Wenn das Idol zum Rivalen wird

In der Nick-Hornby-Verfilmung «Juliet, Naked» ist Ethan Hawke als Rockstar zu sehen, der sich in die Freundin eines Fans verliebt.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Es gibt ein paar Gruppen, die sicherheitshalber nie aufeinandertreffen sollten, weil die Chance für eine Katastrophe hoch ist. Bei Werwölfen und Vampiren ist das so, bei Mutterbären und aufdringlichen Touristen – oder bei besessenen Fans und ihren Idolen. Was passieren kann, wenn die letzten beiden Gruppen kollidieren, zeigt die neue Nick-Hornby-Verfilmung.

Eigentlich aber geht es zuerst einmal um Annie (Rose Byrne), eine Enddreissigerin, die in einer kleinen englischen Küstenstadt das lokale Museum leitet, und um ihren langjährigen Partner Duncan (phänomenal: Chris O’Dowd). Der ist normalerweise ein respektabler Unidozent, in seiner Freizeit lässt er aber seiner Fanliebe zum Neunzigerjahre-Indiemusiker Tucker Crowe (Ethan Hawke) freien Lauf. Und hier entstehen die Probleme; wenn er zum Beispiel auf seiner Fanwebsite stundenlang die wildesten Theorien mit anderen Männern mittleren Alters bespricht.

Als Duncan dann auch noch Crowes berühmtestes Album «Juliet» in einer Rohfassung als «Juliet, Naked» per Post zugeschickt wird und Annie sich das Album vor ihm anhört, ist die Hölle los. Deshalb verzieht er sich mit seinem tragbaren CD-Player auf eine einsame Parkbank, wo die Tränen zu den Liebesliedern ungestört fliessen können. Am nächsten Tag erdreistet sich die vernachlässigte Annie, auf Duncans Website «Juliet,Naked» zu kritisieren. Dafür erntet sie per Mail Applaus von Tucker Crowe höchstpersönlich – woraus eine tiefe Mailfreundschaft entsteht.

Der Film verfolgt zwei Storylines: die erblühende Romanze zwischen Annie und dem alternden Tucker und die Fanobsession von Duncan, die in einem desaströsen Treffen mit seinem Idol gipfelt. Der Film ist lustig und tiefgründig wie die Hornby-Adaption «About a Boy» und ähnlich besessen von Musik wie «High Fidelity». Und er wirft auf intelligente Art und Weise die Frage auf, wem Kunst gehört: dem Künstler oder seinen Fans? In einer philosophischen Diskussion zwischen Duncan und Tucker bringt es Duncan auf den Punkt: «Ich schätze dieses Album. Vielleicht mehr als alles andere, was ich je gehört habe. Nicht, weil es perfekt wäre, sondern für das, was es mir bedeutet. Was es Ihnen bedeutet, ist mir letzten Endes egal.» Recht hat er.

Verführ sie mit deinen Reimen

Rappender Teenager statt französischer Dichter: In «Das schönste Mädchen der Welt» mit der Zürcherin Luna Wedler wird ein Theaterstoff modern interpretiert.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Jugendliche sind gemein. Als sich Cyril (Aaron Hilmer) im Car für den Schulausflug nach Berlin hinsetzen will, zeigen seine Mitschüler auf seine grosse Nase, keiner macht für ihn den Platz frei. Da steigt überraschend eine neue Schülerin zu: Roxy (Luna Wedler). Sie ist hübsch, sie ist frech, und sagen lässt sie sich erst recht nichts. «Du hast so einen grossen Mund. Wie viele Eier passen denn da rein?», fragt ein Junge. «Wie viele passen denn in deinen?», retourniert sie und hat die Lacher auf ihrer Seite. Sofort verliebt sich die halbe Klasse in sie. Setzen tut sie sich dann ausgerechnet neben Cyril.

«Das schönste Mädchen der Welt» ist eine lose Adaption von Edmond Rostands Drama «Cyrano de Bergerac» (1897). Auch Cyrano hatte einen grossen Zinken, getraute sich deswegen nicht, um seine Angebetete zu werben, und liess ihr seine Liebesgedichte stattdessen von einem schönen Jüngling vortragen. Jetzt im Film ist es der muskulöse Rick (Damian Hardung), der nichts, aber auch gar nichts im Kopf hat, was leider etwas zu plump dargestellt wird. Abgesehen von ein paar anderen Patzern – zum Beispiel, wenn die Mutter (Anke Engelke) Cyril zeigt, wie man den Gummi überstreift, bevor sie mit der Banane Oralsex simuliert –, ist der Film aber gut gelungen.

In dieser modernen Version gehts übrigens nicht mehr um Gedichte, sondern um Raptexte. Mit einer goldenen Maske geschützt, getraut sich Cyril in Berlin vor Publikum und tritt gegen andere Rapper an. Natürlich gewinnt er. Roxy, die den Auftritt sieht, aber denkt, Rick stecke hinter der Maske, verliebt sich in den Wortakrobaten. Die Verwechslungskomödie nimmt ihren Lauf. Bald schickt Cyril dem Mädchen im Namen von Rick wortgewandte Liebesbotschaften als Audiodatei und gewinnt damit erst recht ihr Herz. So funktioniert Verführung im 21. Jahrhundert.

Besonders hervorheben muss man auch die Mädchenfigur, die hier als Angebetete nicht einfach eine passive Projektionsfläche ist, sondern ihr Leben selbst in die Hand nimmt, sich irrt und Fehler macht, aber immer für sich und andere einsteht. Grossartig verkörpert wird sie von der Zürcherin Luna Wedler («Blue My Mind»).

Im Morgengrauen bist du tot

Die Nacht hält unbegrenzte Möglichkeiten und nicht zähmbare Gefahr bereit. Szene aus dem Film «Asphaltgorillas».

In Filmen wie «So was von da» und «Asphaltgorillas» verändert eine Nacht das Leben der Protagonisten grundlegend. Das Vorbild dafür ist Shakespeare.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Am Ende des Abends liegen Oskar und seine Freunde mehr auf der Bar, als dass sie davor stehen würden. Vor ihnen Gläser mit Absinth, im Hintergrund pocht Elektromusik. «Schöner Moment. Gutes Ende. Abspann bitte», sinniert Oskar, der Protagonist des Dramas «So was von da», im Rausch. «Es sind alle da. Die ganze Familie. Schöner wird es heute Abend nicht mehr. Denn alles, was zählt, ist das Hier und Jetzt.» Zu dieser Erkenntnis kommt Oskar (Niklas Bruhn) nach einer Höllennacht voller kurzer, intensiver Begegnungen mit Freund und Feind in seinem halb zerfallenen illegalen Klub auf der Reeperbahn in Hamburg. Oskar ist nicht mehr, wer er am Abend davor noch war. Die Erlebnisse in dieser einen Nacht haben sein Leben für immer verändert. Dieses Motiv findet sich in unzähligen Filmen.

Das prägnanteste Beispiel ist der dystopische Horrorfilm «The Purge» (2013). Darin bleibt einmal pro Jahr nach Sonnenuntergang jedes Verbrechen straffrei. Die Idee dahinter ist eine Art soziale Säuberung, die für den Rest des Jahres Frieden schaffen soll. Während die Protagonisten die Gewalt zunächst noch befürworten, haben sie – nach dem durchlebten Schrecken – ihre Meinung bei Sonnenaufgang geändert.

Das Motiv der alles verändernden Nacht findet sich auch im Drama «Oh Boy» (2012) von Jan-Ole Gerster, in dem ein gescheiterter Student im nächtlichen Berlin eigentlich nur einen Kaffee trinken will, aber nach Begegnungen mit einem Altnazi, einer ehemaligen Schulkollegin und einer Gruppe Halbstarker bei Sonnenaufgang beschliesst, sein Leben endlich in den Griff zu bekommen.

Ausschweifungen im Dunkeln

Während der Tag für die Rationalität des Verstandes steht, sieht man in seinem dunklen Gegenspieler das Unbewusste, Psychotische, das, was geheilt oder ausgetrieben werden muss. Deshalb beschreiben wir die Aufklärung als jene Zeit, die Licht in das Dunkel des Mittelalters brachte, und deshalb reden wir von der Umnachtung des Geistes. Gleichzeitig sagen wir aber auch, etwas habe sich «im Schutze der Nacht zugetragen», als ob die Dunkelheit eine Art Nebelmaschine wäre, die illegales Tun verhüllt und Gefahr birgt, aber auch mehr Raum für Verführungen und Ausschweifungen bietet.

Diese Idee der Nacht als einer Bühne oder eines psychologischen Raums, in dem Träume, Traumata und Ausschweifungen so intensiv erfahren werden, dass die Protagonisten am Ende geläutert oder zumindest verändert aus ihr hervortreten, geht auf Shakespeare zurück. Sein Stück «Ein Sommernachtstraum» zeigt das exemplarisch: Im nächtlichen Wald treffen vier Verliebte aufeinander, beide Männer lieben Hermia, während Helena verschmäht wird. Da streicht das schelmische Feenwesen Puck den Männern einen Liebessaft ein, worauf sich beide in Helena verlieben. Als der Tag anbricht, können sich alle vier nicht mehr daran erinnern, ob die Geschehnisse der vorherigen Nacht Traum, Albtraum oder Realität waren. Aber weil das Erlebte ihre Psyche verändert hat, gibt es am Schluss zwei glückliche Paare.

Im Medium Film drängt sich dieses nächtliche Motiv geradezu auf, denn Filme ­entfalten ihre Wirkung erst in der künstlich erzeugten Nacht eines Kinosaales. Gleichzeitig benötigen sie Licht zur Herstellung, weil Dunkelheit nur in Kontrast zum Licht wiedergegeben werden kann. Die Nacht muss deshalb beleuchtet werden, damit sie darstellbar wird. Noch im Stummfilm konnte nur bei Tag gedreht werden, mittels blau eingefärbter Szenen vermittelte man den Eindruck von Dunkelheit. In den vierziger Jahren entstand die Ästhetik des Film noir. Werke wie «The Maltese Falcon» (1941) oder «Double Indemnity» (1944) enthielten viele düstere Szenen bei Nacht oder schlechten Lichtverhältnissen und gaben dem Genre nicht nur thematisch – es ging oft um zwielichtige Figuren und manipulative Frauen –, sondern auch visuell seinen Namen. 

Inzwischen ermöglichen Digitalkameras Aufnahmen auch bei sehr schwachen Lichtverhältnissen. So konnten die deutschen Produktionen «Asphaltgorillas» von Detlev Buck und «So was von da» von Jakob Lass tatsächlich bei Nacht gefilmt werden. Während Letzterer auf eher düstere Klubbeleuchtung setzt, badet «Asphaltgorillas» geradezu im Neonlicht. Die Actionkomödie, in der Atris (Samuel Schneider) nicht länger der Handlanger von Gauner El Keitar sein will und sich auf ein krummes Geschäft mit seinem Jugendfreund Frank einlässt, spielt in einer Berliner Nacht, die inszeniert ist wie eine Zwischenwelt aus Stripklubs, Shishabars und Dönerbuden.

In all diesen Filmen ist es aber nicht nur die Nacht an sich, die zur Veränderung in den Protagonisten führt, sondern Begegnungen mit Menschen, die dann anzutreffen sind. Die Dunkelheit bietet den Raum und die Bühne für das Durchleben von emotionalen Erfahrungen, die die Veränderung einleiten. Im Drama «So was von da», der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Musikjournalist Tino Hanekamp, ist es Oskars Begegnung mit seiner unglücklichen Liebe Mathilda, die Konfrontation mit Unterweltboss Kiezkalle, der von ihm 10’000 Euro Schutzgeld erpresst, und das Mitgefühl mit dem Unglück seiner Freunde Rocky und Nina, die Oskar erkennen lassen, dass nur der Moment zählt. Diese Einsicht ermöglicht es ihm, sein Leben neu zu beginnen.

Für Atris aus «Asphaltgorillas» ist es die Begegnung mit Frank, der ihm, wie schon damals in ihrer Kindheit, lauter Versprechen macht, aber keines davon hält, und die Treffen mit einer jungen Marie (Ella Rumpf), die Atris zweierlei einsehen lassen: Er muss nicht die Frau heiraten, die seine Mutter für ihn ausgewählt hat, und auch nicht für den immergleichen Gauner arbeiten. Er kann sich befreien und neu anfangen. Es ist dieser Neubeginn, den der Sonnenaufgang verspricht. Das kann nur ein Film.

Wie ein Gangster-Rap

Beide Werke verstehen die Nacht als Raum für psychologische Veränderungen, aber in der visuellen Umsetzung sind sie sehr verschieden. Während «Asphaltgorillas» auf eine schrille, glänzende, temporeiche Berliner Nacht setzt, lässt sich «So was von da» gemächlich durch das nächtliche Hamburg und den Abrissklub treiben. Leider will «Asphaltgorillas» dabei zu viel, preist sich dem Publikum als besonders cool an und wirkt dadurch anbiedernd und aufdringlich. Obwohl das Drama einige schöne Momente und tarantinoeske Kampfszenen aufzu­weisen hat, ist es zu glatt. «Asphaltgorillas» ist wie einer der Gangster-Rap-Songs, aus denen sein Soundtrack besteht: Der Film erzählt eine Geschichte, hat mehrere Abschnitte und Punchlines, aber er ist vor allem Oberfläche, Attitüde. Ihm fehlt das Herz.

«So was von da» hingegen gleicht mehr dem menschlichen Herzschlag, wie auch der Technobeat seines Soundtracks. Der Film hat keine komplexe Rahmenhandlung, muss er aber auch nicht haben. Er ist vielmehr interessiert an Momentaufnahmen, wie man sie in einer verrauchten WG als Polaroids aufgereiht an einer Schnur finden könnte, wobei jedes der Bilder einen ganz besonderen Moment dieser einen Nacht im Leben von Oskar festhält: das ausschweifende Partyleben, die Gespräche mit den Freunden, die Auftritte der Band Grossstadtgeflüster und Bela B. von den Ärzten. Und genau deswegen vermag der Film zu verführen, weil er nicht versucht, mehr zu sein, als er ist.

Bezahlte Liebe für den guten Zweck

Oscar Wilde (Rupert Everett) in einem der wenigen glücklichen Momente mit Bosie nach seinem Gefängnisaufenthalt.

Rupert Everett stilisiert in seinem Film «The Happy Prince» den Protagonisten Oscar Wilde zu einem Märtyrer der Schwulenbewegung.

Von Murièle Weber (Züritipp)

«Meine Tapete und ich führen ein Duell bis zum Tode. Einer von uns beiden muss gehen», soll Oscar Wilde auf seinem Sterbebett über die hässliche Wandbekleidung im schäbigen Pariser Hotel gesagt haben. Kurze Zeit später, am 30. November 1900, starb er: ausgeschlossen aus der Gesellschaft, verarmt, einsam. Das war das Ergebnis seiner zweijährigen Gefängnisstrafe unter härtesten Bedingungen, zu der der englische Autor («The Importance of Being Earnest») verurteilt wurde, weil er Sex mit Männern hatte.

Rupert Everett, der auch Regie führt und die Hauptrolle spielt, konzentriert sich in seinem Drehbuch auf die drei Jahre nach dem Gefängnis. Die meisten anderen Filme über Wilde fokussieren auf die erfolgreichen Jahre, als er von der Londoner Gesellschaft hofiert wurde, auf die stürmische Liebe zu Lord Alfred Douglas und den folgenden Abstieg. Aber Everett stellt nicht das Genie Wildes in den Mittelpunkt, sondern die Tragik seines Lebens. Er zeigt den Mittvierziger als alten, gebrochenen, kranken Mann, der trotz Armut immer wieder genug Geld findet für ein paar Minuten mit einem jungen Stricher.

Dabei hält sich Everett einerseits an die biografischen Details und verbindet den Abstieg andererseits mit Wildes Kurzgeschichte «The Happy Prince» über eine Statue, die einen Vogel bittet, die Diamanten, die sie als Augen trägt, herauszupicken, um armen Menschen damit zu helfen. Der Katholik Everett macht Wilde so zu einem Märtyrer, der für den Befreiungskampf der Schwulen gelitten hat – einem Schutzheiligen. Das funktioniert leider nur für die Zuschauer, die bereits etwas Vorwissen über Wilde mitbringen; ansonsten wird Wilde hier zu einem erbärmlichen alten Mann, dessen Bedeutung unbe­greiflich bleibt.

Von Spider-Man zum Gelähmten

Andrew Garfield 2011 am Comic Con. Bild: flickr

Als agiler Spider-Man wurde Andrew Garfield weltberühmt, in «Breathe» spielt er einen Mann, der gegen seine Kinderlähmung kämpft. Wir haben den Darsteller getroffen.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Andrew Garfield will offensichtlich alles richtig machen. «Der Dreh zu ‹Breathe› war eine Herausforderung», erzählt er uns am vergangenen ZFF. Das Team hatte nur sieben Wochen zum Filmen, und Garfield musste die ganze Zeit völlig reglos daliegen. «Aber natürlich bin ich auch sehr dankbar für die Möglichkeiten, die ich bekommen habe», relativiert er sogleich.

Es war bestimmt nicht einfach, Robin Cavendish zu spielen: Der Engländer erkrankte mit 28 Jahren an Kinderlähmung und war vom Hals abwärts gelähmt. Zum Atmen war er auf eine Maschine angewiesen, die seinen Bewegungsradius stark einschränkte. Cavendish aber liess sich nicht behindern und war einer der Ersten, die sich einen Rollstuhl mit Beatmungsmaschine bauen liessen. Damit ging er auf Weltreise. Jetzt hat sein Sohn Jonathan als Produzent das Leben des Vaters auf die Leinwand gebracht, mithilfe seines Freunds Andy Serkis. «Breathe» ist das Regiedebüt des Gollum-Darstellers («The Lord of the Rings»).

Herausfordernd beim Dreh war für Garfield vor allem die Atmung: Diese musste er an den Rhythmus der Beatmungsmaschine anpassen. Aber weil das Teil so viel Lärm machte, stellten es die Filmemacher in den nächsten Raum. «Ich trug dann einen Sender im Ohr, damit ich die Maschine hörte. In den zwei Monaten der Vorbereitung habe ich einen Grossteil der Zeit darauf verwendet, den Rhythmus einzuüben.» Wie war es, den Sohn von Cavendish am Set dabeizuhaben? «Das war hilfreich, aber natürlich auch ein ziemlicher Druck», erzählt er.

Geboren wurde Garfield in Los Angeles, der Vater ein Amerikaner, die Mutter eine Britin – als er drei war, zog Garfields Familie nach England. Angefangen hat der 34-Jährige als Theaterschauspieler, bevor er erste Rollen im Fernsehen bekam. Seinen Durchbruch hatte er in David Finchers «The Social Network» – er spielte Mark Zuckerbergs Weggefährten Eduardo Saverin, war als bester Nebendarsteller für einen Golden Globe nominiert. Einem breiten Publikum bekannt wurde er dank «The Amazing Spider-Man».

Garfield wird selten auf Listen der besten Schauspieler seiner Generation geführt, dabei wurde er schon für alle grossen Filmpreise nominiert und hat mit einigen der Grössten aus der Branche gearbeitet. «Andy Serkis hat es am Set gerne fröhlich und aufgestellt und lässt seinen Schauspielern viel Raum. Martin Scorsese arbeitet sehr akribisch und wollte absolute Ruhe bei den Dreharbeiten zu ‹Silence›, was natürlich auch am Thema das Filmes lag.» Garfield spielte da einen von zwei portugiesischen Pfarrern, die im 17. Jahrhundert heimlich in Japan missionieren. Und wie war es mit Mel Gibson beim Kriegsdrama «Hacksaw Ridge»? «Er arbeitet sehr aus dem Bauch heraus, instinktiv. Oft kann er nicht in Worte fassen, was er genau meint, aber wenn es stimmt, sieht er es sofort.» Garfield brachte die Zusammenarbeit mit Gibson eine Oscarnominierung als bester Hauptdarsteller ein.

Vorerst spielt Garfield aber in «Angels in America» am Broadway. Was danach kommt, weiss er noch nicht. «Ich denke, es gibt Zyklen im Leben, und wenn einer abgeschlossen ist, dann beginnt der nächste. Ich bewundere Schauspieler, die sie selber bleiben, wie Mark Ruffalo», sagt Garfield. «Die nächste Geschichte, die ich erzähle, soll etwas ganz anderes sein – vielleicht in einer Fernsehserie.»

Unerschrockene Kämpferin

Gloria Allred am Women’s March 2019. Bild: flickr

Der Film «Seeing Allred» porträtiert die bekannten Frauenrechtlerin Gloria Allred und schwierigen jahrzehntelangen Kampf.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Gloria Allred (*1941) hat früh verstanden, dass man als Frau nicht weiterkommt, wenn man einfach nur nett ist. Die berühmte US-Frauenrechtlerin und Anwältin weiss, dass man laut und bestimmt sein muss, präsent in den Medien, und keinen Kampf scheuen darf. Ihre eigene absolute Hingabe für gesellschaftlichen Wandel erwartete sie auch von allen anderen Frauen, was oft zu Unverständnis und Kritik führte. Seit den 1970er hat sie zahlreiche prominente und kontroverse Fälle in den USA vor Gericht vertreten und sich dabei auch für andere Minderheiten starkgemacht. 

Sie stellte sich auf die Seite der vom Komiker Bill Cosby vergewaltigten Frauen, sie ­bekämpfte Trump, als er eine Transfrau von einem Schönheitswettbewerb ausschloss, und sie organisierte Demonstrationen, um Spielzeug geschlechtsneutral zu vermarkten.

So freimütig die 76-Jährige über ihre Kämpfe spricht, so verschlossen ist sie, wenn es um ihr Privatleben geht. Sie erzählt freimütig von ihrer Vergewaltigung und der illegalen Abtreibung, an der sie fast gestorben wäre, aber sie verweigert die Aussage, wenn es um ihre Scheidung geht oder andere Aspekte ihrer Privatsphäre. Der Film vermittelt den Eindruck, als hätten sie all die Kämpfe einsam gemacht, so als bestünde ihr soziales Umfeld nur aus den gerade aktuellen Klientinnen, bevor sie weiterzieht, zum nächsten Kampf. Viele Hollywoodfilme leben vom Mythos eines einsamen Helden, der sich selbstlos für das Recht der Opfer einsetzt. Zu wissen, dass Gloria Allred aus Fleisch und Blut besteht und sich irgendwo da draussen für uns einsetzt, ist ein beruhigender Gedanke.

Dokumentarfilm «Seeing Allred». USA 2018. Netflix. Von Roberta Grossman, Sophie Sartain. Mit Gloria Allred. 

Meister der Weltflucht

Steven Spielberg am Comic Con 2017. Bild: flickr

Steven Spielberg liebt das klassische Hollywood und taucht gern in fremde Welten ein. Das Er liebt das klassische Hollywood, hat das moderne Blockbusterkino mitbegründet und taucht gern in fremde Welten ein: Das Xenix widmet Steven Spielberg eine Retrospektive.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Mit grossen Augen und aufgerissenem Mund steht ein Dreijähriger in «Close Encounters of the Third Kind» am Fenster und blickt fasziniert auf die Lichter des UFO am Himmel. Die Fokussierung auf das Gesicht vermittelt dem Publikum die Emotionalität der Szene. Sie zeigt aber auch Steven Spielbergs eigene kindliche Faszination mit dem Medium, die er an das Publikum weitergeben will: Das Kino soll die Zuschauer zum Staunen bringen.

Spielberg orientiert sich an der Vergangenheit, an den Dreissiger- bis Fünfzigerjahren. Vor allem die Regisseure John Ford («The Searchers») und David Lean («Lawrence of Arabia») haben es ihm angetan. Wie im klassischen Kino bevorzugt er schön komponierte Bilder und zieht selten die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Kunst des Filmemachens, sondern hilft ihnen in die Filmwelt. Er macht Eskapismusfilme, oft getränkt in Sentimentalität. Diese erzeugt er nicht nur durch die Themenwahl, sondern gern auch mit ebendieser Fokussierung der Kamera auf Gesichter, unterlegt mit pathetischer Musik. Deshalb wird er mitunter Meister der Zuschauermanipulation genannt. Aber bei aller berechtigten Kritik, seine Filme halten, was sie versprechen: eine Flucht aus dem Alltag und das Eintauchen in eine andere Welt. Damit wurde Spielberg, der diesen Dezember 71 wird, zumindest finanziell gesehen, der erfolgreichste Regisseur seiner Generation.

Als Spielberg Ende der Sechzigerjahre seine ersten Schritte machte, brach gerade die Ära des New Hollywood an. Seine Zeitgenossen waren Francis Ford Coppola, Terrence Malick oder John Carpenter. Die meist jungen Regisseure fanden ihre Inspiration in Europa, vor allem in den Filmen der Nouvelle Vague, und sie definierten sich selber als Künstler. Aber während Coppola und Malick diesem Verständnis von Film als Kunst – meistens – treu blieben und Carpenter seine Nische im Genrekino fand, begründete Spielberg die nächste grosse Veränderung in Hollywood: das Blockbusterkino.

«Jaws» (dt. «Der Weisse Hai») war der erste Film, der in den USA 100 Millionen einspielte. Es folgten viele weitere, die Spielberg selber einmal als «fast food movies» bezeichnete, wie die Teile der «Indiana Jones»-Reihe. Zugleich machte er immer wieder anspruchsvollere Filme, die ihm am Herz lagen. Das berühmteste Beispiel hierfür ist das Holocaustdrama «Schindler’s List», aber auch «The Color Purple» gehört dazu, über das harte Leben einer jungen schwarzen Frau (Whoopi Goldberg) zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Für seinen nächsten Film, der bei uns im Februar anläuft, blickt Spielberg ebenfalls in die Vergangenheit zurück: «The Post» handelt davon, wie 1971 die «New York Times» und die «Washington Post» Teile der sogenannten Pentagon-Papiere veröffentlichten – und damit aufdeckten, dass die US-Regierung die Bevölkerung in Bezug auf den Vietnamkrieg belogen hatte.

Vom Hass zerfressen

Nachdem ihre Tochter qualvoll ermordet wurde, rechnet eine Mutter (Frances McDormand) im Film «Three Billboards Outside Ebbing, Missouri» mit dem gesamtem Establishment ab.

Von Murièle Weber (FRAME)

Drei verlotterte Werbetafeln stehen auf einer nebligen Wiese im ­ländlichen Missouri. Mildred Hayes (Frances McDormand) will sie für etwas Neues nutzen, der Chef der Werbeagentur stimmt verängstigt zu. Denn mit Mildred will sich niemand anlegen. Einerseits aus Respekt, weil ihre Tochter vor einem Jahr vergewaltigt und angezündet wurde, andererseits aus Angst, weil die Frau jede Tür eintritt und jedem Teenager ans Schienbein kickt, wenn sie dadurch ihrem Ziel näher kommt: den Mörder ihrer Tochter zu finden. Dazu braucht sie auch die Plakatwände. In mannshohen Buchstaben schreibt sie die Frage an den örtlichen Sheriff (Woody Harrelson) darauf: «Noch immer keine Verhaftungen, Chief Willoughby?» Damit bringt sie die ganze Stadt gegen sich auf. In Mildreds Augen ist die Polizei darum untätig geblieben, weil sie zu beschäftigt damit ist, Schwarze zu foltern. Aber nicht nur die Polizei, vielmehr die ganze Gesellschaft ist von Rassismus und Hass zerfressen. Oder wie der Sheriff es sagt: «Wenn ich jeden Rassisten entliesse, blieben noch drei Schwulenhasser übrig.» Der Film ist brutal. Keine Frage. Aber diese Gewalt ist beim irischen Theaterautor und Regisseur Martin ­McDonagh nie unmotiviert. Sein Publikum soll in der alltäglichen Dunkelheit ein wenig Humor finden und einen kathartischen Prozess durchleben. Hinter der Wand aus Hass geht es um Trauer in ihren unterschiedlichen Formen. «Jeder im Süden kennt eine Form von Schmerz», hat der USA-Kenner und «Guardian»-Journalist Gary Younge die Südstaaten einmal treffend beschrieben. Das zeigt sich in dieser Kriminalkomödie in jeder Figur auf individuelle Weise, wobei niemand auf ein Klischee reduziert wird. Dadurch überrascht der Film den Zuschauer immer wieder aufs Neue und bleibt hochspannend. «Three Billboards», der am Zurich Film Festival gefeiert wurde, ist grandios in jeder Hinsicht, insbesondere Frances McDormand, der McDonagh die Rolle auf den Leib geschrieben hat. Vor allem aber ist es eine Liebeserklärung von McDonagh, dem Mann aus dem Norden, an die eigenwilligen Menschen im Süden. 

Keine Wahl

Zahira (Lina El Arabi) soll heiraten.

Freiheit gegen arrangierte Ehe: Das belgische Drama «Noces» ist unser Tipp für das Human Rights Festival in Zürich.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Bevor das Leben beginnt, soll es schon wieder vorbei sein. So jedenfalls empfindet das Zahira. Sie ist 18 und hat von ihren pakistanischen Eltern die Fotos von drei Männern bekommen. Sie darf wählen, so grosszügig sind die Eltern. Aber einen der drei muss Zahira in den nächsten Wochen heiraten, da gibt es keine Widerrede, denn sie ist schwanger von ihrem Freund. Aber der will sie nicht heiraten. Deshalb soll sie so schnell wie möglich abtreiben lassen, symbolische 2.50 Euro kostet das in Belgien. Aber Zahira will jung sein und auskosten, was das Leben in Europa zu bieten hat.

Die Geschichte klingt abgelutscht: Traditionelle und westliche Welt kollidieren miteinander, und die Frau ist das Opfer. Aber Regisseur Stephan Streker gibt sich sehr viel Mühe, die Motivationen der Figuren herauszuarbeiten: den Freiheitsdrang der Tochter, die Sorgen der Eltern, die Verzweiflung des Bruders. Streker sagt, er wollte eine griechische Tragödie schaffen, in der die Situation monströs ist, nicht aber die Figuren. Keinen Bösewicht solle es in seinem Film geben, so der Regisseur – obwohl am Ende das Böse dann doch in seiner menschlichen Form auftaucht. Vor allem aber zeigt «Noces», dass Immigration ohne Assimilation zu unerträglichen Spannungen führen kann, an der die zweite Generation schmerzhaft zerbricht.

Für Kameramann Grimm Vandekerckhove ist es der erste Film; trotzdem findet er immer wieder einen interessanten Blickwinkel auf die Geschichte, zum Beispiel, wenn er bei der Abtreibung lediglich Zahira zeigt und das Spitalpersonal bloss zu hören ist. Auch die Schauspielerin Lina El Arabi in der Hauptrolle ist ein Neuling. An ihr hängt der ganze Film; sie ist fantastisch in den lauten und den leisen Szenen und in allen dazwischen.

Die Frau und der Krieg

Nada (Golshifteh Farahani) erinnert sich im alten Haus an die Vergangenheit.

In «Go Home» kehrt eine Frau in den Libanon zurück, wo einst ihre Familie lebte – bis der Bürgerkrieg ausbrach. Welche Rolle spielte damals ihr Grossvater? 

Von Murièle Weber (Züritipp)

Verwüstet und etwas verloren steht das Haus auf einer kleinen Anhöhe in dem libanesischen Dorf. Ähnlich einem Gerippe. Nada (Golshifteh Farahani) kehrt in dieses Haus ihrer Familie zurück, aus dem sie der Bürgerkrieg der Siebziger und Achtziger vertrieben hat. Inzwischen haben im Garten fremde Leute ihren Unrat hinterlassen. Die Wände sind mit obszönen Graffiti verschmiert, und am Boden klebt etwas, das Blut sein könnte.

Nada putzt und mistet aus und versucht dabei an eine Vergangenheit anzuknüpfen, zu der sie die Verbindung vor Jahren verloren hat. Nadas Kindheitserinnerungen drehen sich nicht nur um ihre Abenteuer mit dem kleinen Bruder, sondern immer auch um die Frage, was mit dem verschwundenen Grossvater passiert ist. Und je länger Nada in dem Haus verweilt, um so weniger kann sie ihrem eigenen Gedächtnis trauen. War der Grossvater gut, und wurde er von seinen Feinden verschleppt? Oder war er selbst ein Verbrecher im Bürgerkrieg und ist geflüchtet? 

Aufgewachsen ist die französisch-libanesische Regisseurin Jihane Chouaib in Mexiko, nachdem ihre eigene Familie 1976 aus Beirut flüchtete. Für ihr Studium kam Chouaib nach Frankreich und lebt nun dort. «Die Berge von Abfall im Garten, die Nada versucht zu entsorgen, sind wie Deckel, die auf den Erinnerungen an den Krieg platziert wurden», erzählt Chouaib. «Ich wollte dieser kollektiven Amnesie der Libanesen entgegentreten.» Der Film adressiert dieses Trauma mit ruhigen, oft metaphorischen Bildern. Egal, wie oft Nada die Wände putzt und den Boden schrubbt oder den Garten von Unrat befreit, sie bleibt fremd in diesem Dorf und bei diesen Leuten. Niemand will ihr dabei helfen, herauszufinden, was mit dem Grossvater geschah. 

«In diesem Land verschwanden während des Kriegs 17’000 Menschen, die wie Geister umherwandeln. Es ist unmöglich, um sie zu trauern. Deshalb sucht Nada nach dem Leichnam des Grossvaters unter dem Gerümpel.» Chouaib geht nicht nur auf die Auswirkungen ein, die ein Krieg auf die Psyche eines Landes hat. Sie zeigt auch, was der Bürgerkrieg mit den Leuten macht, die geflüchtet sind und jetzt zurückkehren: Sie erleben Entfremdung und die Aussichtslosigkeit, im Ursprungsland wieder ein Gefühl der Heimat herzustellen. Auch sie werden zu wandelnden Geistern, denen Chouaib hiermit ein Denkmal gesetzt hat.