Sie ist kokett und stark

Lady Galore, Foto von Petra van Velzen

Das 22. schwullesbischen Festival zeigt «Galore», das Porträt einer Dragqueen aus Holland. Wir sprachen mit Lady Galore.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Die Eltern waren nicht gerade begeistert, als sich Sander den Baas als schwul outete. So zog er bald vom Fischerstädtchen Den Helder nach Amsterdam. Nach einer Reihe von Jobs als Kosmetiker, Réceptionist oder Altersheim-Animator lieh er sich für einen Event die Perücke einer Dragqueen – in der Verkleidung als Frau stiess er auf so viel Zustimmung, dass er Angebote für weitere Auftritte bekam.

«Für mich gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen Drag und Feminismus», sagt uns Den Baas am Telefon. «Frauen haben so viel Stärke, und das versuche ich in einer überspitzten Form als Dragqueen zu zeigen. Lady Galore weiss, was sie will und steht dafür auch ein. Aber natürlich bin ich als Galore auch sehr kokett und zugänglich.»

Als Dragqueen gehe es ihm in erster Linie um Unterhaltung, sagt der 35-Jährige. «Es gibt ja verschiedene Formen von Drag. In Amsterdam ist zum Beispiel das Make-up am wichtigsten.» Den Baas’ Set besteht meist aus zwei Songeinlagen als Playback und einem kurzen Teil in der Mitte, in dem er frei improvisiert erzählt. «Wichtig ist mir ausserdem, etwas für meine Community zu machen, deshalb organisiere ich Workshops und bin eine mütterliche Figur für die jüngeren Dragqueens.»

Als der stark übergewichtige Den Baas sich 2017 dazu entschloss, eine Magenbandoperation durchführen zu lassen, fragte er die Zwillingsbrüder Lazlo und Dylan Tonk, ob sie als Filmemacher den Transformationsprozess begleiten würden. Diese waren sofort begeistert vom Projekt und folgten Sander zu Auftritten und Anlässen, aber eben auch ins Spital und die Essberatung.

«Lazlo und Dylan sind grossartige Regisseure, und ich bin stolz über die internationale Premiere», so Den Baas. «Bei meinem ersten Besuch in Zürich, war ich ganz begeistert vom klaren Wasser in eurem See und den Kühen, die ich mitten in der Stadt sah. Ich glaube, die filmten mit ihnen eine Werbung für Unterhosen.»

Sander den Baas sagt, die Leute seien oft zurückhaltend, wenn sie ihn als Drag Queen sehen. «Aber ich freue mich immer, wenn sie auf mich zukommen und reden oder ein Foto machen wollen.»

www.pinkapple.ch

Galore: von Dylan and Lazlo Tonk, Dokumentarfilm, NL 2019, 74 min.

Von Spider-Man zum Gelähmten

Andrew Garfield 2011 am Comic Con. Bild: flickr

Als agiler Spider-Man wurde Andrew Garfield weltberühmt, in «Breathe» spielt er einen Mann, der gegen seine Kinderlähmung kämpft. Wir haben den Darsteller getroffen.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Andrew Garfield will offensichtlich alles richtig machen. «Der Dreh zu ‹Breathe› war eine Herausforderung», erzählt er uns am vergangenen ZFF. Das Team hatte nur sieben Wochen zum Filmen, und Garfield musste die ganze Zeit völlig reglos daliegen. «Aber natürlich bin ich auch sehr dankbar für die Möglichkeiten, die ich bekommen habe», relativiert er sogleich.

Es war bestimmt nicht einfach, Robin Cavendish zu spielen: Der Engländer erkrankte mit 28 Jahren an Kinderlähmung und war vom Hals abwärts gelähmt. Zum Atmen war er auf eine Maschine angewiesen, die seinen Bewegungsradius stark einschränkte. Cavendish aber liess sich nicht behindern und war einer der Ersten, die sich einen Rollstuhl mit Beatmungsmaschine bauen liessen. Damit ging er auf Weltreise. Jetzt hat sein Sohn Jonathan als Produzent das Leben des Vaters auf die Leinwand gebracht, mithilfe seines Freunds Andy Serkis. «Breathe» ist das Regiedebüt des Gollum-Darstellers («The Lord of the Rings»).

Herausfordernd beim Dreh war für Garfield vor allem die Atmung: Diese musste er an den Rhythmus der Beatmungsmaschine anpassen. Aber weil das Teil so viel Lärm machte, stellten es die Filmemacher in den nächsten Raum. «Ich trug dann einen Sender im Ohr, damit ich die Maschine hörte. In den zwei Monaten der Vorbereitung habe ich einen Grossteil der Zeit darauf verwendet, den Rhythmus einzuüben.» Wie war es, den Sohn von Cavendish am Set dabeizuhaben? «Das war hilfreich, aber natürlich auch ein ziemlicher Druck», erzählt er.

Geboren wurde Garfield in Los Angeles, der Vater ein Amerikaner, die Mutter eine Britin – als er drei war, zog Garfields Familie nach England. Angefangen hat der 34-Jährige als Theaterschauspieler, bevor er erste Rollen im Fernsehen bekam. Seinen Durchbruch hatte er in David Finchers «The Social Network» – er spielte Mark Zuckerbergs Weggefährten Eduardo Saverin, war als bester Nebendarsteller für einen Golden Globe nominiert. Einem breiten Publikum bekannt wurde er dank «The Amazing Spider-Man».

Garfield wird selten auf Listen der besten Schauspieler seiner Generation geführt, dabei wurde er schon für alle grossen Filmpreise nominiert und hat mit einigen der Grössten aus der Branche gearbeitet. «Andy Serkis hat es am Set gerne fröhlich und aufgestellt und lässt seinen Schauspielern viel Raum. Martin Scorsese arbeitet sehr akribisch und wollte absolute Ruhe bei den Dreharbeiten zu ‹Silence›, was natürlich auch am Thema das Filmes lag.» Garfield spielte da einen von zwei portugiesischen Pfarrern, die im 17. Jahrhundert heimlich in Japan missionieren. Und wie war es mit Mel Gibson beim Kriegsdrama «Hacksaw Ridge»? «Er arbeitet sehr aus dem Bauch heraus, instinktiv. Oft kann er nicht in Worte fassen, was er genau meint, aber wenn es stimmt, sieht er es sofort.» Garfield brachte die Zusammenarbeit mit Gibson eine Oscarnominierung als bester Hauptdarsteller ein.

Vorerst spielt Garfield aber in «Angels in America» am Broadway. Was danach kommt, weiss er noch nicht. «Ich denke, es gibt Zyklen im Leben, und wenn einer abgeschlossen ist, dann beginnt der nächste. Ich bewundere Schauspieler, die sie selber bleiben, wie Mark Ruffalo», sagt Garfield. «Die nächste Geschichte, die ich erzähle, soll etwas ganz anderes sein – vielleicht in einer Fernsehserie.»

Meister der Weltflucht

Steven Spielberg am Comic Con 2017. Bild: flickr

Steven Spielberg liebt das klassische Hollywood und taucht gern in fremde Welten ein. Das Er liebt das klassische Hollywood, hat das moderne Blockbusterkino mitbegründet und taucht gern in fremde Welten ein: Das Xenix widmet Steven Spielberg eine Retrospektive.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Mit grossen Augen und aufgerissenem Mund steht ein Dreijähriger in «Close Encounters of the Third Kind» am Fenster und blickt fasziniert auf die Lichter des UFO am Himmel. Die Fokussierung auf das Gesicht vermittelt dem Publikum die Emotionalität der Szene. Sie zeigt aber auch Steven Spielbergs eigene kindliche Faszination mit dem Medium, die er an das Publikum weitergeben will: Das Kino soll die Zuschauer zum Staunen bringen.

Spielberg orientiert sich an der Vergangenheit, an den Dreissiger- bis Fünfzigerjahren. Vor allem die Regisseure John Ford («The Searchers») und David Lean («Lawrence of Arabia») haben es ihm angetan. Wie im klassischen Kino bevorzugt er schön komponierte Bilder und zieht selten die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Kunst des Filmemachens, sondern hilft ihnen in die Filmwelt. Er macht Eskapismusfilme, oft getränkt in Sentimentalität. Diese erzeugt er nicht nur durch die Themenwahl, sondern gern auch mit ebendieser Fokussierung der Kamera auf Gesichter, unterlegt mit pathetischer Musik. Deshalb wird er mitunter Meister der Zuschauermanipulation genannt. Aber bei aller berechtigten Kritik, seine Filme halten, was sie versprechen: eine Flucht aus dem Alltag und das Eintauchen in eine andere Welt. Damit wurde Spielberg, der diesen Dezember 71 wird, zumindest finanziell gesehen, der erfolgreichste Regisseur seiner Generation.

Als Spielberg Ende der Sechzigerjahre seine ersten Schritte machte, brach gerade die Ära des New Hollywood an. Seine Zeitgenossen waren Francis Ford Coppola, Terrence Malick oder John Carpenter. Die meist jungen Regisseure fanden ihre Inspiration in Europa, vor allem in den Filmen der Nouvelle Vague, und sie definierten sich selber als Künstler. Aber während Coppola und Malick diesem Verständnis von Film als Kunst – meistens – treu blieben und Carpenter seine Nische im Genrekino fand, begründete Spielberg die nächste grosse Veränderung in Hollywood: das Blockbusterkino.

«Jaws» (dt. «Der Weisse Hai») war der erste Film, der in den USA 100 Millionen einspielte. Es folgten viele weitere, die Spielberg selber einmal als «fast food movies» bezeichnete, wie die Teile der «Indiana Jones»-Reihe. Zugleich machte er immer wieder anspruchsvollere Filme, die ihm am Herz lagen. Das berühmteste Beispiel hierfür ist das Holocaustdrama «Schindler’s List», aber auch «The Color Purple» gehört dazu, über das harte Leben einer jungen schwarzen Frau (Whoopi Goldberg) zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Für seinen nächsten Film, der bei uns im Februar anläuft, blickt Spielberg ebenfalls in die Vergangenheit zurück: «The Post» handelt davon, wie 1971 die «New York Times» und die «Washington Post» Teile der sogenannten Pentagon-Papiere veröffentlichten – und damit aufdeckten, dass die US-Regierung die Bevölkerung in Bezug auf den Vietnamkrieg belogen hatte.

Wer steckt denn hier noch im Ghetto?

Mit «Brokeback Mountain» und «Carol» sind die Lesben und Schwulen längst im Mainstreamkino angekommen. Warum braucht es da immer noch ein Festival zum Queer Cinema?

Von Murièle Weber (Züritipp)

Selbst Jackie Kennedy sass damals im Publikum. Als das Theaterstück «The Boys in the Band» 1968 in New York anlief, standen die Leute mehrere Hundert Meter im Nieselregen für Tickets an. Alle wollten den scharfzüngigen Schwulen Harold sehen, der mit seinen Freunden Geburtstag feiert. Und für einmal starb auch niemand, bevor der Vorhang fiel: Jahrzehntelang waren Homosexuelle auf Mörder oder Opfer reduziert worden, aber nun feierten sie.

Als die Verfilmung 1970 in die Kinos kam, hatte die Welt sich verändert. Die Stonewall-Ausschreitungen führten zu neuem Selbstbewusstsein und politischem Aktivismus. «The Boys in the Band» wurde von Schwulenaktivisten boykottiert. Denn schliesslich zeigte der Film Schwule, die nach jahrelanger, gesellschaftlicher Ablehnung an Selbsthass leiden. Repräsentation reichte nicht mehr, man wollte stolze Homosexuelle mit positiven Geschichten sehen. Während Hollywood in den Achtzigerjahren nur zögerlich Fortschritte machte, zeigten unabhängige Filmemacher wie Rob Epstein und Jeffrey Friedman, die dieses Jahr am Pink Apple ausgezeichnet werden, selbstbewusstes homosexuelles Leben. Und als Aids sich zur Epidemie ausweitete und Hollywood das Thema bis zu «Philadelphia» (1993) ignorierte, erzählte das Fernsehen mit «An Early Frost» (1985) von Ron Cowen und Daniel Lipman von einem Anwalt, der zum Sterben zu seinen Eltern zieht. Cowen und Lipman waren später mit der Serie «Queer as Folk» erfolgreich.

Trotzdem dauerte es bis zu Beginn der Neunzigerjahre, bis von einem eigenständigen Genre – dem Queer Cinema – gesprochen wurde. Hier kreuzten sich die Ästhetik von Andy Warhol und John Waters mit der selbstsicheren Attitüde von Filmemachern wie Gus Van Sant («My Own Private Idaho») oder Derek Jarman («Edward II»), die den Politaktivisten den Mittelfinger zeigten, indem sie schwul-lesbisches Leben in all seiner Verkorkstheit am Rande der Gesellschaft zeigten. Das Schimpfwort queer (in etwa «seltsam») wurde jetzt stolz getragen.

Seither ist viel passiert. Schwule, Lesben und Transgender sind im Mainstream angekommen mit «Brokeback Mountain», «Carol» oder «The Danish Girl». Braucht es da das Queer Cinema überhaupt noch? Ja, auf jeden Fall. In «The Danish Girl» zum Beispiel geht es weniger um das Leben einer Transfrau, als um die Sicht der Heteros auf sie. In der Leitkultur vertreten zu sein, ist nicht das Gleiche, wie eigene Ausdrücke für das eigene Leben zu finden. Junge, homosexuelle Filmemacher wie Andrew Haigh («The Weekend»), Xavier Dolan («Juste la fin du monde») oder Dee Rees («Pariah») machen nicht nur berührende Filme, sondern experimentieren auch mit einer eigenen Ästhetik. Sie zeigen ihre Identität, ihre Welt, ihre Geschichten. Das ist bereichernd für alle. Dass diese Filme im Kino laufen, ist grossartig. Sie gehören aber auch an ein schwul-lesbisches Filmfestival, das nicht im Ghetto stattfindet, sondern im öffentlichen Raum mitten in der Stadt. So sollte es auch sein.

HIGHLIGHTS

STRIKE A POSE

Geschichte von Madonnas ehemaligen Tänzern Arthouse Movie Do 27.4., 17 Uhr Fr 28.4., 21 Uhr

HANDSOME DEVIL

Zwischen Outsider und Rugby-Star entwickelt sich eine zärtliche Freundschaft Arthouse Movie Sa 29.4., 21 Uhr Mo 1.5., 14.30 Uhr

SUICIDE KALE

Neues Paar trifft sich mit langjährigem Paar und findet eine schriftliche Suiziddrohung Arthouse Movie So 30.4., 19.15 Uhr

STEVE BLAME: GAY – THE 80’S MUSIC AND ME

Vortrag des ehemaligen MTV-Moderators über den Einfluss der Musik auf die LGBT-Bewegung Kulturhaus Helferei Fr 28.4., 19 Uhr

Kino der Schatten

Zwischen den beiden Weltkriegen entstanden in Deutschland Filme, die sich seinerzeit auch mit Hollywood messen konnten. Das Schaffen von Regisseuren wie Fritz Lang oder F. W. Murnau wirkt bis heute nach.

Von Murièle Weber (Züritipp)

«Du musst Caligari werden!», stand 1920 auf vielen Plakatsäulen in ganz Deutschland. Nein, das bewarb keine Sekte, sondern ein Meisterwerk des expressionistischen Films: «Das Cabinet des Dr. Caligari». Das zentrale Merkmal dieser Filme ist das gemalte Set, dem sich selbst die Darsteller unterordnen mussten. Mit verzerrten Perspektiven, abstrakten Naturlandschaften und Treppen, die scheinbar ins Nichts führen, widerspiegelt das expressionistische Kino den inneren Zustand der Figuren, was besonders nach dem Schrecken des Ersten Weltkriegs grossen Anklang fand. Und so taumelt der Schlafwandler Cesare durch eine Stadt der schiefen Häuser, um im Auftrag seines Herren Dr. Caligari Morde zu begehen. Diese Stimmung der konstanten Bedrohung, der Stadt als einem Labyrinth und Ort des Verbrechens, wurde später ein wichtiger Aspekt im Film noir.

Gerade mal fünfzehn Jahre dauerte das Weimarer Kino, vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Machtergreifung der Nazis. In der jungen Republik, die Inflation und Gewalt erlebte, aber auch von einer Aufbruchstimmung und einer vergnügungsfreudigen Jugend geprägt war, entstand ein Kino, das zu dieser Zeit als einziges mit Hollywood konkurrieren konnte – sowohl in der Anzahl der Werke als auch in seinem künstlerischen Ausdruck.

Mit Neugier und Experimentierfreude revolutionierten die deutschen Filmemacher das Medium. Für «Der letzte Mann» (1924) erfand F. W. Murnau mit Kameramann Karl Freund Möglichkeiten, die Kamera aus ihrer bis dahin starren Stellung zu befreien. In der Eröffnungsszene versetzten die beiden das Publikum in Staunen, als sie das Kameraauge scheinbar mühelos durch eine Hotellobby gleiten liessen. Dafür schoben sie den Apparat an ein Fahrrad gebunden durch den Raum.

Besonders einflussreich war auch Fritz Lang, der Genrespezialist. Neben der Fantasy («Die Nibelungen») und dem Abenteuerfilm («Die Spinnen») prägte Lang die Science-Fiction und den Krimi. «Metropolis» (1927) war sein politischstes Werk. In einer Stadt der Zukunft leben die Reichen an der Oberfläche, während die Armen unter der dunklen Erde schuften – bis es zu einem Aufstand kommt. Die grandiose Architektur mit ihrem imposanten Turm zu Babel und der Robotermensch Maria beflügelten unzählige futuristische Nachfolger wie «Blade Runner» oder «The Fifth Element». Dem Krimi drückte Lang mit den Mabuse-Filmen sowie seinem ersten Tonfilm «M – Eine Stadt sucht einen Mörder» (1931) den Stempel auf. Er nahm den Film noir vorweg, indem er eine Welt der verschwommenen Moral zwischen Polizei und Unterwelt zeigte.

Als Reaktion auf die Extravaganzen des expressionistischen Films entstand Ende der 20er-Jahre die Neue Sachlichkeit. Man wollte weg von den verzerrten Perspektiven und hin zur realistischen Darstellung. So entstand 1925 «Die freudlose Gasse», die das Elend der Unterschicht zeigt, aus dem sich für Frauen oft nur die Prostitution als Ausweg anbot. Einzig Grete (gespielt von der jungen Greta Garbo) wird von diesem Schicksal bewahrt. Mit etwas mehr Leichtigkeit erzählt «Menschen am Sonntag» (1929) vom Leben einer Gruppe junger Leute, die ihren freien Tag am See verbringen. Hier sammelte Billy Wilder Erfahrungen als Drehbuchautor.

Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, wurde das Weimarer Kino als entartete Kunst gebrandmarkt; viele der Filmemacher mussten emigrieren. Aber dem Einfluss dieser Künstler, ihrer Werke und ihrer Ästhetik konnten die Nazis nichts mehr anhaben. Der Weimarer Film hatte bereits die Welt erobert.

Männerfreundschaften

Sick Boy (Jonny Lee Miller) und Renten (Ewan McGregor) nach 20 Jahren wieder vereint.

Danny Boyle schafft es, mit «T2 Trainspotting» nicht nostalgisch zu werden. In der Neuauflage des Kulthits der neunziger Jahre wirft er einen frischen Blick auf die bösen Buben.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

«Was hast du die letzten 20 Jahre gemacht?», fragt Sick Boy seinen besten Freund Mark Renton, als dieser überraschend die schäbige Bar betritt. So lange ist es her, seit die beiden Junkies zusammen mit ihren Freunden Spud und Begbie zum peitschenden Beat von Iggy Pops «Lust for Life» durch die Strassen Edinburgs gerannt sind – auf der Flucht vor einem bürgerlichen Leben. Und so lange ist es auch her, seit Renton seine Freunde nach einem Drogendeal abzockte und mit dem Geld nach Amsterdam verschwand. Nun kommt er in «T2 Trainspotting» zurück und merkt bald: Wirklich etwas verändert hat sich hier nicht. 

1996, auf der Höhe des «Cool Britannia»-Hypes, als London Scharen von Partywütigen anzog und der Britpop mit Blur und Oasis seinen Zenit erreicht hatte, begeisterte «Trainspotting» Publikum und Kritiker gleichermassen. Der exzentrische visuelle Stil des bis dahin noch ziemlich unbekannten Regisseurs Danny Boyle in der Tradition von englischen Filmemachern wie Ken Russell («Tommy») und Nicolas Roeg («Don’t Look Now») elektrifizierte seine Zuschauer. Legendär bleibt die Szene, als Renton im schlimmsten Klo Schottlands zwei wegen Diarrhö verlorene Opiumzäpfchen aus einer eklig braunen Toilettenschüssel fischen muss. Dass die Sauerei mit Schokolade angerichtet wurde, mag heute beruhigen. 

Der Streifen wurde bald Kult, genauso wie der aus Punk, Britpop und Techno bestehende Soundtrack sowie das orangefarbene Poster von Rentons «Choose Life»-Monolog. Irvine Welsh, Autor der Romanvorlage, hatte sich dabei von einer Anti-Drogen-Kampagne der achtziger Jahre inspirieren lassen: Sag ja zum Leben im Gegensatz zum langsamen Tod durch Drogen. Aus Rentons Mund wurde sie zu einer beissenden Konsumkritik: «Sag Ja zum Leben, einer Karriere, einem verdammt grossen Fernseher, einem elektrischen Dosenöffner . . .» 

Harte Zeiten in England

Margaret Thatcher hatte in den Jahren zuvor ihr Land auf Neoliberalismus getrimmt, an dessen sozialem Leben nur teilhaben konnte, wer das Geld hatte, um zu konsumieren. Doch nun formierte sich Widerstand. Keine Studenten-WG durfte sich als solche bezeichnen ohne das Poster von Rentons Monolog, dessen Inhalt die meisten auch noch im betrunkenen Zustand herunterrasseln konnten. Es war die Stimme des Rebellen, des Verweigerers, des Punks. Im Zentrum des Films standen aber auch Männer und ihre Beziehungen zueinander.

Väter waren meist abwesend, und als Vorbilder taugten sie erst recht nicht. Der Drogendealer «Mutter Oberin» empfing seine Schäfchen mit einer Tüte Toastbrot und einer gut gefüllten Spritze Heroin in einer Art pervertierter Form von Fürsorglichkeit. Begbie schlug aus Frustration über seine unterdrückte Homosexualität Männer brutal zusammen, Sick Boy liess in seinem Drogenrausch seine kleine Tochter verenden. Ob- wohl ihre Freundschaft schon seit dem Kindergarten bestand, reichte ihre Loyalität meist nur bis zum nächsten Schuss. Schliesslich war sich jeder selbst der Nächste. Ein treffendes Bild für die achtziger Jahre. Einen Film geschaffen zu haben, der für eine Dekade steht, ist für eine Fortsetzung eine schwere Hypothek. Die Erwartungen sind oft so überzogen, dass sie jeden Film unter sich begraben können. Boyle weiss, dass er dem Schatten des Originals nicht entfliehen kann, und spielt deshalb immer wieder liebevoll darauf an. Als Renton von Begbie verfolgt durch Edinburg rennt, wird auch die Eröffnungsszene des ersten Films eingespielt, in der Renton und Spud vor zwei Ladendetektiven flüchten mussten. Es ist ein konstantes Nicken in die Richtung des Publikums: «Wisst ihr noch?» Ach, und wie!

Gewicht der Erinnerung

Aber es ist keine eigentliche Nostalgie, die den Film beherrscht, obwohl Sick Boy dies seinen Freunden vorwirft, als er sie als Touristen ihrer eigenen Jugend bezeichnet. Vielmehr wissen der Film und mit ihm seine Figuren um ihre Wurzeln. Und so kommt zum ersten Mal Leben in ihre Freundschaft, als Renton und Sick Boy wie früher mit dem Gesetz in Konflikt kommen, als sie in einem Pub Portemonnaies klauen, damit Sick Boy das Startkapital für ein Bordell hat. 

Vor allem aber geht es ums Älterwerden. Der koksende Sick Boy arbeitet jetzt als amateurhafter Zuhälter, der die Freier seiner Freundin erpresst und sich über Rentons Rückkehr freut, weil er ihn aus Rache für den Verrat zurück in den Drogensumpf ziehen will. Spud hat seinen Job verloren, weil er mit der Umstellung auf die Sommerzeit nicht zurechtkam, weshalb er nun auch seinen Sohn nicht mehr sehen darf und sich überlegt, allem ein Ende zu setzen. Begbie lässt sich im Gefängnis verletzen, um dann aus dem Spital zu fliehen und sich an Renton für dessen Betrug zu rächen. Renton hat immerhin so etwas wie eine bürgerliche Idylle erschaffen, aus der er aber eher unsanft getreten wird, als seine Frau ihn verlässt und ihm die Kündigung droht. 

«Sag Ja zu unerfüllten Versprechen und dem Wunsch, du hättest alles anders gemacht. Sag Ja zur Aussöhnung mit dem, was du haben kannst, anstelle vom dem, was du dir immer erhofft hattest», sagt Renton im aktualisierten «Choose Life»-Monolog. 

Schliesslich aber sind es nicht Renton und die Nostalgie, die im Mittelpunkt stehen, sondern die Bedeutung von Erinnerungen. Nun wird Spud, der ewige Verlierer, der selbst unter seinen Aussenseiterfreunden ein Sonderling ist, zur Hauptfigur. Wie der Film zeigt, ist er der Herzschlag seines Freundeskreises und damit auch der Geschichte. Am Ende ist es Spud, der Worte findet für das, was war, und damit die Brücke schlägt zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass sich nicht alle Träume erfüllen lassen, aber dass es immer den Weg zurück gibt, dahin, wo alles begann, und dass gewisse Beziehungen, egal wie destruktiv sie sind, Bestand haben, weil man sich kennt, weil man sich nichts mehr beweisen muss. Und das berührt.

Der Soundtrack zum Film Starke Remixes 

Schon der Soundtrack zu «Trainspotting» war eine Kombination aus einem Blick zurück auf den Punk der siebziger Jahre, aktuellem Britpop und einem Ausblick auf den sich entwickelnden Techno. Die Musik zu «T2» glänzt mit Remixes der Klassiker, zeitgenössischer Musik der Young Fathers und der Fat White Family, aber auch experimentellerer Musik von den Rubberbandits und ihrem phantastischen Stück «Dad’s Best Friend». Murièle Weber