Unerschrockene Kämpferin

Gloria Allred am Women’s March 2019. Bild: flickr

Der Film «Seeing Allred» porträtiert die bekannten Frauenrechtlerin Gloria Allred und schwierigen jahrzehntelangen Kampf.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Gloria Allred (*1941) hat früh verstanden, dass man als Frau nicht weiterkommt, wenn man einfach nur nett ist. Die berühmte US-Frauenrechtlerin und Anwältin weiss, dass man laut und bestimmt sein muss, präsent in den Medien, und keinen Kampf scheuen darf. Ihre eigene absolute Hingabe für gesellschaftlichen Wandel erwartete sie auch von allen anderen Frauen, was oft zu Unverständnis und Kritik führte. Seit den 1970er hat sie zahlreiche prominente und kontroverse Fälle in den USA vor Gericht vertreten und sich dabei auch für andere Minderheiten starkgemacht. 

Sie stellte sich auf die Seite der vom Komiker Bill Cosby vergewaltigten Frauen, sie ­bekämpfte Trump, als er eine Transfrau von einem Schönheitswettbewerb ausschloss, und sie organisierte Demonstrationen, um Spielzeug geschlechtsneutral zu vermarkten.

So freimütig die 76-Jährige über ihre Kämpfe spricht, so verschlossen ist sie, wenn es um ihr Privatleben geht. Sie erzählt freimütig von ihrer Vergewaltigung und der illegalen Abtreibung, an der sie fast gestorben wäre, aber sie verweigert die Aussage, wenn es um ihre Scheidung geht oder andere Aspekte ihrer Privatsphäre. Der Film vermittelt den Eindruck, als hätten sie all die Kämpfe einsam gemacht, so als bestünde ihr soziales Umfeld nur aus den gerade aktuellen Klientinnen, bevor sie weiterzieht, zum nächsten Kampf. Viele Hollywoodfilme leben vom Mythos eines einsamen Helden, der sich selbstlos für das Recht der Opfer einsetzt. Zu wissen, dass Gloria Allred aus Fleisch und Blut besteht und sich irgendwo da draussen für uns einsetzt, ist ein beruhigender Gedanke.

Dokumentarfilm «Seeing Allred». USA 2018. Netflix. Von Roberta Grossman, Sophie Sartain. Mit Gloria Allred. 

Religiöse Motive

Serie «The Sinner» Drama. Netflix. USA 2017. Von Derek Simonds. Mit Jessica Biel, Bill Pullman, Christopher Abbott. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Am Ufer eines Sees nimmt Cora (Jessica Biel) das Messer, mit dem sie eben noch die Birne für ihren vierjährigen Sohn geschnitten hat, steht auf und sticht einen Mann nieder. Panik bricht aus, die Polizei wird gerufen. Und die Täterin bleibt in Blut getränkt neben der Leiche sitzen. Warum hat sie das gemacht? Sie bestreitet die Tat nicht, aber eine Erklärung dafür hat sie nicht. Es hat irgendetwas mit der Musik zu tun, welche die Frau des Mannes kurz vor der Tat laut gespielt hat. Detective Ambrose (Bill Pullman) übernimmt den Fall. Er hat es im Moment auch nicht leicht. Da seine eigene Ehe in Scherben liegt, holt er sich etwas Erleichterung bei einer Domina. Er stürzt sich sofort mit Besessenheit in die Aufklärung des Falles, als könnte er sich selber und seine zerbröckelnde Ehe retten, wenn er denn nur die Antworten für den Ausraster der Frau fände. 

Die Serie beruht auf dem Roman «Die Sünderin» der deutsche Autorin Petra Hammesfahr. Die Geschichte dreht sich um die katholischen Motive von Sünde, Beichte und Selbstkasteiung. In Flashbacks erinnert sich Cora immer wieder an Erlebnisse in ihrem tiefreligiösen Elternhaus und an die schwerkranke kleine Schwester, mit der sie eine symbiotische Beziehung verband. Anfangs ist der religiös begründete Missbrauch in Coras Elternhaus kaum auszuhalten. Zusätzlich spielt «The Sinner» noch mit anderen Sujets wie einem Geheimklub und einem übergriffigen Freund. Aber wer bis zum Ende durchhält, wird belohnt. Denn schliesslich lässt die Serie die bekannten Beweggründe hinter sich und stellt eine eigenständige Theorie für Coras Verhalten auf, die tatsächlich zu überraschen und zu überzeugen vermag.

Vom Hass zerfressen

Nachdem ihre Tochter qualvoll ermordet wurde, rechnet eine Mutter (Frances McDormand) im Film «Three Billboards Outside Ebbing, Missouri» mit dem gesamtem Establishment ab.

Von Murièle Weber (FRAME)

Drei verlotterte Werbetafeln stehen auf einer nebligen Wiese im ­ländlichen Missouri. Mildred Hayes (Frances McDormand) will sie für etwas Neues nutzen, der Chef der Werbeagentur stimmt verängstigt zu. Denn mit Mildred will sich niemand anlegen. Einerseits aus Respekt, weil ihre Tochter vor einem Jahr vergewaltigt und angezündet wurde, andererseits aus Angst, weil die Frau jede Tür eintritt und jedem Teenager ans Schienbein kickt, wenn sie dadurch ihrem Ziel näher kommt: den Mörder ihrer Tochter zu finden. Dazu braucht sie auch die Plakatwände. In mannshohen Buchstaben schreibt sie die Frage an den örtlichen Sheriff (Woody Harrelson) darauf: «Noch immer keine Verhaftungen, Chief Willoughby?» Damit bringt sie die ganze Stadt gegen sich auf. In Mildreds Augen ist die Polizei darum untätig geblieben, weil sie zu beschäftigt damit ist, Schwarze zu foltern. Aber nicht nur die Polizei, vielmehr die ganze Gesellschaft ist von Rassismus und Hass zerfressen. Oder wie der Sheriff es sagt: «Wenn ich jeden Rassisten entliesse, blieben noch drei Schwulenhasser übrig.» Der Film ist brutal. Keine Frage. Aber diese Gewalt ist beim irischen Theaterautor und Regisseur Martin ­McDonagh nie unmotiviert. Sein Publikum soll in der alltäglichen Dunkelheit ein wenig Humor finden und einen kathartischen Prozess durchleben. Hinter der Wand aus Hass geht es um Trauer in ihren unterschiedlichen Formen. «Jeder im Süden kennt eine Form von Schmerz», hat der USA-Kenner und «Guardian»-Journalist Gary Younge die Südstaaten einmal treffend beschrieben. Das zeigt sich in dieser Kriminalkomödie in jeder Figur auf individuelle Weise, wobei niemand auf ein Klischee reduziert wird. Dadurch überrascht der Film den Zuschauer immer wieder aufs Neue und bleibt hochspannend. «Three Billboards», der am Zurich Film Festival gefeiert wurde, ist grandios in jeder Hinsicht, insbesondere Frances McDormand, der McDonagh die Rolle auf den Leib geschrieben hat. Vor allem aber ist es eine Liebeserklärung von McDonagh, dem Mann aus dem Norden, an die eigenwilligen Menschen im Süden. 

Dunkle Wälder

Serie «Dark». Netflix. Drama. Von Baran bo Odar. Mit Louis Hofmann, Oliver Masucci, Jördis Triebel, Maja Schöne.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Im deutschen Wald lauert das Grauen. Das wussten schon die Gebrüder Grimm. Nur ist es dieses Mal nicht der grosse böse Wolf, der unschuldigen Mädchen in roten Mäntelchen auflauert, sondern eine unbekannte Macht, die Knaben verschwinden lässt und deren Leichen mit geschmolzenen Augen und zerborstenen Trommelfellen wieder ausspuckt. Ausserdem scheint es dort irgendwo ein Wurmloch zum Jahre 1986 zu geben. Mindestens einer der Knaben reist in der Zeit zurück und wird mit Föhnfrisuren und Synthiepop konfrontiert.

Nach drei Folgen gibt es kaum Hinweise darauf, was in der Kleinstadt am Rande eines Waldes passiert ist. Es geht um vier Familien, die durch dunkle Geheimnisse miteinander verbunden sind. 1986 ist der erste Bub verschwunden, 2019, dreiunddreissig Jahre später, hat sich einer der Väter umgebracht und einen ominösen Brief hinterlassen, und es sind zwei weitere Knaben verschwunden. Ausserdem scheint ein Kernkraftwerk in alles verwickelt.

Die erste deutsche Serie von Netflix erinnert in einigen Punkten an «Stranger Things» und zieht auch Inspiration von den Nordic-Noir-Serien, ist aber individuell genug, um kein Abklatsch zu sein. Es sind typisch deutsche Figuren in der spiessbürgerlichen Pampa, die das Herz der Serie ausmachen. Die Produktion ist gelungen, sie ist stimmig mit ihrer Noir-Ästhetik und dem Spannungsbogen, den sie aufrecht erhält. Nur die grosse Anzahl der Personen überfordert einen anfangs.Wenn die Serie es schafft, all die aufgeworfenen Fragen am Schluss auch zu beantworten, dann ist es ein erstes Glanzstück, das Netflix in Deutschland produziert hat.

Keine Wahl

Zahira (Lina El Arabi) soll heiraten.

Freiheit gegen arrangierte Ehe: Das belgische Drama «Noces» ist unser Tipp für das Human Rights Festival in Zürich.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Bevor das Leben beginnt, soll es schon wieder vorbei sein. So jedenfalls empfindet das Zahira. Sie ist 18 und hat von ihren pakistanischen Eltern die Fotos von drei Männern bekommen. Sie darf wählen, so grosszügig sind die Eltern. Aber einen der drei muss Zahira in den nächsten Wochen heiraten, da gibt es keine Widerrede, denn sie ist schwanger von ihrem Freund. Aber der will sie nicht heiraten. Deshalb soll sie so schnell wie möglich abtreiben lassen, symbolische 2.50 Euro kostet das in Belgien. Aber Zahira will jung sein und auskosten, was das Leben in Europa zu bieten hat.

Die Geschichte klingt abgelutscht: Traditionelle und westliche Welt kollidieren miteinander, und die Frau ist das Opfer. Aber Regisseur Stephan Streker gibt sich sehr viel Mühe, die Motivationen der Figuren herauszuarbeiten: den Freiheitsdrang der Tochter, die Sorgen der Eltern, die Verzweiflung des Bruders. Streker sagt, er wollte eine griechische Tragödie schaffen, in der die Situation monströs ist, nicht aber die Figuren. Keinen Bösewicht solle es in seinem Film geben, so der Regisseur – obwohl am Ende das Böse dann doch in seiner menschlichen Form auftaucht. Vor allem aber zeigt «Noces», dass Immigration ohne Assimilation zu unerträglichen Spannungen führen kann, an der die zweite Generation schmerzhaft zerbricht.

Für Kameramann Grimm Vandekerckhove ist es der erste Film; trotzdem findet er immer wieder einen interessanten Blickwinkel auf die Geschichte, zum Beispiel, wenn er bei der Abtreibung lediglich Zahira zeigt und das Spitalpersonal bloss zu hören ist. Auch die Schauspielerin Lina El Arabi in der Hauptrolle ist ein Neuling. An ihr hängt der ganze Film; sie ist fantastisch in den lauten und den leisen Szenen und in allen dazwischen.

Für Grossstädter

Comedy «The Marvelous Mrs. Maisel». Amazon. USA 2017. Von Amy Sherman-Paladino. Mit Rachel Brosnahan, Michael Zegen, Alex Borstein and Tony Shalhoub.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Midge Maisel hat alles im Griff. Mit sechs wusste sie, dass sie Literatur studieren wird. Mit zwölf fand sie den perfekten Haarschnitt für sich. Als Braut schmiss sie nicht nur die ganze Veranstaltung, sondern hielt auch die Rede gleich selber. Und jetzt, als Hausfrau in den fünfziger Jahren in New York, brutzelt sie immer das passende Gericht, wenn hitzige Gemüter besänftigt werden müssen. Die Frau ist eine Wucht. Nur der Ehemann will nicht so richtig mitmachen. Er ist frustriert, weil es mit der Karriere als Stand-up-Komiker nicht klappen will, obwohl Midge ihm die Pointen schreibt. Da verlässt er sie und die beiden Kinder. 

Und wie in allen Serien von Amy Sherman-Paladino («Gilmore Girls») finden Frauen erst heraus, zu was sie fähig sind, wenn der Mann aus dem Haus ist. Frustriert über ihre Situation, steigt Midge selber auf die Bühne des kleinen verruchten Comedy-Klubs und zieht das Publikum auf ihre Seite. Als sie ihre Brüste zeigt, endet der Abend im Knast, wo sie einen professionellen Komiker trifft. Der Grundstein für eine wundervolle Karriere ist gelegt. Die langen Monologe, die feurigen Dialoge, der Wortwitz, die Konflikte zwischen Midge und ihren enttäuschten Eltern sowie das Gefühl, New York sei auch nur ein kleines Dorf mit exzentrischen Figuren, machen die Serie zu einer typischen Arbeit von Amy Sherman-Palladino. Die fünfziger Jahre sind wunderschön mit Pastellfarben in Szene gesetzt und vermitteln ein Gefühl von heiler Welt, in der selbst die heruntergekommene Gegend nur ein aufregender Spielplatz ist. Nach den «Gilmore Girls» ist das die neue Wohlfühlserie für die gestressten Gross­städter.

Narzisstischer Suchtrupp

Serie «Search Party». USA 2016. Von Sarah-Violet Bliss, Charles Rogers und Michael Showalter. Mit Alia Shawkat, John Early und Brandon Micheal Hall. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Die vier New Yorker Freunde sind narzisstische Egoisten, denen jedes Mittel recht ist, um im Mittelpunkt zu stehen. Elliott hat eine Firma gegründet, die Wasserflaschen verziert. «Und für jede Flasche, die hier verkauft wird, schenken wir einem afrikanischen Dorf eine», erklärt er voller Stolz auf einer Party. Seine Gesprächspartnerin guckt ihn entgeistert an: «Ganz offensichtlich sind das Problem in Afrika nicht die fehlenden Wasserflaschen, sondern das fehlende Wasser.» – «Und auch darum werden wir uns kümmern», entgegnet er entnervt. Als ihre ehemalige Studienkollegin Chantal verschwindet, an die sich kaum jemand erinnern kann, bekunden die Freunde tränenreich auf Twitter ihre Bestürztheit, inklusive #IamChantal. Und schliesslich machen sie sich ein Spiel daraus, herauszufinden, was mit ihr passiert ist.

Die erste Staffel wurde in den USA allseits hochgelobt, ist aber bis jetzt kaum im Mainstream angekommen. Ein schwerer Fehler. Denn die bitterböse Comedy-Serie ist vor allem eine genaue Beobachterin unserer Zeit. Treffender hat noch keine andere Serie die Auswüchse der Beileidsbekundungen im Internet inszeniert oder die voyeuristische Obsession des Publikums mit True-Crime-Serien in den Mittelpunkt gestellt. So oberflächlich die Figuren sind, so komplex sind die angesprochenen Fragen nach der Moral unserer Gesellschaft, dem Charakter der Millennial-Generation oder der Schwierigkeit, sich verletzlich zu zeigen. Die erste Staffel gibt’s auf Amazon, die zweite beginnt heute Sonntagabend auf dem US-Sender TBS.  

Abgelutschte Geschichte

Serie «Alias Grace». USA 2017. Von Sarah Polley. Mit Sarah Gadon, Edward Holcroft, Anna Paquin und David Cronenberg.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Die Literatur des 19.Jahrhunderts ist voll von diesen Geschichten: Oliver Twist, der im Waisenhaus hungert, Jane Eyre, die ungerecht behandelt wird und ihre einzige Freundin an den Typhus verliert, oder Effi Briest, die nach ihrem Ehebruch verstossen wird. 1996 verarbeitete auch die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood das Schicksal einer Rechtlosen in ihrem feministischen Roman «Alias Grace». Der realen Dienstmagd Grace Marks wurde 1843 vorgeworfen, zusammen mit dem Stallburschen ihren Arbeitgeber und seine Hausangestellte ermordet zu haben. Dafür kam sie ins Gefängnis. Aber bis heute ist nicht klar, ob sie nur zur Tatzeit anwesend oder aktiv am Mord beteiligt war. Atwood schrieb eine fiktive Version der Geschehnisse, die nach «The Handmaid’s Tale» die zweite serielle Verfilmung ihres Werkes ist. Erzählt wird Grace’ Geschichte in Rückblicken in Form von sechs Therapiesitzungen, in denen Grace (Polley) ihrem Psychiater (Holcroft) von ihrem schweren Leben erzählt. Die sechs Teile entsprechen etwa drei Filmen: Der erste widmet sich der Immigration der irischen Familie nach Kanada, der zweite dreht sich um die Arbeits- und Sozialsituation im kanadischen Toronto, und im dritten Teil kommt der feministische Unterton voll zum Tragen, wenn es darum geht, ob einer der männlichen Ärzte oder sie selber die Deutungshoheit über ihre Geschichte hat. Wer schon immer etwas über kanadische Geschichte wissen wollte, ist hier richtig. Wer genug hat von den immergleichen Geschichten über das 19.Jahrhundert, sollte einen Bogen um die Serie machen. 

Die Frau und der Krieg

Nada (Golshifteh Farahani) erinnert sich im alten Haus an die Vergangenheit.

In «Go Home» kehrt eine Frau in den Libanon zurück, wo einst ihre Familie lebte – bis der Bürgerkrieg ausbrach. Welche Rolle spielte damals ihr Grossvater? 

Von Murièle Weber (Züritipp)

Verwüstet und etwas verloren steht das Haus auf einer kleinen Anhöhe in dem libanesischen Dorf. Ähnlich einem Gerippe. Nada (Golshifteh Farahani) kehrt in dieses Haus ihrer Familie zurück, aus dem sie der Bürgerkrieg der Siebziger und Achtziger vertrieben hat. Inzwischen haben im Garten fremde Leute ihren Unrat hinterlassen. Die Wände sind mit obszönen Graffiti verschmiert, und am Boden klebt etwas, das Blut sein könnte.

Nada putzt und mistet aus und versucht dabei an eine Vergangenheit anzuknüpfen, zu der sie die Verbindung vor Jahren verloren hat. Nadas Kindheitserinnerungen drehen sich nicht nur um ihre Abenteuer mit dem kleinen Bruder, sondern immer auch um die Frage, was mit dem verschwundenen Grossvater passiert ist. Und je länger Nada in dem Haus verweilt, um so weniger kann sie ihrem eigenen Gedächtnis trauen. War der Grossvater gut, und wurde er von seinen Feinden verschleppt? Oder war er selbst ein Verbrecher im Bürgerkrieg und ist geflüchtet? 

Aufgewachsen ist die französisch-libanesische Regisseurin Jihane Chouaib in Mexiko, nachdem ihre eigene Familie 1976 aus Beirut flüchtete. Für ihr Studium kam Chouaib nach Frankreich und lebt nun dort. «Die Berge von Abfall im Garten, die Nada versucht zu entsorgen, sind wie Deckel, die auf den Erinnerungen an den Krieg platziert wurden», erzählt Chouaib. «Ich wollte dieser kollektiven Amnesie der Libanesen entgegentreten.» Der Film adressiert dieses Trauma mit ruhigen, oft metaphorischen Bildern. Egal, wie oft Nada die Wände putzt und den Boden schrubbt oder den Garten von Unrat befreit, sie bleibt fremd in diesem Dorf und bei diesen Leuten. Niemand will ihr dabei helfen, herauszufinden, was mit dem Grossvater geschah. 

«In diesem Land verschwanden während des Kriegs 17’000 Menschen, die wie Geister umherwandeln. Es ist unmöglich, um sie zu trauern. Deshalb sucht Nada nach dem Leichnam des Grossvaters unter dem Gerümpel.» Chouaib geht nicht nur auf die Auswirkungen ein, die ein Krieg auf die Psyche eines Landes hat. Sie zeigt auch, was der Bürgerkrieg mit den Leuten macht, die geflüchtet sind und jetzt zurückkehren: Sie erleben Entfremdung und die Aussichtslosigkeit, im Ursprungsland wieder ein Gefühl der Heimat herzustellen. Auch sie werden zu wandelnden Geistern, denen Chouaib hiermit ein Denkmal gesetzt hat.

Wer malt Penisse auf Autos?

Serie «American Vandal». USA 2017. Regie: Dan Perrault, Tony Yacenda. Mit Tyler Alvarez, Griffin Gluck. Auf Netflix.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Dass ein Genre sich etabliert hat, merkt man spätestens, wenn es parodiert wird. «Scream» revolutionierte 1996 den Horrorfilm und begründete ein eigenes Genre, die des Meta-Horrorfilms, worin die Figuren die Regeln des Genres kennen und doch dem Mörder nicht entkommen. Ab 2000 wurde es von der «Scary Movie»-Reihe parodiert. Der Podcast «Serial» hat 2014 über mehrere Folgen hinweg einen Mordfall aufgerollt und ist der Frage nachgegangen, ob der verurteilte Mörder wirklich schuldig ist. Viele weitere Serien folgten, unter anderem «Making a Murderer». Nun parodiert «American Vandal» diese rückwärtsgewandte Mördersuche.

An der Hanover High School, die verdächtig nach «Hangover» klingt, werden auf Autos von Lehrern Penisse gesprayt. Sofort steht der Schuldige fest: Jimmy Tatro, Bad Boy der Schule. Aber zwei Jungen des Videoklubs glauben das nicht und machen sich daran, den Fall nochmals aufzurollen. Dabei entdecken sie viele kleine, schmutzige Geheimnisse ihrer Mitschüler.

Die Serie ist genial. Die Regisseure Dan Perrault und Tony Yacenda haben bereits Erfahrungen mit Satire aus Videos für «Funny or Die» und «College Humor». Aber auch die bestgeschriebene Parodie funktioniert nur, wenn die Schauspieler den richtigen Ton treffen und ihre Rollen ernsthaft spielen. Obwohl die meisten noch sehr jung sind, gelingt ihnen das in «American Vandal» phänomenal. Ob man das Genre kennt oder nicht, spielt keine Rolle. Die Parodie ist treffend und bietet für Insider viele Seitenhiebe auf Vorbilder. Aber die Serie funktioniert auch einfach wie ein Krimi, der sich um die Frage dreht, wer der Täter ist.