Patti Cake$

Pattie Cake$

Von Murièle Weber (FRAME)

Pattis Leben ist eines von der üblen Sorte: Das Grossmaul (Danielle Macdonald) wohnt im schäbigen New Jersey, der Vater ist weg, die Mutter (Bridget Everett) trinkt viel und zeigt gerne ihre Brüste; ihre Abende enden meist mit dem Kopf über der Kloschüssel – in der Bar, in der Patti arbeitet. Kommt hinzu: Patti ist so richtig fett. «Du bist die weisse Precious», sagt ein junger Mann, den sie mag, zu ihr, bevor er ihr eine Kopfnuss verpasst. Aber Patti hat Träume so gross wie Wolkenkratzer. Und sie kann rappen. Deshalb träumt sie vom Übervater des Genres, der sie zur neuen Rap-Queen küren soll. Dafür übt sie regelmässig mit ihrem besten Freund Jheri und hofft auf den Durchbruch. «Patti Cake$» liegt inhaltlich auf halber Strecke zwischen «Scott Pilgram vs. the World» (2010) mit seinen jugendlichen Heldenphantasien und «8 Mile» (2002) mit seiner Vom-Tellerwäscher-zum-Rapmillionär-Geschichte. Man kennt solche Storys, aber das macht nichts. Denn «Patti Cake$» ist so charmant, dass Film und Figuren jedes Herz erwärmen. Die grandiosen Raptexte stammen von Regisseur Geremy Jasper selbst, Danielle Macdonald rotzt sie runter wie ein Profi und trifft auch schauspielerisch immer die richtige Note. Während Patti noch für Ruhm und Ehre schuften muss, hat Macdonald es geschafft.

Frauenfeindliche Welt

Serie «Top of the Lake». Australien, seit 2013. Von Jane Campion. Mit Elisabeth Moss, Nicole Kidman, Gwendoline Christie, David Dencik. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Vier Jahre mussten die begeisterten Fans von «Top of the Lake» auf die zweite Staffel ihrer Serie warten. Die vielgepriesene Neo-Noir-Ästhetik ist die gleiche geblieben, nur die Geografie hat sich geändert: Die düsteren Wälder Neuseelands wurden durch schäbige Häuserzeilen in Sydney ersetzt.

Nachdem die Polizistin Robin (Elisabeth Moss) in der ersten Staffel das Verschwinden eines 12-jährigen schwangeren Mädchens aufgeklärt hat, ist sie nun in Sydney gelandet – und gleich mit einer weiblichen Leiche konfrontiert. Diese wurde in einem Reisekoffer im Meer entsorgt. Bald stellt sich heraus: Die tote Asiatin arbeitete in einem Bordell. Dort trifft die psychisch angeschlagene Polizistin auf den undurchsichtigen ehemaligen Uni-Dozenten Puss (David Dencik). Der 42-jährige Chauvinist will die 17-jährige Tochter einer Feministin (Nicole Kidman) heiraten, das treibt deren liberale Eltern verständlicherweise in den Wahnsinn.

Wie schon in der ersten Staffel geht es auch in der zweiten um die Objektivierung der Frau in der westlichen Gesellschaft. In der ersten Folge sitzen Männer in einem Café und benoten die Prostituierten, mit denen sie Sex hatten. Die eine bläst ganz gut, aber es hat kaum Parkplätze vor ihrem Haus, also gibt es keine gute Note. Als einer dieser Männer versucht, mit der Kellnerin des Cafés einen freundschaftlichen Umgang zu pflegen, wird diese Annäherung von der Gruppe sabotiert. Damit zeigt Regisseurin Jane Campion, dass auch Männer Opfer dieser grausamen Objektivierung sind. Denn auch ihnen wird verwehrt, was sie sich insgeheim wünschen: echte Verbundenheit mit einem anderen Menschen. 

Hure oder Heilige?

In dieser Verfilmung eines englischen Schauerromans «My Cousin Rachel» verdreht eine Frau den Männern den Kopf – und lehrt sie zugleich das Fürchten.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Hat sie es getan? Hat sie ihn umgebracht? Der Verdacht wird früh geäussert und hängt wie ein Schatten über allen weiteren Szenen. Dabei ist Rachel (Rachel Weisz) eine grossartige Frau: hübsch, mit einer einnehmenden Persönlichkeit. Intelligent und unkompliziert. Ein Mensch, den man gerne um sich hat. Vielleicht etwas zu stark freiheitsliebend für das 19. Jahrhundert. Aber macht nicht gerade das Rachels Reiz aus? Oder macht sie gerade das zur Mörderin?

Nach dem Tod seiner Eltern wächst Philip (Sam Claflin) bei seinem eigenbrötlerischen Cousin Ambrose in einem reinen Männerhaushalt auf. Als dieser krank wird, raten ihm die Ärzte, ins südliche Klima zu ziehen. In der Ferne heiratet Ambrose überraschend seine verwitwete Cousine Rachel. In seinen Briefen an Philip beschreibt er sie zunächst als «die Quelle all meines Glücks», aber kurze Zeit später verdächtigt er sie als Verursacherin seines schlechten Gesundheitszustandes. Als Ambrose stirbt, ist für Philip die Sache klar. Aber dann zieht Rachel zu Philip nach England. Konfrontiert mit ihrer einnehmenden Persönlichkeit, ist Philip nun überzeugt, dass Ambrose sich geirrt hat. Solch ein göttliches Wesen kann keine Mörderin sein. Doch dann wird Philip selbst krank.

Nie nimmt die Geschichte, nach dem gleichnamigen Roman von Daphne du Maurier («Rebecca»), die Perspektive der Frau ein. Man sieht Rachel stets durch die Augen der Männer, fast so, als würde sie nur in deren Vorstellung existieren. Ist sie eine Heilige, die ihren kranken Mann bis zum Tode aufopferungsvoll gepflegt hat, oder eine Hure, die ihn vergiftet hat, um mit ihrem Liebhaber an sein Geld zu kommen

In der englischen Schauerliteratur sind die Frauen so unergründlich wie die Natur und auch genauso schlecht zu bändigen. In wunderschönen Bildern fängt Regisseur Roger Michell («Notting Hill») Frau und Landschaften ein. Rachel Weisz gibt dafür eine ihrer besten Darbietungen, nimmt das Publikum für sich ein und lässt es gleichzeitig zweifeln. Aber wichtig ist die Antwort auf die schwelende Frage ohnehin nicht. Denn Reiz und Erotik der Rachel liegen genau in der Ungewissheit.

Sie feiern die Nacht

Bild: flickr / Vladimir

Die New Yorker Hipster-Band Hercules & Love Affair legen mit «Omnion» ein wunderbares Album vor, das Lust zum Tanzen macht.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Andrew Butler macht Musik für die Nacht: tanzbar, wehmütig und mit einem tragenden Beat. Die Stücke des kreativen Kopfes der US-Band Hercules & Love Affair beschwören die farbigen Nächte der Discozeit des New Yorker Nachtklubs Studio 54 herauf, als die Party endlos erschien und alle irgendwie gleich waren. Aber so ganz scheint er sich selber nicht zu glauben, denn immer schwingt auch eine Melancholie mit, die nur allzu menschlich ist: Wie wenn im Rausche der Feier plötzlich die Lichter angingen und jeder unter dem zerlaufenen Make-up des anderen die eigene Unsicherheit widerspiegelt sähe. So klingt das Titelstück «Omnion», in dem die Amerikanerin Sharon Van Etten mit bald fragiler, bald kräftiger Stimme an eine übersinnliche helfende Macht appelliert.

Für den Tonkünstler Andrew Butler ist die Nacht ein Versprechen, wie es wohl jeder Nachtschwärmer gerne glauben möchte. Aber für den schwulen Jungen aus einer problemreichen Familie war sie vor allem auch Zufluchtsort und Gegenwelt. Bereits mit fünfzehn Jahren legte er als DJ in einer Lederbar in seiner Heimatstadt Denver auf. Als das Lokal von der Polizei kontrolliert wurde, versteckte er sich in der Toilette. Diese Kindheit hat er im Track «Blind» verarbeitet, den Anohni von Antony and the Johnson einsang und der 2008 von verschiedenen Musikzeitschriften zum besten Song des Jahres gekürt wurde.

Butler hat immer Persönliches in seine Musik einfliessen lassen und die vielen Musiker, die auf seinen Alben mitwirken, zu gleichem ermutigt. 2011 verarbeitete John Grant in «I Try To Talk To You» auf dem Vorläuferalbum «The Feast of the Broken Heart» seine HIV-Ansteckung. In «Fools Wear Crowns» besingt Butler seine eigene Drogen- und Alkoholsucht und muss sich selber eingestehen, dass er ein Idiot war, als er deswegen über Monate immer wieder in die Notaufnahme eingeliefert wurde. Es ist der einzige Song, den Butler auf dem neuen Album «Omnion» selber singt. Und dieses Stück berührt am meisten, nicht der Thematik wegen, sondern weil die Musik seine heiser gesungene Beichte nur sanft pulsierend unterstützt, aber nie überdröhnt. 

Anders als auf dem Vorläufer experimentiert Butler auf seinem vierten Album stärker. Er bleibt seinem Mix aus Untergrund-Disco der siebziger und frühem Chicagoer House der achtziger Jahre treu. Aber in «Controller» webt er auch Synthesizerklänge aus New-Wave-Zeiten hinein. Faris Badwan, der Sänger der Garage-Rock-Band The Horrors, singt die Zeilen zu gleichen Teilen verführerisch und dominant. So als wolle er Beherrscher und Unterworfener gleichzeitig sein. 

In «Rejoice» setzt Butler auf die harten Beats der Industrial Music. Dazu passt die kräftige Stimme von Rouge Mary, dem zweiten Mitglied der Band, die über die stürmischen Klänge kratzt. In «Are You Still Certain» hat Butler mit der libanesischen Gruppe Mashrou’ Leila zusammengearbeitet, die der Musik arabische Worte und einen orientalischen Singsang verleiht, die an durchtanzte Nächte in Beirut erinnern. 

Grossartige Kunst ist selten einseitig. Und so lässt sich auch «Omnion» auf zwei Arten geniessen. Die Musik der New Yorker hält ihr Versprechen, sich tanzend mit anderen schwitzenden Körpern in der bunten Finsternis zu verlieren, aber wenn das Licht angeht, lässt sie einen nicht allein und hat noch immer etwas von Bedeutung zu erzählen.

Soul in den Rädern

Edgar Wright hat seinen Lieblingssongs dem Actionfilm «Baby Driver» auf den Leib geschrieben.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Zum brechend harten Sound der Punkband The Damned springen die drei Bankräuber aus dem Auto und auf einen Geldtransporter. Genau zum Einsatz des Gesangs schlagen die Gangster den Wächter nieder, bevor sie mit Geld beladen zum Auto zurückstürmen und die Flucht antreten. Regisseur und Drehbuchautor Edgar Wright («Shaun of the Dead») hat jede Szene bis ins letzte Detail durchchoreografiert, sodass alle Handlungen genau zur Musik passen. Während zwanzig Jahren hat er sich zu seinen Lieblingssongs Überfallsund Verfolgungsszenen ausgedacht, die im Rhythmus der Songs inszeniert und geschnitten werden. Das Skript hat er der Musik quasi auf den Leib geschrieben. So ist «Baby Driver» entstanden, der zu zeigen weiss, was grosse Filmkunst erreichen kann: die himmlisch-perfekte Symbiose von Bild und Ton.

Erzählt wird die Geschichte von Baby (Ansel Elgort, «The Fault in Our Stars»), der vom kriminellen Superhirn Doc (Kevin Spacey) als Fluchtwagenfahrer für Banküberfälle angeheuert wird. Weil er aber an einem schlimmen Tinnitus leidet, hört sich Baby über Kopfhörer konstant Musik an, passend zur jeweiligen Situation. Und so tänzelt er geschmeidig zum Soulstück «Harlem Shuffle» von Bob & Earl durch die Strassen Atlantas und flüchtet vor der Polizei zum rockoper-artigen «Hocus Pocus» der Band Focus.

Aber leider hat Wright bei der Entwicklung der Handlung nicht die gleiche Sorgfalt angewendet: Eine unmotivierte Liebesgeschichte zwischen Baby und Debora (Lily James, «Downton Abbey») soll eine Entscheidung Babys gegen Filmende glaubwürdig machen, wirkt aber genauso unverständlich wie die Verwandlung des eiskalten Doc zur väterlichen Beschützerfigur.

Rückkehr der Dilettanten

Im Film «Guardians of the Galaxy Vol. 2» machen diese tollpatschigen Helden, beim Versuch, das Universum zu retten, vor allem eines: alles kaputt.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Nicht weniger als das Schicksal der Menschheit liegt auf ihren Schultern. Schlechter hätte es die Menschheit kaum treffen können – legt die Söldnertruppe um Peter Quill alias Star-Lord (Chris Pratt) in ihrer Inkompetenz doch gerne alles in Schutt und Asche, was ihnen vor den Bug des lottrigen Raumschiffs kommt. Wenn sie am Schluss den Tag doch retten, ist eher Zufall; die Schicksalsgöttin scheint es irgendwie gut mit ihnen zu meinen. Wahrscheinlich hat das wankelmütige Weib das Gefühl, den Sonderlingen etwas zu schulden nach dem Horror, den die einzelnen Mitglieder durchgemacht haben: Folter, Tierversuche, Tod und Entführung.

Aber jetzt nimmt es die Gruppe mit allen auf. Zuerst sollen sie einer genetisch veränderten ausserirdischen Rasse gegen einen gefrässigen Riesenwurm helfen – woraufhin aber der diebische Waschbär Rocket (Stimme: Bradley Cooper) den endlosen Zorn der Überwesen auf die Truppe zieht. Dann werden sie in eine Meuterei jener Bande verwickelt, die Quill damals von der Erde entführt hat. Nebula (Karen Gillan), die Schwester der Amazone Gamora (Zoe Saldana), spielt sich auch in den Mittelpunkt. Und schliesslich taucht noch der liebe Papa (Kurt Russell) von Quill auf. Wie das so ist: Die Familientreffen bringen allerlei emotionalen Zündstoff mit sich. Wieso hast du meine Mutter verlassen, warum willst du mich immer umbringen? Das Übliche eben. Die fünf Gefühlsphobiker müssen sich deshalb mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen und sich gleichzeitig fragen, wer sie in Zukunft sein wollen. Zum Glück bringt der Soundtrack genug Gelegenheit, sich tänzelnd aus der Situation zu schleichen.

Oder da muss Rocket mitten im Laserbombardement dem neu gewachsenen und deswegen noch kleinen, sprechenden Baum Groot (Stimme: Vin Diesel) erklären, welchen Knopf er auf keinen Fall drücken darf, damit sie nicht alle in die Luft fliegen. Als er schliesslich Quill nach einem Klebstreifen fragt, um den tödlichen Knopf abzukleben, brüllen die beiden sich minutenlang an. «Ihr seid keine Freunde, ihr schreit euch immer an», stellt Nebula fest. «Richtig, wir sind eine Familie», lautet die Antwort.

«Seid bescheiden!»

Kendrick Lamar während einem Konzert 2013. Bild: flickr

Das sehnlich erwartete neue Album des Rappers Kendrick Lamar ist da. Es überzeugt mit hitzigem Hip-Hop und dringlichen Texten. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Noch ist das Konzeptalbum nicht tot. Auch wenn der Rapper Drake, der ganz auf das Geschäftsmodell Streaming setzt, gerade emsig am Sarg für Tonträger als Gesamtkunstwerke bastelt. Aber Kendrick Lamar als bester zeitgenössischer Rapper hält erfolgreich und ohne grosse Mühen die Stellung. Das mag daran liegen, dass sich Lamar selber als Schriftsteller sieht. Seine Alben hören sich deshalb an wie vertonte Gedichte. 

Auf seinem neuesten, «Damn», finden sich thematische Pendants. Der alles verzehrenden «Lust» wird die beständige «Love» entgegengesetzt, und auf «Fear» folgt «God». Vor allem aber spinnt Lamar seine Erzählung weiter. Während er sich auf seinem zweiten Album, «Good Kid, M.a.a.d. City», fragte, wie er es aus Compton, dem Ghetto von Los Angeles, heraus schaffen solle, stürzte ihn der folgende Reichtum auf «To Pimp a Butterfly» in eine Identitätskrise. Gleichzeitig war es auch eine Brandrede auf die Lebensbedingungen der Afroamerikaner. Auf «Damn» hat er seine Rolle als Sprecher seiner Community angenommen. «‹To Pimp a Butterfly› sprach das Problem an, das will ich nun nicht mehr machen», sagte Lamar der «New York Times». «Lernen, etwas zu akzeptieren, und nicht wegrennen. So will ich, dass sich das Album anfühlt.»

Während der 29-Jährige seinen Blick zuvor auf die Staatsgewalt und die Versuchungen von aussen gerichtet hatte, so konzentriert er sich nun auf sich selber und sein nahes Umfeld. In «DNA» erzählt er zu einem packenden Beat von seiner Herkunft als Afroamerikaner. Im Video zur Single versucht Don Cheadle als Polizist dem verhafteten Lamar durch seine DNA etwas nachzuweisen, bevor er selber dessen Sicht einnimmt und rappt: «I got loyalty, got royalty inside my DNA» («ich habe Loyalität und königliche Herkunft in meiner DNA»), aber auch sardonisch: «Sex, money, murder – our DNA.» Für diese Haltung, das Problem nicht nur in einem korrupten politischen System zu suchen, sondern mit einem ehrlichen Blick auf sich selber zu beginnen und auch Ängste und Zweifel zuzulassen, wurde er in der Vergangenheit des Öfteren kritisiert.

Nach dem Blick auf seine Community nimmt er es in «Humble» mit der Rap-Gemeinschaft auf. Im Videoclip zeigt Lamar, wie das Model ohne Make-up aussehen würde, und rappt dazu: «I’m so fuckin’ sick and tired of the Photoshop / Show me somethin’ natural like ass with some stretch marks» («Ich habe genug von Photoshop, zeig mir etwas Natürliches wie einen Hintern mit Dehnungsstreifen»). Dann schmettert er mehrfach «be humble» («seid bescheiden») hinaus.

Es ist ein einfaches Album, das ohne viel Brimborium auskommt, auch wenn Lamar auf raffinierte Weise Stimmen montiert. Es gibt keinen Begleitfilm, und die Musik funktioniert dieses Mal ohne den grossartigen Jazz des letzten, sondern setzt ganz auf Hip-Hop-Beats, auf den Soul der 1970er Jahre und auf Elektro-Elemente. Einfach Kendrick, sein Blick auf die Welt und seine berauschende Fähigkeit, Worte einzusetzen. Genau deshalb kann das Album allen Ansprüchen standhalten. Damit beweist Lamar, dass er der Beste seiner Zunft ist. Da ist etwas Häme in Richtung Drake durchaus angebracht. «My left stroke just went viral», liess er ihn wissen («Mein linker Hieb hat sich online gerade wie ein Virus verbreitet»). Und: «Get the fuck off my stage.» Recht hat der Mann. 

Die Rolle des Zeugen

James Baldwin am Albert Memorial. Bild: Wiki Commons

Der haitianische Regisseur Raoul Peck erzählt im Film «I Am Not Your Negro» vom afroamerikanischen Autor James Baldwin. Dieser analysierte die Rolle der Schwarzen im Amerika.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Ein afroamerikanisches Mädchen wird angespuckt auf dem Weg in eine weisse Schule. Dieses Foto hing 1957 an allen Zeitungsständen in Paris und veranlasste Autor James Baldwin (1921–1987) zur Rückkehr in die USA. «Jeder leistete seinen Beitrag, und das wollte ich auch tun», schrieb er. In den Südstaaten begleitete er deshalb Bürgerrechtsaktivisten und entdeckt dabei seine Rolle: «Als Zeuge musste ich mich so frei wie möglich bewegen, um die Geschichte zu schreiben und an die Öffentlichkeit zu bringen.» Deshalb schloss sich der Afroamerikaner nie einer politischen Bewegung an, sondern war in Kontakt mit vielen Aktivisten: Martin Luther King, Malcolm X oder Medgar Evers.

Über diese drei wollte Baldwin ein Buch schreiben, das aufgrund seines Todes leider ein Fragment blieb. Dieses nahm der haitianische Regisseur Raoul Peck als Ausgangspunkt seines Dokumentarfilms. «Ich wusste, ich wollte niemand anderen zu Wort kommen lassen als Baldwin. Niemand, der ihn interpretiert. Ich wollte in seinem Kopf sein», erzählt Peck. Deshalb bat er Samuel L. Jackson darum, Baldwins Texte vorzulesen, wo der Autor mithilfe von Archivmaterial nicht gleich selbst spricht. Dabei konzentriert sich Peck auf Baldwins Texte über die Rolle der Schwarzen und ignoriert leider dessen Schaffen über Homosexualität. «Die Geschichte der Schwarzen in Amerika ist die Geschichte von Amerika, und es ist keine schöne Geschichte», schrieb Baldwin. Peck unterlegt das mit Grossaufnahmen von gelynchten Menschen. Zur Visualisierung von Baldwins Worten benutzt er aber auch Stereotype aus Comics, Werbungen und Filmausschnitte: die dicke schwarze Mammy, die über einen Kühlschrank staunt, oder den distinguierten, älteren schwarzen Diener, der seinem Herrn einen Drink reicht. Und Peck zeigt Sidney Poitier, der sich am Schluss von «The Defiant Ones» (1958) für seinen weissen Mitgefangenen aufopfert. «Dem weissen Publikum sollte damit vermittelt werden, dass die Schwarzen ihnen trotz aller Verbrechen nicht böse waren», analysiert Filmfan Baldwin.

Er ist eine wichtige, manchmal schon fast vergessene amerikanische Stimme, einer, der genau beobachtete und scharfsinnig berichtete. Raoul Pecks Entscheidung, sich vollständig auf Baldwins Worte zu verlassen, war richtig.

Affe braucht Liebe

Vor über achtzig Jahren kletterte King Kong erstmals auf einen Wolkenkratzer, jetzt kommt er im Film «Kong: Skull Island» einmal mehr in einer neuen Version auf die Leinwand. Über den berühmten Affen und seine Frauengeschichten.

Von Murièle Weber (Züritipp)

Zu Rockmusik der 60er-Jahre lassen US-Soldaten Bomben aus Helikoptern fallen, unter ihnen geht der Dschungel in Flammen auf. Für einen Moment wähnt man sich in «Apocalypse Now» (1979). Das auch später, als sich die Crew zu einer Reise in einem lottrigen Boot auf einem Fluss aufmacht. Aber nein, wir sind im neuesten King-Kong-Film. Der Riesenaffe ist ziemlich erbost, weil die Bomben die bösartigen Monstereidechsen aufgeweckt haben, die ihn immer angreifen. Deshalb holt er die Helikopter mit einem Faustschlag vom Himmel. Das wiederum kann Colonel Packard (Samuel L. Jackson) nicht auf sich sitzen lassen und zieht in die Schlacht gegen den Primaten.

Packard wurde von einem Wissenschaftler (John Goodman) gleich nach Ende des Vietnamkrieges 1973 zu dieser Erkundung aufgeboten. Und nachdem man den Colonel schon den Vietnamkrieg nicht gewinnen liess, will er zumindest den Affen besiegen. Der private Sicherheitsmann Conrad (Tom Hiddleston) und die Kriegsfotografin Weaver (Brie Larson) versuchen, Packard vom Affenmord abzuhalten, denn ohne Kong würden die Echsen die Erde übernehmen.

Die Geschichte um King Kong war schon immer beides: ein Monsterfilm und eine Liebesschnulze. 1933 beim ersten Kong-Film war das Publikum begeistert vom grossen Affen, der mit Dinosauriern rang, trotzdem ging vor allem der Schluss in die Populärkultur ein: Der Riesenaffe flüchtet aus der Gefangenschaft und hilft der in Bedrängnis geratenen blonden Ann (Fay Wray), indem er mit ihr auf das Empire State Building klettert, wo ihn eine Fliegerstaffel vom Hochhaus schiesst. Das führt zu einem der bekanntesten Filmzitate: «Die Schönheit tötete das Biest.»

Dieser Schluss rührte den kleinen Peter Jackson als Kind derart zu Tränen, dass es seine lebenslange Kong-Liebe begründete und ihn zu seinem «King Kong»-Remake von 2005 inspirierte. Dafür verwendete er auch Ideen von Kong-Erfinder Edgar Wallace, die 1933 unter den Tisch gefallen waren. Besonders aber betonte Jackson in faszinierenden Bildern die zärtlich-platonische Liebe zwischen der Frau (Naomi Watts) und dem Affen. Die-Schöne- und-das-Biest-Thematik wiederum griff das erste King-Kong-Remake von 1976 in plumper, übersexualisierter Weise auf, als der Affe Dawn (Jessica Lang) mit dem Fingernagel das Kleidchen vom Körper kratzen will.

Zur Darstellung des Riesenaffen gehört auch die jeweils aktuelle Filmtechnik. Der erste Kong wurde 1933 auf heute noch beeindruckende Art durch Stop-Motion zum Leben erweckt. 1976 setzten die Filmemacher zur allgemeinen Erheiterung auf einen Schauspieler im Gorillakostüm. Jackson setzte seine Erfahrungen mit dem Motion-Capture-Verfahren ein, die er bei der Arbeit an Gollum in «The Lord of the Rings» gewonnen hatte. Der neueste Riesenaffe schliesslich entstand vollständig am Computer.

In «Kong: Skull Island» bleiben die Menschen allesamt flache Abziehbildchen, abgesehen von John C. Reilly, der eine seiner gewohnten witzigen Figuren zum Bestem gibt. Nimmt man noch die überlangen Kampfszenen zwischen Affe und Eidechsen hinzu, denkt man bald sehnsüchtig an Jacksons Arbeit zurück. Wer trotzdem noch nicht genug hat: «Kong: Skull Island» ist nach «Godzilla» (2014) der zweite Teil der sogenannten Monsterverse-Reihe. 2019 wird sie mit «Godzilla: King of the Monsters» fortgesetzt, und 2020 folgt dann die finale Monsterprügelei in «Godzilla vs. Kong».

Krankes Kurhotel

Schweizer, die nur Hochdeutsch sprechen: Der neue Film von Gore Verbinski «A Cure for Wellness» nimmts nicht so genau und ist auch sonst eher ein Ärgernis.

Von Murièle Weber (Züritipp)

«Wir alle leiden an einer Krankheit, die wie Galle auf der Zunge brennt», liest der junge Manager Lockhart (Dana DeHaan) aus einem Brief seines Chefs vor. Dieser weilt seit Monaten in den Wellnessferien in den Schweizer Berger, wo er in den Genuss einer ominösen Kur kommt, und will nicht mehr heimkehren. Weil der Chef aber für eine anstehende Firmenfusion benötigt wird, soll der ehrgeizige Lockhart ihn zurückzuholen.

Am Kurort angekommen, wird Lockhart bewusst: Hier stimmt etwas nicht. Er darf den Chef nicht sehen, und um das sagenhafte Rezept der angepriesenen Kur wird ein grösseres Tamtam gemacht als um das von Ricola und Appenzeller Käse. Nach einem Unfall wacht Lockhart schliesslich im Kurhotel als Patient wieder auf und wird auf Anweisung von Dr. Volmer (Jason Isaacs) im Schloss festgehalten.

Würden sich die europäischen Nationen endlich zur einheitlichen EU zusammenraufen, müssten sich die Amerikaner nicht mehr so viele Länder merken. Das scheint für sie eine unüberwindbare Herausforderung zu sein. Nur so lässt sich erklären, weshalb das Pflegepersonal und die Dörfler der nahen Ortschaft nicht nur akzentfreies Hochdeutsch sprechen, sondern sich auch als sadistische Teutonen herausstellen, die Gegenstände aus dem deutschen Kaiserreich sammeln. Ansonsten erscheint Europa als maroder Inzesthaufen. Denn das Kurhotel war früher das Schloss eines Schweizer Barons, der seinen Familienzweig rein halten wollte und deshalb seine Schwester heiratete. Als diese den deformierten Fötus nicht austragen konnte, suchte er nach einer Kur. 200 Jahre später profitieren davon alte amerikanische Geldsäcke, die vor allem an ihrem Ehrgeiz und der Gier leiden.

Das hätte vielleicht ein guter Film werden können: wenn Drehbuchautor Justin Haythe einige hochpeinliche Stellen gestrichen hätte; wenn die Schweiz nicht in Deutschland liegen würde; wenn sich Regisseur Gore Verbinski («The Ring») hätte entscheiden können, ob das ein Horrorfilm, ein Krimi oder ein Thriller sein soll, und wenn er sich darauf festgelegt hätte, was er kritisieren will – den amerikanischen Kapitalismus oder das marode Europa.