Wer bin ich eigentlich?

R’n’B-Sänger Frank Ocean und Rapper Kendrick Lamar suchen auf ihren jüngsten Alben nach ihrer Identität. Sie gehören zu den innovativsten Künstlern ihrer Generation.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Frank Ocean hat alle überrascht, als er innerhalb von 24 Stunden gleich zwei vollständige Alben veröffentlichte und dazu noch ein 360 Seiten dickes Magazin mit dem Titel «Boys Don’t Cry». So hätte eigentlich das neue Album heissen sollen. Entstanden sind dann aber: «Blond» (auch «Blonde» geschrieben) und «Endless». 

«I’ve got two versions», singt Ocean in «Nikes», dem ersten Song auf «Blond/e». Und das gilt gleich mehrfach: Der 28-Jährige hat zwei Alben und zwei Versionen des Albums «Blond/e» (mit jeweils unterschiedlichen Songs) veröffentlicht. Der Titel ist wahlweise männlich oder weiblich geschrieben: der Blonde oder die Blondine. Und seit Frank Ocean vor vier Jahren kurz vor seinem ersten Album «Channel Orange» mitteilte, seine erste grosse Liebe sei ein Mann gewesen, rätselt die Welt, ob er denn nun bisexuell oder homosexuell sei. Der Mann hat nicht nur zwei Versionen, es gibt ihn auch in zwei Versionen. Mindestens. 

Bevor er «Blond/e» veröffentlichte, schrieb er auf seiner Tumblr-Seite, die Inspiration zum Album sei das Foto eines blonden Mädchens in einem Auto gewesen. Dabei reflektierte er auch seine Auto-Obsession: «Vielleicht ist sie verbunden mit einer tiefen unbewussten Hetero-Jungenphantasie. Aber ich suche nicht bewusst nach hetero – ein bisschen schwul ist gut», schrieb er. 

Das Album hat wenige eingängige Melodien, und man muss sich bewusst darauf einlassen, damit es sich einem erschliesst. Wie Tagebucheinträge, ohne narrative Struktur, lässt einen Ocean an seinen intimsten Momenten teilhaben: Kindheitserinnerungen, Sex, Dates, Anekdoten. Aber immer bleibt Ocean alleine. Selbst wenn er andere beobachtet. Wie in einem Kokon. Einem metallenen. Seinem Auto.

Das audiovisuelle Album «Endless» gibt es nur als Videodatei. Während man Ocean in einem Schwarz-Weiss-Film beim Bau einer Wendeltreppe ins Unendliche zusieht, sind im Hintergrund ganze Songs oder auch nur Einzeiler zu hören, die anschwellen und wieder verklingen. In einer Kombination aus Bewusstseinsstrom und Montage setzt sich dem aufmerksamen Zuhörer langsam Oceans Identität zusammen. Aber immer nur für kurz, bevor sie wieder wie Sand zwischen den Fingern verrinnt und eine neue Form annimmt. 

Es ist ein Werk der Tumblr-Generation. Während Menschen früher auf Blogs ihre Gedanken vollständig ausformuliert der Welt kundtaten, kann auf Tumblr alles geteilt werden: Fotos, Tweets, längere Texte, Ton- und Filmdateien. Das Publikum wird so aufgefordert, sich aktiv für ein Gesamtbild einzusetzen, anstatt es fixfertig vorgesetzt zu bekommen.

Während Ocean eher unbeabsichtigt für seine Generation steht, sieht sich Kendrick Lamar als ihr Sprecher – zumindest als jener der Afroamerikaner. «Ich bin fast eine Art Prediger für die Jungen», sagte er der «New York Times». Der aus den Armenvierteln in Compton stammende Lamar hat sich in seinem zweiten, viel gelobten Album «good kid, m.A.A.d. city» mit der Frage auseinandergesetzt, wie man es aus dem Ghetto herausschafft.

In seinem dritten Album «To Pimp a Butterfly» und dem dazugehörigen vierten Album «Untitled Unmastered», das unfertige Demos des gleichen Materials enthält, fragt er sich, wer er nun ist, jetzt, da er es geschafft hat und reich ist. Selbstkritisch analysiert Lamar seine Rolle in «i» und «u» und kommt zum Schluss, dass er die Verantwortung, die ihm durch seinen Reichtum und seine Berühmtheit übertragen wurde, annehmen muss.

Im von Jazzklängen begleiteten Stück «For Free?», in dem sich ein Mann scheinbar über seine Freundin beschwert, klagt Lamar die USA an: «Oh, Amerika, du böse Schlampe, ich pflückte Baumwolle und habe dich reich gemacht. This dick ain’t free.» Durch die Doppeldeutigkeit von «free» als frei und gratis beklagt er mit politischer Brisanz, dass er auch als reicher Afroamerikaner nicht wirklich frei ist, und verweist gleichzeitig darauf, dass er nicht bereit ist, sich von der Musikindustrie ausnutzen zu lassen. Am Ende des Albums hat der 29-Jährige seine neue Rolle akzeptiert und rezitiert als Antwort ein Gedicht über eine Raupe, die in ihrem Kokon feststeckt, sich dann aber in einen Schmetterling verwandelt. 

Die beiden genialen und innovativen Künstler basteln nicht nur gerade an der Musik der Zukunft, sie verkörpern auch perfekt den Geist der Jugend, der politische Gleichberechtigung fordert und sich in seiner Identität nicht auf ein paar Adjektive festlegen lässt. Word!