaupt noch daran denken. 

Frank Ocean – visual album «Endless»

Das liegt einerseits daran, dass CD-Verkäufe und Downloads dramatisch sinken, Streaming aber explosionsartig wächst, 2016 in der Schweiz allein um 50 Prozent gegenüber Vorjahr, in den USA sogar um 68 Prozent. Andererseits zählt Streaming seit einigen Jahren auch zur Berechnung der Hitparadenposition. Wenn ein Album nicht sofort auf CD gepresst wird, muss es auch nicht zwingend fertig sein. Kanye West veröffentlichte mit «The Life of Pablo» ein unfertiges Album, woran er noch Monate arbeitete und es mehrmals aktualisiert herausgab. Und Drake, der erfolgreichste Künstler im Streaming-Bereich, spricht von «More Life» als einer Playlist. Das ist nicht nur eine rhetorische Entscheidung, sondern zeigt, dass er die Zeiten verstanden hat. 

George Ergatoudis verkündete schon 2014 auf Twitter: «Mit wenigen Ausnahmen stehen die Alben vor dem Aussterben. Playlisten sind die Zukunft.» Damals arbeitete er noch als Musikverantwortlicher für Radio BBC1, in der Zwischenzeit hat er zu Spotify gewechselt und kuratiert dort Playlisten. Aber ist es klug, dass der Rapper aus Toronto «More Life» eine Playlist nennt? Ja, auch wenn es ihm hauptsächlich um Aufmerksamkeit geht. Playlisten gleichen einer Compilation-CD wie «Bravo Hits» oder «Kuschel-Rock». Sie werden entweder von einem Algorithmus erzeugt, von einem Nutzer erstellt oder von einem Kurator eines Streaming-Service gestaltet. 

Drake arbeitet häufig mit anderen Musikern zusammen. Er nutzt Songs aus Afrika oder der afrikanischen Diaspora als Grundlage für seine Musik (sogenanntes Sampling). Seinen Mitmusikern gibt der Kanadier viel Raum, besonders auf seinem neuen Werk. Wenn man nicht weiss, dass es sich dabei um ein Album von einem einzelnen Künstler handelt, wäre man versucht, es als zusammengestellte Playlist im Hip-Hop- und Dance-Hall-Bereich einzuordnen. Das liegt nur schon daran, dass man unterschiedliche Stimmen hört, unter anderem Sampha oder Young Thug. Und die Musik klingt abwechselnd nach jamaicanischem Dance Hall, Londoner Grime (eine Mischung aus Jungle und Ragga) oder südafrikanischem Elektro. 

Die Popmusik verändert sich aber auch ästhetisch. Hubert Léveillé Gauvin von der Ohio State University untersuchte in den USA die Top-10-Songs der letzten 30 Jahre. Er fand heraus, dass das Intro von durchschnittlich 20 Sekunden in den 1980ern auf 5 heute geschrumpft ist. «Das ist sinnvoll», erklärt er, «denn die Stimme ist am effektivsten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.» Spotify gibt an, dass ein Viertel der Songs nach fünf Sekunden übersprungen wird. Es bleibt also nicht viel Zeit, um zu überzeugen.

Musiker als Marken

Und was ist mit den Einnahmen? Taylor Swift und andere Künstler haben sich über die niedrigen Tantièmen von Streaming-Diensten beschwert. Nun, jedes System bietet Möglichkeiten. Die amerikanische Funkband Vulfpeck war besonders geschickt. 2014 veröffentlichten sie mit «Sleepify» ein stilles Album, das zehnmal dreissig Sekunden Nichts enthielt. Sie forderte Fans auf, das Album während des Schlafens ununterbrochen zu streamen. Damit verdienten sie 20 000 Dollar. Danach nahm Spotify das Album aus dem Sortiment.

Stars wie Justin Bieber oder Rihanna machen, was Forscher Gauvin als generelle Tendenz bezeichnet: Anstatt nur auf Einnahmen aus dem Streaming zu setzen, nutzen sie die Plattformen, um sich als Marke zu etablieren und Fans an Konzerte zu locken. Damit verdienen sie Geld. Drake geht noch einen Schritt weiter. Er hat zwar ein Label, aber auch einen exklusiven Deal mit Apple Music. Das ist die Zukunft: Streaming-Services produzieren Musik direkt – sie folgen dem Beispiel von Amazon und Netflix, die selber erfolgreich Serien produzieren.