Beleidigung ist alles

Foto: Pexels, Aleksandr Neplokhov (Symbolbild)

Beim Battle-Rap geht es darum, den Gegner verbal niederzumachen. Diese Disziplin gerät nun wegen Antisemitismusvorwürfen in Verruf.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Hip-Hop ist die dominierende Jugendkultur. Noch immer. Die Punks gab es nur ein paar Jahre, Grunge auch, und die Techno-­Bewegung macht mit der Street Parade in Zürich noch einmal im Jahr als grösstes öffentliches Besäufnis von sich reden. Aber die Rapper halten sich seit den 1980ern. Und trotzdem gibt es immer noch relativ wenig Wissen über dieses Musikgenre.

Jetzt ist es der Battle-Rap, der die Schlagzeilen beherrscht. Kollegah und Farid Bang haben für ihr Album «Jung, brutal, gutaussehend 3» einen Echo-Preis in der Sparte «Hip Hop/Urban national» bekommen. Weil in ihrem Song «0815» die Zeile vorkommt «mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen», haben andere Preisträger aus ­Protest gegen die antisemitische Äusserung ihren Echo retourniert. Verteidigt wird die Zeile von den Rappern mit dem Hinweis, es handle sich hier um Battle-Rap.

Rap entstand aus sprachlichen Traditionen der Afroamerikaner. Das Spiel der «Dozens» ist ein verbaler Schlagabtausch zwischen zwei Gegnern, eine Art sprachliches Boxen, wobei die eigenen Fähigkeiten und der Selbstwert überhöht und der Gegner beleidigt und herabgesetzt wird. Jeder versucht den anderen mit noch grösseren Beleidigungen, verpackt in intelligenten Sprachwitz, zu übertreffen und die Zuschauer auf seine Seite zu ziehen. Kollegah und der jüdische Rapper Spongebozz haben sich schon oft Schlagabtausche geliefert, die beiden waren sogar befreundet, haben mehrere Songs gemeinsam aufgenommen. Die Tradition der rituellen Beleidigungen stammt aus Westafrika, wo sie noch heute praktiziert werden. So sollen Konflikte und sogar gewalttätige Übergriffe verhindert werden. 

Die «Dozens» leben weiter in den heutigen Rap-Battles. Diese sind quasi die Urform des Hitparadenraps. Diese Battles gibt es auf der ganzen Welt. Wer dort besteht, steigt in den Rap-Olymp auf. Eminem hat sich seinen Ruf und seine Karriere hier erarbeitet. Kool Savas, einer der wichtigsten Rapper Deutschlands, begann so. Und auch Kollegah hat so seine ersten Schritte gemacht. Traditionell werden Rap-Battles live vor Publikum ausgetragen. Das berühmteste ist «Rap am Mittwoch» in Berlin. Es gibt mehrere Runden, einige darf man vorbereiten, im Allgemeinen aber muss improvisiert werden. Es gewinnt, wer mit seinen Reimen den Gegner besonders gewitzt und kunstvoll beleidigt. Das Publikum kürt über Johlen und Klatschen den Gewinner. 

Tabu ist bei diesem Abkanzeln nichts. Es darf über das Aussehen, die sexuelle Orientierung, die Freundin, die Mutter, die Schwester, die Religion, die Nationalität, die Hautfarbe des Gegners hergezogen werden. Und das klingt dann bei Pillath so: «Erzähl mir nicht, dass du weisst, wie man Knete macht, Mädels knackt. Dein Gesicht beweist, dass selbst Gott manchmal Fehler macht.» Das ist im Vergleich ein harmloser Diss. Neben dem Aussehen ist besonders oft die Mutter das Ziel. Das klingt beim deutschen Rapper mit afrikanischen Wurzeln Ssynic dann so: «Dann fick ich deine Mutter wie ein Tier im Stehn. Ich geb ihr nen Klaps wie nem Gaul und reite sie, bis wir Sterne sehn. Du kommst rein, bleibst verärgert stehn. Ich sag, was ist los, hast du noch nie nen Nigger auf nem Pferd gesehn?»

Wird man vom Gegner beleidigt, ist es die höchste Kunst, die Beleidigung umzu­drehen. «Bei meinem Anblick werden sogar Emos wieder lebensfroh. Doch bei seinem Anblick werden sogar Schwule wieder hetero.» – «Schwule werden wieder hetero. Denkst du, sprengst hier mal die Grenze. Hey, nach einer Nacht mit mir, lutschen selbst Lesben wieder Schwänze.»

Man muss einiges aushalten können. Dass die Kontrahenten unter die Gürtellinie gehen, ist nicht nur akzeptiert, es wird erwartet. Da wird behauptet, man habe mehr «Tonträger verkauft als ein afrikanischer Sklavenmarkt». Einem arabischen Kontrahenten wird gesagt, er sei so arm, er müsse sich einen Sprengstoffgürtel teilen. Und dem jüdischen Gegner wird ins Gesicht geschleudert: «Ich würd dich gerne batteln, aber die Gasrechnung wär zu hoch.» Aus dieser Tradition, in der es nur um das (gewitzte) Sprachbild geht, entstammt die Zeile «Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen».

Aber was die Verteidiger des Battle-Raps nicht verstanden haben: Ein Battle entsteht nie im luftleeren Raum. Das Publikum entscheidet, wer gewinnt. Und wer zu weit geht, wird gnadenlos ausgebuht. Es findet eine soziale Kontrolle und Korrektur statt – sofort, unmittelbar. Und so äusserten die Zuschauer beim Reim über die «Gasrechnung» ihren Unmut, und der Rapper hat sich entschuldigt.

Werden Zeilen aus dem Battle-Rap nicht live vor Zuschauern vorgetragen, sondern über Songs verbreitet, fungiert die Öffentlichkeit als Publikum. Und die hat Kollegah und Farid Bang nachträglich die rote Karte gezeigt. Der Schrecken über das Leid der Holocaust-Opfer ist in der Gesellschaft zu Recht unverändert präsent. Natürlich können sich Rapper wie Kollegah auf Kunstfreiheit berufen und alles sagen in Songs und Interviews. Aber das Publikum an den Battles akzeptiert nicht alles und die Öffentlichkeit erst recht nicht. 

Spongebozz

2005

Der jüdische Rapper und Kollegah lernen sich über die Online-Plattform Reimliga Battle Arena kennen und freunden sich an. Kollegah lädt Spongebozz ein, auf dem Stück «Showtime» seines ersten Albums «Zuhältertape» mitzurappen. 

2018

Spongebozz veröffentlicht mit «Yellow Bar Mitzvah» (224 S., 29 Fr.) seine Memoiren. Darin schreibt er auch von seiner Freundschaft und Feindschaft mit Kollegah.

«Ein wenig wie sprachliches Boxen»

Ein Rapkonzert. Bild: Pexels / Luis Quintero

Die Professorin Ana Sobral sieht im Gangsta-Rap etwas Uramerikanisches. Die weltweit instabile politische Lage liefere zudem Inspiration für politischen Rap.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

NZZ am Sonntag: Frau Sobral, Rap ist im Moment am Fernsehen sehr präsent. Die Serie «The Get Down» beleuchtet unter anderem dessen Anfänge zu Zeiten von Wohnungsknappheit und bitterer Armut. Was war das für eine Zeit?

Ana Sobral: Ende der siebziger Jahre durchlief die South Bronx in New York eine gewaltige urbane Transformation. Man könnte sogar von der Zerstörung einer Gemeinschaft reden. Viele Häuser und Geschäfte und auch Lebensarten, die sich dort während Jahrzehnten entwickelt hatten, wurden zerstört – auch durch den Bau einer Autobahn mitten durchs Quartier. Das generierte eine Leerstelle, besonders für die Jungen. Das geschah ja alles nach der Bürgerrechts- und der Black-Pride-Bewegung. Aus diesem Gefühl des Mangels und gleichzeitig aber auch dem einer eigenständigen Identität heraus wurden die Jungen dazu inspiriert, neue Wege zu finden, sich auszudrücken.

Aber sie bauten auf alten Traditionen auf?

Genau. Der Sprechgesang, der sich an Quartierfesten, sogenannten Blockpartys, entwickelte, basiert auf alten afroamerikanischen Traditionen. Viele der Wortspiele darin kommen aus den «Dozens»: ein Spiel in Form eines verbalen Schlagabtausches, wobei zwei Gegner versuchen, sich in ihren gegenseitigen Beleidigungen und ihrem Sprachwitz zu übertreffen. Und andererseits aus dem «toast», einer Form von oraler Dichtung basierend auf der epischen Dichtung von Westafrika, wie zum Beispiel dem Gedicht «The Signifying Monkey».

Wie wichtig war die Musik?

Vor allem technologische Neuerungen waren wichtig. Damit gab es die Möglichkeit, zwei Alben gleichzeitig zu spielen, von einem Album zum nächsten zu wechseln und instrumentale Stellen von Songs aneinanderzuhängen. Und darüber konnte man dann eine Stimme legen. Das ist ja die Basis des Raps: alte Musik und neue Liedtexte.

Die ersten Rap-Songs waren sehr einfach. Im Song «Rapper’s Delight» singen sie: «I said hip hop, the hippie, the hippie…» Wann hat sich das geändert?

Am Anfang ging es ums Gemeinschaftsgefühl durch Live-Darbietungen und um das sprachliche Improvisieren. Erst als man begann, Songs im Studio aufzunehmen, erkannten Künstler die Möglichkeit, die Texte aufwendiger zu gestalten. Dabei wurden sie auch inspiriert von der Spoken-Word-Dichtung wie die der Last Poets, die ihre politischen Gedichte oft zu Jazzmusik vortrugen. Mit der Zeit wurden die Rap-Stücke einerseits politisch, und andererseits erzählten sie immer ausgefeiltere Geschichten.

Können Sie den Aufbau eines typischen Rap-Songs erläutern?

Es gibt natürlich nicht den Rap-Song. Vereinfacht gesagt: Im Intro identifiziert sich der Sprecher, der ja nicht identisch sein muss mit dem Künstler oder seiner Rolle. Marshall Mathers’ Rolle ist zum Beispiel Eminem, und eine seiner Figuren ist Slim Shady. Er oder sie verortet sich geografisch. Das ist ganz wichtig. Dann erzählt der Sprecher häufig von seinen Lebensbedingungen, das Thema «Mangel» ist sehr präsent und der Konflikt mit Gangs oder der Polizei. Dann werden auch die Hommies erwähnt, die Freunde, die oft eine dysfunktionale Familie ersetzen. Der «hook», der Refrain, ist meistens reserviert für die politische Botschaft.

Warum wird in Rap-Songs eigentlich so oft geprahlt?

Man nennt das «Braggadocio», von engl. «bragging». Das ist so eine reizende Art, über dieses Angeben zu reden, das ja auch nerven kann. Das geht einerseits auf das Spiel «the Dozens» zurück. Zudem entstand Rap durch «Battles», in denen Rapper ihre Fähigkeiten messen. Das ist ein wenig wie sprachliches Boxen. Und wie zeigt man da seine Überlegenheit, seine Muskeln? Durch seine Worte und sein Prahlen. Ausserdem sollte man die Rolle der Afroamerikaner in der amerikanischen Gesellschaft nicht vergessen. Sie wurden lange als minderwertig angesehen, und dieses «Braggadocio» ist eine Möglichkeit, dem etwas entgegenzusetzen – es ist eine etwas übertriebene Art, das Selbst und die Gemeinschaft zu zelebrieren.

Viele Leute denken bei Rap sofort an Gangsta-Rap, an diese Art, abschätzig über Frauen zu rappen und Gewalt zu verherrlichen.

Auf dieses Vorurteil stosse ich sehr häufig. Natürlich ist das ein Teil. Gangsta-Rap entsteht parallel zu dem, was wir heute Conscious Rap nennen, also dem Rap, der sehr politisch ist und eine starke soziale Botschaft hat – eine Gruppe wie Public Enemy ist ein Protagonist. Gangsta-Rap hingegen erzählt eher Geschichten, die schockieren sollen. Natürlich gab es damals Konflikte und Gewalt, die von Gangs und dem Krieg gegen die Drogen ausgingen.

Das war in den achtziger Jahren?

Genau. Aber dabei ist wichtig zu erwähnen, dass die Künstler real existierende Gewalt nahmen und in ein cooles Thema mit coolen Geschichten verwandelten, in urbane Mythen. Denn Kultgeschichten drehen sich ja meist um Transgression und die Figur des Gesetzlosen.

Sie denken dabei an Bonnie und Clyde?

Ja, aber auch an Billy the Kid und Jesse James. Sogar die Figur des Pioneers ist dem ähnlich. Diese Idee, immer die Grenze zu überschreiten, die vom System etabliert wurde, ist sehr prägend für die amerikanische Kultur.

Und das findet sich auch im Gangsta-Rap?

Genau. Der Gangster, der zum Held stilisiert wird. Aber gerade die Gewalt wird so übertrieben, dass sie fast cartoonmässig wirkt. Gangsta-Rap entstand in einer Zeit, als Weisse begannen, sich Rap anzuhören. Plattenlabels erkannten, dass diese Art von Geschichten – der Gangster, der Dealer, der Zuhälter – exotisch wirkten auf dieses Publikum. Die Handlung spielt in der Nähe, aber in einem Stadtteil, den Weisse kaum betreten. Ausserdem ist es auch eine Art der Kritik. Ice Cube hat den Song «The Nigga Ya Love to Hate» geschrieben. Der Titel ist polemisch, aber sein Argument ist korrekt. Es ist diese Haltung von «Ich mache nur, was du von mir erwartest, und du gibst mir noch Geld dafür».

Aber warum werden Frauen so oft zu Objekten degradiert?

Das kam mit dem übertriebenen Zelebrieren von Eigentum und Gütern im Gangsta-Rap. Es ist eine hyperbolische Art, das Überwinden von Mangel darzustellen, den viele Afroamerikaner erfahren: «Ich habe alles, von dem man jemals träumen könnte, inklusive der Frauen.» Ausserdem hat Gangsta-Rap eine sehr maskuline Perspektive und betont den männlichen Stolz. Das ist auch eine Art, dem weissen Amerika die eigene Macht zu demonstrieren.

Frauenverachtung gibt es nur im Gangsta-Rap?

Ja, das existiert überhaupt nicht im Conscious Rap. In diesem Genre waren auch die ersten Rapperinnen aktiv, die sehr feministisch, stark und zielstrebig waren. 

An welche Frauen denken Sie dabei?

Lauryn Hill ist wahrscheinlich die wichtigste Rapperin der Welt. Sie hat Frauenthemen auf sehr direkte Art angesprochen. Auch Lil’ Kim ist sehr interessant, weil sie ihre Stärke gerade im Umgang mit Stereotypen findet. Sie ist sehr sexuell in ihrem Auftreten, aber sie lässt sich nie zu einem Objekt machen, denn sie spielt mit ihrer eigenen sexuellen Stärke.

Wohin entwickelt sich der Rap? Wenn ich an Kendrick Lamar denke, habe ich den Eindruck, Rap werde wieder politischer.

Das stimmt. Und wenn wir von einer positiven Auswirkung der Trump-Wahl reden können, dann davon, dass es wieder mehr revolutionäre und kritische Ausdrucksformen geben wird. Es gibt so viel Inspiration für genau diese politischen Botschaften, mit denen Rap gestartet ist, wobei Lamar nur ein Beispiel ist.

Und weltweit?

Genau das Gleiche. Wir leben in politisch instabilen Zeiten. Und jeder will über seine Identität und sein Gefühl des Dazugehörens und der Repräsentation seiner Gemeinschaft reden. Da ist Rap genau das richtige Mittel dazu. Jeder kann ein Rapper sein. Du brauchst nur eine Stimme und ein paar Beats, und du kannst loslegen. Rap ist die wahrscheinlich demokratischste Art des Musikmachens, die es jemals gab.


Ana Sobral 

Ana Sobral ist die Assistenzprofessorin für globale Literaturen am Englischen Seminar der Universität Zürich. Sie hat das Buch «Opting Out» (Rodopi 2012) geschrieben, das Kultgeschichten wie Jack Kerouacs «On the Road» und Chuck Palahniuks «Fight Club» analysiert. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Globalisierung von Pop-Musik und die Verbindungen von Pop-Musik, Migration und Weltbürgertum. Sie hat Artikel zum islamischen Feminismus und zum Arabischen Frühling veröffentlicht. Gegenwärtig arbeitet sie an einem neuen Buch zum Thema «Rap als Narration». 

Wer bin ich eigentlich?

R’n’B-Sänger Frank Ocean und Rapper Kendrick Lamar suchen auf ihren jüngsten Alben nach ihrer Identität. Sie gehören zu den innovativsten Künstlern ihrer Generation.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Frank Ocean hat alle überrascht, als er innerhalb von 24 Stunden gleich zwei vollständige Alben veröffentlichte und dazu noch ein 360 Seiten dickes Magazin mit dem Titel «Boys Don’t Cry». So hätte eigentlich das neue Album heissen sollen. Entstanden sind dann aber: «Blond» (auch «Blonde» geschrieben) und «Endless». 

«I’ve got two versions», singt Ocean in «Nikes», dem ersten Song auf «Blond/e». Und das gilt gleich mehrfach: Der 28-Jährige hat zwei Alben und zwei Versionen des Albums «Blond/e» (mit jeweils unterschiedlichen Songs) veröffentlicht. Der Titel ist wahlweise männlich oder weiblich geschrieben: der Blonde oder die Blondine. Und seit Frank Ocean vor vier Jahren kurz vor seinem ersten Album «Channel Orange» mitteilte, seine erste grosse Liebe sei ein Mann gewesen, rätselt die Welt, ob er denn nun bisexuell oder homosexuell sei. Der Mann hat nicht nur zwei Versionen, es gibt ihn auch in zwei Versionen. Mindestens. 

Bevor er «Blond/e» veröffentlichte, schrieb er auf seiner Tumblr-Seite, die Inspiration zum Album sei das Foto eines blonden Mädchens in einem Auto gewesen. Dabei reflektierte er auch seine Auto-Obsession: «Vielleicht ist sie verbunden mit einer tiefen unbewussten Hetero-Jungenphantasie. Aber ich suche nicht bewusst nach hetero – ein bisschen schwul ist gut», schrieb er. 

Das Album hat wenige eingängige Melodien, und man muss sich bewusst darauf einlassen, damit es sich einem erschliesst. Wie Tagebucheinträge, ohne narrative Struktur, lässt einen Ocean an seinen intimsten Momenten teilhaben: Kindheitserinnerungen, Sex, Dates, Anekdoten. Aber immer bleibt Ocean alleine. Selbst wenn er andere beobachtet. Wie in einem Kokon. Einem metallenen. Seinem Auto.

Das audiovisuelle Album «Endless» gibt es nur als Videodatei. Während man Ocean in einem Schwarz-Weiss-Film beim Bau einer Wendeltreppe ins Unendliche zusieht, sind im Hintergrund ganze Songs oder auch nur Einzeiler zu hören, die anschwellen und wieder verklingen. In einer Kombination aus Bewusstseinsstrom und Montage setzt sich dem aufmerksamen Zuhörer langsam Oceans Identität zusammen. Aber immer nur für kurz, bevor sie wieder wie Sand zwischen den Fingern verrinnt und eine neue Form annimmt. 

Es ist ein Werk der Tumblr-Generation. Während Menschen früher auf Blogs ihre Gedanken vollständig ausformuliert der Welt kundtaten, kann auf Tumblr alles geteilt werden: Fotos, Tweets, längere Texte, Ton- und Filmdateien. Das Publikum wird so aufgefordert, sich aktiv für ein Gesamtbild einzusetzen, anstatt es fixfertig vorgesetzt zu bekommen.

Während Ocean eher unbeabsichtigt für seine Generation steht, sieht sich Kendrick Lamar als ihr Sprecher – zumindest als jener der Afroamerikaner. «Ich bin fast eine Art Prediger für die Jungen», sagte er der «New York Times». Der aus den Armenvierteln in Compton stammende Lamar hat sich in seinem zweiten, viel gelobten Album «good kid, m.A.A.d. city» mit der Frage auseinandergesetzt, wie man es aus dem Ghetto herausschafft.

In seinem dritten Album «To Pimp a Butterfly» und dem dazugehörigen vierten Album «Untitled Unmastered», das unfertige Demos des gleichen Materials enthält, fragt er sich, wer er nun ist, jetzt, da er es geschafft hat und reich ist. Selbstkritisch analysiert Lamar seine Rolle in «i» und «u» und kommt zum Schluss, dass er die Verantwortung, die ihm durch seinen Reichtum und seine Berühmtheit übertragen wurde, annehmen muss.

Im von Jazzklängen begleiteten Stück «For Free?», in dem sich ein Mann scheinbar über seine Freundin beschwert, klagt Lamar die USA an: «Oh, Amerika, du böse Schlampe, ich pflückte Baumwolle und habe dich reich gemacht. This dick ain’t free.» Durch die Doppeldeutigkeit von «free» als frei und gratis beklagt er mit politischer Brisanz, dass er auch als reicher Afroamerikaner nicht wirklich frei ist, und verweist gleichzeitig darauf, dass er nicht bereit ist, sich von der Musikindustrie ausnutzen zu lassen. Am Ende des Albums hat der 29-Jährige seine neue Rolle akzeptiert und rezitiert als Antwort ein Gedicht über eine Raupe, die in ihrem Kokon feststeckt, sich dann aber in einen Schmetterling verwandelt. 

Die beiden genialen und innovativen Künstler basteln nicht nur gerade an der Musik der Zukunft, sie verkörpern auch perfekt den Geist der Jugend, der politische Gleichberechtigung fordert und sich in seiner Identität nicht auf ein paar Adjektive festlegen lässt. Word!