Atlanta wird zur neuen Kulturmetropole der USA

Abgrundtiefe Armut und grenzenloser Reichtum treffen in der Rap-Hauptstadt Atlanta unmittelbar aufeinander.

Das Zentrum der Südstaaten hat viel mehr zu bieten als Coca-Cola und CNN. Seit ein paar Jahren zieht eine junge Kreativszene Musiker und Filmstudios an.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Das Herz der amerikanischen Kultur schlägt traditionell an den Küsten am stärksten. New York und Los Angeles spielen in allen Bereichen ganz vorne mit. Bis jetzt. 

Denn seit einigen Jahren mausert sich die kleine verschwitzte Schwester aus Amerikas tiefem Süden zu einer echten Konkurrenz. Atlanta ist den meisten bekannt als Heimatort von Martin Luther King, CNN und Coca-Cola, als Austragungsort der Olympischen Spiele 1996 und dem Handlungsort des Nostalgieschinkens «Vom Winde verweht» (1939).

Kultur verlangt nach neuem Input und einer Vermischung unterschiedlicher Stile, und dafür sind die Küsten prädestiniert. Aber eben auch Atlanta, das 1837 an einem Knotenpunkt zweier Eisenbahnstrecken gegründet wurde. Damals dachte niemand an die moderne Popkultur, sondern eher an den Handel mit Waren. Der findet auch heute noch in Atlanta statt, nur sind es mittlerweile vor allem Drogen, die an einem der wichtigsten Autobahnknotenpunkte zwischen Süden und Norden und über den verkehrsreichsten Flughafen der Welt verkauft werden.

Beliebt bei der Oberschicht

Das findet sich in Atlantas Rap wieder: dem Trap. Das englische Wort für «Falle» meint im Jargon ein Haus, wo Drogen verkauft werden. Viele Trap-Musiker haben als Dealer begonnen. Bands wie Migos zeigen sich noch immer gerne mit ihren Uzis. Aber die Trapmusik ist nicht nur an sich erfolgreich: Die «Harvard Political Review» hat herausgefunden, dass seit 2015 mehr als doppelt so viele Rap-Songs aus Atlanta kommen als aus ­Südflorida, der Nummer 2 im Rap-Business. Der Trap ist mittlerweile auch zum Baustein für viele andere Musikgenres geworden und findet sich in der elektronischen Musik genauso wie im Country.

Trap hat einen langsameren Rhythmus als der durchschnittliche Rapsong. Typische Vertreter sind Migos, Young Thug, Future oder Gucci Mane. Die Songs klingen dunkler und erzählen oft vom Verkauf von Drogen und dem schnellen Geld. «Bad and Boujee» von Migos erzählt, wie es ist, nicht in der Mittelschicht aufgewachsen, dann aber mit Drogen reich geworden zu sein und dazuzu­gehören. «Boujee» ist ein Slangwort für bourgeois. Aber ihre Vergangenheit haben sie nicht vergessen, deshalb «Bad and Boujee».

Atlanta hatte in den neunziger Jahren schon einmal zwei starke Musikvertreter – die Rapgruppe OutKast («Hey Ya!») und die R’n’B Band TLC («No Scrubs»). Sie waren die ersten Musiker, die nicht mehr in den Norden gehen mussten, um ihre Karriere zu starten, weil es zum ersten Mal eine kleine Infrastruktur in der Stadt selber gab. Mittlerweile ist die Atlanta-Musikszene so wichtig geworden, dass auch andere Künstler wie Janelle Monaé kommen.

Aber nicht nur die Künstler kommen, auch die afroamerikanische Mittel- und Oberschicht hat Atlanta entdeckt. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts flüchteten Millionen von Afroamerikanern in den Norden. Seit den siebziger Jahren kehren sie in kleinen Gruppen in den Süden zurück, seit zehn Jahren in grosser Zahl. Die afroamerikanische Oberschicht mag dabei vor allem Atlanta, weil Afroamerikaner hier am meisten verdienen und die traditionellen afroamerikanischen Universitäten hier sind. Hier sind sie überdies in der Mehrzahl. Die «New York Times» nannte Atlanta bereits «the Black Mekka».

Der wichtigste Künstler der Stadt ist Donald Glover, der dieses Jahr als Rapper Childish Gambino mit dem Video zu «This Is America» hohe Wellen schlug. Darin prangert er die Waffenobsession der USA an und fordert, dass Afroamerikaner monetär bekommen, was ihnen wegen der Sklaverei zusteht. Er ist der Inbegriff des neuen Atlanta: bürgerlich aufgewachsen, gebildet, gut vernetzt und erfolgreich. Dagegen stehen Migos für das alte Atlanta: arm, geprägt von Drogen und Gewalt, aber auch von der Fähigkeit, aus wenig viel zu machen. Glover dankte ihnen bei der letztjährigen Emmy-Verleihung. Er erhielt zwei Auszeichnungen für seine hochgelobte Serie «Atlanta». Diese erzählt von Earn (Glover), einem Uni-Abbrecher, der seinen rappenden Cousin Paper Boi managen will. Die Serie zeigt die dunkleren Ecken der Stadt, wo es noch dreckig ist, aber auch die Kreativität herkommt. Paper Bois Philosophie des Raps ist: «Aus einer schlechten Situation das Beste machen – das ist Rap.»

Am Trap zeigt sich denn auch alles, was Atlanta ausmacht: eine ausufernde Kreativität, abgrundtiefe Armut, die trotz Oberschicht und florierendem Arbeitsmarkt nicht auszumerzen ist, Reichtum und eine Kumulation von jungen Talenten.

Aber Glover ist nicht der Einzige, der hier Serien filmt. Die Stadt ist zu einem Anziehungspunkt für Film- und Fernsehproduktionen geworden. Mit dem «Entertainment Industry Investment Act» von 2008 bietet Georgia Steuerreduktionen, wenn im Staat gefilmt wird. Davon haben viele profitiert, letztes Jahr gab es über 320 Serien- und Filmproduktionen, die meisten um Atlanta. Diese führten gemäss Governor Nathan Deal zu Einnahmen von 9,5 Milliarden Dollar. «The Walking Dead» wird hier gefilmt, auch «Strangers Things» oder «Dynasty».

Die Stadt kann glänzen

Mit Steuerreduktionen haben schon viele Staaten Filmproduktionen angelockt, nur um später festzustellen, dass kaum Jobs entstanden. In Georgia ist das anders. Marvel hat in Atlantas Vorstadt die Pinewood-Studios gebaut, bereits «Thor: Ragnarok» und «Black Panther» wurden hier gefilmt, weitere Marvel-Filme sollen folgen. 

Das ist für die Stadt erfreulich, hilft ihr aber noch wenig, sich in der Welt zu präsentieren. Die Handlung ist nämlich meistens anderswo angesiedelt. Dabei hat Atlanta das Potenzial, auch selber zu glänzen. Edgar Wright hat das mit «Baby Driver» (2017) gezeigt. Mit seinem Soul-Soundtrack verkörpert der Film den Inbegriff von Coolness.

Gedankt hat Donald Glover in seiner Emmy-Dankesrede nicht nur Migos, sondern auch Atlanta und «allen schwarzen Menschen dort. Dafür dass ihr authentisch seid. Dafür, dass ihr am Leben und phantastische Menschen seid.» Und das ist ein weiterer Grund für den Aufstieg Atlantas. Denn heute bezeichnet sich eine Mehrheit junger Menschen in den USA als nicht weiss. Die Stadt ist jung, cool, kreativ, und sie ist schwarz. Das ist die Zukunft auch.

Atlanta ist jung, cool, kreativ, und es ist schwarz. Das ist die Zukunft auch. 

Die ewigen 80er

Bild: Pexels, VictoriaBorodinova

Ob im Kino, in der Musik oder in der Mode: Die Eighties sind omnipräsent, obwohl unsere Zeit eher von den Neunzigern besessen sein sollte. Warum fasziniert uns die Dekade mit den Föhnfrisuren und den kitschigen Sonnenuntergängen noch immer? 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Zwei junge Frauen fahren im Cabriolet in den zartrosa ­Sonnenuntergang. Im Hintergrund erklingt dazu Belinda Carlisles sülziger Synthie-Hit «Heaven Is a Place on Earth». So endet die gerade mit zwei Emmys ausgezeichnete Episode «San Junipero» der Netflix-Serie «Black Mirror». Sie handelt vom Umgang mit neuen Technologien in der Zukunft. Denn eigentlich sind die beiden Frauen bereits tot, aber für ihr Jenseits haben sie sich eine simulierte Welt in den achtziger Jahren ausgesucht. Der Himmel ist eben doch ein Ort auf Erden, und er liegt anscheinend in den Achtzigern.

Das scheint auch für die Kultur der Gegenwart zu gelten. Wohin das wachsame Auge auch blickt, den achtziger Jahren lässt sich nicht ausweichen. 

Trump bringt Reagan zurück

Sie suchen uns heim in der Form von Clown Pennywise in der Neuverfilmung des Horrorklassikers «It», der nächste Woche in die Kinos kommt. Sie gewinnen unser Herz mit drei Buben auf der Suche nach ihrem verschwundenen Freund in der Netflix-Serie «Stranger Things». Sie liegen uns in den Ohren mit «Brotherlove» vom Schweizer Musiker Crimer. Und sie zwinkern uns verschmitzt zu in Form von Dauerwellen, dicken Eyelinern und kitschig-grellen, glitzernden Kleidern an der Fashion-Show von Marc Jacobs. 

Selbst Donald Trump mit seiner orangen Gesichtsfarbe, den wilden Haaren und seiner «America First»-Ideologie verkörpert eine rechtskonservative Wiedergeburt der achtziger Jahre mit ihrer Ich-Generation, der Kalten-Krieg-Rhetorik, dem Materia­lismus und seiner 1987 verfassten Bibel «The Art of the Deal».

Das nostalgische Zelebrieren von Kultur aus vergangenen Dekaden gibt es normalerweise im Abstand von zwanzig Jahren. Die siebziger Jahre waren fasziniert von den Fünfzigern mit Filmen wie «American Graffiti» und dem Musical «Grease». Die achtziger Jahre verherrlichten die unschuldigeren Sechziger mit «Dirty Dancing» oder der Serie «Wunderbare Jahre». Und die neunziger Jahre bezogen sich auf die Seventies mit der Sitcom «Die wilden Siebziger» oder dem Kultfilm der Dekade, «Pulp Fiction», in dem Tarantino auf Seventies-Funk setzt und John Travolta, dem vergessenen Star aus «Saturday Night Fever» (1977), ein Comeback ermöglichte. Dieser Logik entsprechend, sollte unsere Dekade besessen sein von den Neunzigern. Warum nur dreht sich dann noch immer alles um die Achtziger?

Der erste und wichtigste Grund ist: Mit der Zeit steigt die Wertschätzung, und es beginnt die Verklärung. Sind genug Jahre verstrichen, vergessen wir gerne, was wir damals alles nicht mochten. Richtig: neonfarbene Pulswärmer, Spandex-Anzüge und hohe Schulterpolster. Darin sieht nicht einmal Ryan Gosling gut aus, wie sein Auftritt mit einer Achtziger-Band in «La La Land» zeigt. Dafür dürfen seit einigen Jahren wieder weisse Turnschuhe von Adidas und Superga getragen werden, was nicht nur die Aargauer freut. Und weil man solche Mode-Statements sehen soll, sind auch die hochgekrempelten Hosen wieder im Trend. Aber wer denkt, dass es reicht, einfach die Hosenbeine hochzurollen, der irrt. Man muss zuerst die Innennaht umbiegen, einwickeln und dann von der anderen Seite her… Ach, sehen Sie sich einfach das Youtube-Video «How to Pinroll» an.

Die Generation X hat die Macht

Der zweite Grund ist die Generation X, der in den 1960ern und 1970ern Geborene angehören. Wann haben Sie das letzte Mal von der gehört? Das Pew Research Center bezeichnete sie kürzlich als «das übersehene mittlere Kind». Denn sie liegt eingequetscht zwischen zwei viel grösseren Generationen: jener der Babyboomer, die schon langsam aufs Altersheim zuhinkt, und derjenigen der noch zahlreicheren Millennials, die noch damit beschäftigt sind, etwas ungeschickt in die Arbeitswelt zu stolpern. Das Kind der achtziger Jahre ist zwar so unauffällig, dass man der Generation nur einen Platzhalter als Namen verschafft hat. Dafür sitzen ihre Vertreter heute an den Schalthebeln der Macht, auch im Kulturbereich, wo sie Filme, Serien und Musik im Stil ihrer Jugendzeit durchwinken.

Aber dass Produzenten in weissen Adidas-Turnschuhen solche Projekte bewilligen, erklärt noch nicht, warum sich die Jugendlichen letzten Sommer auf die Serie «Stranger Things» stürzten, warum Achtziger-Jahre-Playlists auf Spotify am häufigsten von der Altersgruppe 25 bis 34 und am zweithäufigsten von 18- bis 24-Jährigen angehört werden oder warum Menschen, die die Achtziger nicht oder kaum erlebt haben, wie «Stranger Things»-Schöpfer Matt und Ross Duffer (*1984), die Band Hurts (*1985 und *1986) oder Musiker Crimer (*1989), von den Achtzigern inspirierte Kunst machen.

Das Onlinemagazin «Vulture» unterstellte der Generation X kürzlich in einem Artikel, sie hege als übersehenes mittleres Kind Rachegelüste, weshalb sie ihre Kinder, Nichten und Neffen mit den Schätzen der eigenen Kindheit indoktriniere, auf dass die Achtziger ewig währen. Richtig ist auf jeden Fall, dass es heute einfacher ist, die Artefakte der Vergangenheit zugänglich zu machen. Während Babyboomer eine Schallplatte kaufen mussten, um dem Nachwuchs den Klang ihrer Jugend vorzuführen, klickt der Mittvierziger heute am iPad auf ein Youtube-Video von Duran Duran.

Aber das gilt für alle alten Dekaden. Was ist der Reiz der Achtziger? «Das Jahrzehnt war stark geprägt von Ronald Reagan und Margaret Thatcher», sagt Steve Blame, der in den Achtzigern seine Karriere als VJ auf MTV Europe begann. «Es war politisch und gesellschaftlich sehr repressiv und konservativ. Das setzte aber auch Kreativität frei. In der Gesellschaft konnte man sich nicht ausleben, also tat man es in der Kunst: zum Beispiel Boy George, der sich lange Zeit nicht als homosexuell outete, aber ein sehr flamboyantes Auftreten hatte.» Die achtziger Jahre sahen auch den Beginn von Girl-Power mit Madonna und den Mix von Pop-Kitsch mit Traurigkeit von Bands wie The Cure.

Von dieser Mischung fühlt sich auch der Ostschweizer Crimer angezogen. «Die Sounds sind sehr überspitzt. Der Schlagzeug-Sound hat diese riesige Hallfahne.» Man denke nur an «When Doves Cry» von Prince oder an «Born in the USA» von Bruce Springsteen. Sie klingen ein wenig wie ein harter Schlag auf Wasser. Dieser nervöse Klang, genannt gated reverb, wurde 1980 durch Zufall bei einer Studioaufnahme von Phil Collins’ Schlagzeug entdeckt und später durch eine Drum-Maschine rekonstruiert. Neben den Synthesizern ist es das auffälligste musikalische Merkmal der achtziger Jahre. Nachdem er zwanzig Jahre aus der Musik verschwunden war, ist er nun zurück: Taylor Swift hat ihn in «Blank Space» genutzt und Lorde in «Louvre».

Für die Duffer-Brüder wiederum ist es die Ästhetik der Achtziger-Jahre-Filme, wie das neblige Übernatürliche in «E.T.» und die Kameradschaft in «Stand by Me». «Unsere Serie ist eine Hommage an diese Filme, mit denen wir aufgewachsen sind», sagt Matt Duffer. «Wir waren die letzte Generation, die ohne Internet und Handy aufgewachsen ist. Wir gehen gerne zurück in eine Zeit, als wir draussen mit unseren Freunden spielten und das Gefühl hatten, wir würden uns in einem grossen Abenteuer verlieren. Da schwingt definitiv Nostalgie mit.»

In den 1980ern wurde der Jugendfilm neu erfunden mit «The Breakfast Club» oder «The Goonies». Der Sommer und die Freundschaft versprachen darin allen Widrigkeiten zum Trotz ewig zu währen. Dies ist auch der Grund, warum gewisse an die Achtziger angelehnte Produktionen funktionieren und andere nicht. Als die Serie «Knight Rider» 2008 neu aufgegossen wurde, floppte sie. Die Macher hatten Versatzstücke wie das sprechende Auto und den einsamen Helden in polierter «Fast and the Furious»-Manier zurück auf den Bildschirm gebracht, aber ohne Herz. 

Besser gemacht hat das der Schwede David Sandberg mit seinem über Kickstarter finanzierten Film «Kung Fury», der bis jetzt auf Youtube 30 Millionen Mal angeklickt wurde. Ein Polizist aus Miami wird von einem Blitz getroffen und von einer Schlange gebissen und hat plötzlich übernatürliche Kräfte. Die meisten Szenen entstanden vor einem Green Screen, bei dem man die Umgebung der Figuren später am Computer erstellt. Die Ästhetik des Films erinnert an die grosspixeligen Games der achtziger Jahre. Es ist Kitsch voller Pathos.

Die originalen Vorbilder «Knight Rider» und «Kung Fury» haben Kultcharakter. Kult muss nicht gut sein, aber mit Leidenschaft gestaltet. Schon Aristoteles wusste, dass Rhetorik ohne Pathos nicht funktioniert, weil sie das Publikum kaltlässt. Die Eighties boten in vielen Bereichen Kitsch mit viel Pathos: in der Musik, im Kino, in Serien oder in der Mode. Das ist es, was bis heute nachklingt: das Herz, die Leidenschaft.

Andere Beispiele wie die Serie «The Americans» kommen ohne Kitsch aus. Ein sowjetisches Agentenpaar mordet unentdeckt im Namen einer grösseren Ideologie im Amerika der 1980er. Man nannte das nicht Terrorismus, sondern Kalten Krieg. Laut Steve Blame gibt es weitere Parallelen zwischen damals und heute: «Als Reagan gewählt wurde, dachten wir, die Welt gehe unter. Ich war auf sehr vielen Protestmärschen. Ich verstehe die Angst der Leute wegen Trump, aber wenn wir Glück haben, führt die Repression zum gleichen phantastischen Kulturschaffen wie damals.» Die Achtziger sollte man nicht nur mit Nostalgie, Kitsch und Pathos assoziieren, sie lehren uns vielmehr, wohin man seine Energie in Zeiten des Konformismus lenken kann: in Kreativität.

Die Achtziger sollte man nicht nur mit Nostalgie, Kitsch und Pathos in Verbindung bringen, sondern auch mit kreativer Kultur.

Hier leben die achtziger Jahre wieder auf «It»

Die Neuverfilmung von Stephen Kings Bestseller von 1986 bringt den Horror zurück in die Kleinstadt. Bill Skarsgård spielt den Clown, der Jagd auf Kinder macht. In den USA der Hit der Saison. Läuft bei uns ab 

28.9. im Kino.

«GLOW»

Die Netflix-Serie erzählt die Story der weiblichen Wrestling-Gruppe namens GLOW. Spandex-Anzüge, Neonlichter und Föhnfrisuren – mehr 80s geht gar nicht. Ein Beispiel, wie man Kitsch zur Kunst erhebt.

«White Gold»

Die Netflix-Serie dreht sich um einen arroganten Handelsvertreter (Ed Westwick, l.) in Essex, der ähnlich wie Michael Douglas in «Wall Street» das «Geiz ist geil»-Credo verkündet. Eine Serie über die Gier nach Geld.

Hurts

Die Synthie-Pop-Band aus Manchester hat 2010 mit ihrem Debütalbum «Happiness» als eine der ersten das Comeback des 80er Pop à la Pet Shop Boys einge­leitet. Am 29.9. erscheint ihr neues Album: «Desire».

«Blade Runner 2049»

Denis Villeneuve hat die Fortsetzung des stilbildenden 80er Kultfilms «Blade Runner» gedreht. Die Hauptrolle spielt Ryan Gosling (l.), der ­Trailer verspricht viel Nebel und Neonlicht. Ab 5.10. im Kino.

Antlitz des Bösen

Foto: Pixabay

Unheimliche Clowns halten derzeit die Welt in Atem. Auch wenn Clowns meist als harmlose Possenreisser dargestellt werden, versteckt sich unter der Schminke oft das Grauen, wie ein kurzer Blick in die Kulturgeschichte zeigt.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Plötzlich springt ein Clown aus dem Gebüsch. Manchmal sogar mit einer Kettensäge in der Hand. Diese Erfahrung haben in letzter Zeit zahlreiche Menschen auf der ganzen Welt gemacht. Zuletzt auch im Kanton Zürich, wo gemäss «NZZ» seit Mitte Oktober acht so genannte «Horrorclowns» gemeldet wurden.  Die globale Hysterie begann anscheinend damit, dass zwei Clowns in South Carolina versuchten, einen Knaben in den Wald zu locken.

Mittlerweile finden sich auf YouTube unzählige Videos, in denen Clowns aus dem Schatten springen und Passanten das Fürchten lehren – worauf von Angriffen auf die Spassvögel berichtet wurde. Nun existiert schon der Hashtag #clownlivesmatter, weil sich als Clown arbeitende Menschen vor Racheakten der Bevölkerung fürchten. Sogar Horror-Altmeister Stephen King höchstpersönlich sah sich bemüssigt, über Twitter zu kommentieren: «Leute, es ist Zeit, die Clown-Hysterie abkühlen zu lassen.»

Clowns gehören vor allem zu unserer Kindheit, aber die Erinnerungen daran sind oft ambivalent: Vielleicht assoziieren Sie mit dem geschminkten Gesicht den kürzlich verstorbenen Dimitri oder den tollpatschigen Gaston vom Zirkus Knie, der Sie zum Lachen brachte.

Oder falls Ihr Geburtsjahr in den 1970er Jahren liegt, war Ihre Kindheit vielleicht geprägt von der sprechenden Horror-Clown-Puppe aus dem Film «Poltergeist» (1982), die den Buben ins Bett zieht, oder vom dauergrinsenden, scheinbar unschuldigen Kasperli, der mit einer Pritsche, die verdächtig einem Baseballschläger gleicht, auf seine Mitmenschen einprügelt.

Aber der Clown ist nicht nur heutzutage eine ambivalente Figur, ambivalent waren schon seine Ursprünge. Diese finden sich einerseits in den Sagen und Mythen vieler Kulturen. Bei den Hopi-Indianern waren es schwarz-weiss geschminkte Tänzer, die zum Abbau von Spannungen im Stamm beitrugen, indem sie ungewolltes Verhalten ins Lächerliche zogen.

In der europäischen Kultur ist vor allem der kleinwüchsige Puck bekannt, wahlweise als bösartiger Dämon oder guter Hausgeist, der den Menschen Hausarbeiten abnahm oder sie ärgerte und dem Shakespeare im «Sommernachtstraum» zu Weltruhm verhalf.

Andererseits liegen die Ursprünge im griechischen Theater, wie Benjamin Radford in seinem Buch «Bad Clowns» (2016) aufzeigt. Meist gab es da glatzköpfige Possenreisser mit gepolstertem Bauch, Eselsohren und Hakennase. Sie parodierten in einer Farce die seriöseren Rollen der anderen Schauspieler. Die gleiche Figur findet sich auch im römischen Theater.

Der stupidus wurde zur Erheiterung des Publikums von den anderen Figuren übers Ohr gehauen und geschlagen, oder er nutzte selber aktuelle Skandale, um über die Mächtigen herzuziehen. Eine Tradition, die sich später im Karneval wiederfindet, in dem es um die Umkehrung von hierarchischen Strukturen und das Lächerlichmachen der Mächtigen geht. 

Manchmal waren die Darsteller Kleinwüchsige oder Krüppel. Von ihnen und den Narren sagte man, sie hätten göttliche Kräfte, weshalb man ihnen mehr Spielraum gab. Im Hofnarren der späteren Jahrhunderte findet man diese Ausprägung wieder.

Die erste Clown-Figur, die dem heute weitverbreiteten Clown am nächsten kommt, findet sich in der Commedia dell’Arte, die auf beide Ursprünge zurückgeht. Im Harlekin (Arlecchino) vermischten sich unter einer Halbmaske die dämonischen Züge mit dem Possenreisser.

Eine spätere Ableitung davon ist der dumme August. Mit seinen übergrossen Schuhen und den weiten Hosen ist er oft der tollpatschige Gehilfe des intelligenteren weissgesichtigen Clowns. Dafür bringt er mit viel Körpereinsatz das Publikum zum Lachen. Laurel und Hardy haben dem Duo auf ihre Art ein Denkmal gesetzt.

Wenn Buster Keaton aus dem Auto oder eine Treppe hinunter fällt, müsste er sich eigentlich verletzen. Stattdessen steht er wie von unsichtbaren Mächten beschützt unversehrt wieder auf. Das Gleiche gilt für die Gesichtsbemalung. Eine Maske oder ein geschminktes Gesicht gibt zwar Schutz und eine gewisse Freiheit für den Träger, andererseits wirken sie irritierend auf das Gegenüber, weil sie verstecken, was unter der Schminke ist.

Joseph Grimaldi, einer der ersten berühmten Clowns, lebte im 19.Jahrhundert in London und hatte nicht nur einen gewalttätigen Vater, sondern verlor auch seine Frau im Kindbett und seinen Sohn an den Alkohol. Der an Depressionen leidende Grimaldi prägte das Bild des weinenden Clowns und soll einmal gesagt haben: «Ich bringe euch in der Nacht zum Lachen, aber bin trübsinnig den ganzen Tag.» Eine Figur, die sich unter anderem auch in Emeli Sandés Lied «Clown» (2012) über die dunkeln Seiten der Musikindustrie findet oder im Kettenraucher Krusty bei den Simpsons.

Aber warum kann ein Clown Menschen in Angst und Schrecken versetzen? Das hat nicht nur mit seiner Unzerstörbarkeit und der Maske zu tun, sondern auch mit seinen überzeichneten Gesichtszügen. Als Akzeptanzlücke, basierend auf Freuds Konzept des Unheimlichen, bezeichnet man das Phänomen, wenn einem etwas vertraut ist und gleichzeitig seltsam wirkt, wie das Gesicht eines humanoiden Roboters, einer verwesenden Leiche oder eben eines Clowns. Deshalb lösen diese Gesichter Furcht und Widerwillen aus.

Der Clown trägt zwar ein Lachen im Gesicht, aber es ist aufgemalt und zeigt so eine forcierte Fröhlichkeit, die besonders im Joker aus der «Batman»-Serie ihren schreckenerregenden Höhepunkt findet. Während Jack Nicholsons Joker in Tim Burtons «Batman» (1989) wie ein überdrehter, dauergrinsender Irrer wirkt, ist Heath Ledgers Version in der Christopher-Nolan-Trilogie (2005–2012) teuflischer, weil sich darunter an den Mundwinkeln Narben von Schnittverletzungen zeigen und sich Abgründe von Folter und Schmerz auftun.

Aber so richtig eingebrannt hat sich der Horror-Clown in das kulturelle Gedächtnis als Pennywise aus Stephen Kings Roman «Es» (1986) und der vier Jahre später erschienenen gleichnamigen Miniserie. 

In der Kleinstadt Derry werden kleine Kinder auf bestialische Weise ermordet. Als das Papierschiffchen des kleinen Georgie in die Kanalisation gespült wird, guckt plötzlich Pennywise aus der Öffnung hervor und streckt dem Knaben das Schiffchen entgegen. Als Georgie das dürre Ärmchen danach ausstreckt, reisst ihn der Clown in die Tiefe.

Ein Ende der Clown-Sichtungen ist noch nicht absehbar, denn nun steht auch noch Halloween – die Nacht der Toten und der Maskierten – vor der Türe. Also seien Sie vorsichtig, Sie wissen ja: Man weiss nie, was sich unter den aufgemalten Gesichtszügen verbergen könnte.

Ich bin trans, na und?

Foto: Flickr, Alberto Frank

Caitlyn Jenner verändert mit ihren Auftritten die Wahrnehmung von Menschen, die sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen. Auch die Kunst zeigt Transgender nicht mehr als Psychopathen oder glatte Transvestiten.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Seit ihrem Comingout als Transgender im April ist die ehemalige Olympiasiegerin im Zehnkampf (damals noch Bruce) und das frühere Oberhaupt des Kardashian-Clans Caitlyn Jenner nicht mehr aus den Medien wegzudenken. Es folgten ein viel diskutiertes Fotoshooting und die «Call Me Caitlyn»-Titelgeschichte im Magazin «Vanity Fair». Seit letztem Sonntag läuft Jenners eigene Reality-Show «I Am Cait» auf dem amerikanischen Sender E!. 

Es vergeht kaum eine Woche ohne Berichte über Transgender. Vorletzte Woche wurde bekannt, dass die amerikanische Armee laut darüber nachdenkt, Transmenschen in ihren Reihen zu akzeptieren. Diese Armee also, die erst 2011 ihre «Don’t Ask, Don’t Tell»-Politik aufgehoben hatte, die besagte, dass Homosexuelle nur dienen durften, solange ihre Sexualität nicht bekannt war. Selbst im erzkonservativen Polen sitzt eine Transfrau im Parlament. 

Wie kommt es, dass in wenigen Jahren die Sichtbarkeit und Akzeptanz von Transmenschen so stark zugenommen hat? Die Transfrau Laverne Cox, die in der Netflix-Serie «Orange Is the New Black» spielt, und der Schauspieler Jeffrey Tambor, der in der preisgekrönten Amazon-Serie «Transparent» eine Transfrau verkörpert, sind nicht umsonst zu inoffiziellen Sprechern der Transcommunity befördert worden. Denn der Kunst kommt eine zentrale Rolle zu. Schon Oscar Wilde verwies auf diese Wechselwirkung: «Das Leben imitiert die Kunst viel häufiger als die Kunst das Leben.» 

Bis in die neunziger Jahre noch wurden Transmenschen im Massenmedium Kino auf Crossdresser reduziert: von Jack Lemmon und Tony Curtis, die in «Some Like it Hot» (1959) in Röcken ein Frauenorchester infiltrieren, bis zu Robin Williams als grauhaarigem, vollbusigem Kindermädchen «Mrs. Doubtfire» (1993). Oder sie wurden als wahnsinnige Serienmörder skandalisiert: von Norman Bates in «Psycho» (1960), der, als seine Mutter verkleidet, mit einem überdimensionierten Messer Frauen in der Dusche attackiert, bis zu Serienmörder Buffalo Bill in «The Silence of the Lambs» (1991), der sich aus der Haut der getöteten Frauen ein Kostüm näht. Erst Ende der neunziger Jahre wurde mit «Boys Don’t Cry», der Lebens- und Leidensgeschichte des Transmannes Brandon Teena (Hilary Swank), ein neues Kapitel aufgeschlagen. 

Die siebziger Jahre ebneten immerhin den Weg zu mehr Anerkennung. Zwar war es damals noch kaum möglich, Transgender jenseits der Stereotype zu zeigen. Doch die breitere Akzeptanz des Feminismus und das Aufkommen der Schwulen- und Lesbenbewegung ermöglichten es, starre Geschlechterrollen aufzubrechen und damit zu experimentieren. Während auf den Laufstegen androgyne Models wie Grace Jones Einzug hielten, verkörperten in den Glam-Rock-Jahren Sänger wie David Bowie als «Ziggy Stardust» geschminkte, androgyne Wesen. 

Transmenschen sichtbar machten dann Künstler wie die Fotografin Nan Goldin. Sie zeigte bereits in den siebziger Jahren ein differenziertes und vor allem humanisierendes Bild der Drag- und Transcommunity in New York City, die sie über Jahre hinweg porträtierte und 1993 in «The Other Side» zusammenfasste. «Die Menschen in diesem Buch leiden nicht an einer Geschlechterdysphorie [Störung], sondern geben ihrer Geschlechtereuphorie Ausdruck», sagte Goldin dazu. Und im Film «Car Wash» (1976) wagte es dann auch zum ersten Mal eine Transfrau, sich gewieft gegen die verbalen Diskriminierungen eines Arbeitskollegen zu wehren: «Ich bin mehr Mann, als du jemals sein wirst, und mehr Frau, als du jemals haben wirst.»

Wichtig war nicht nur, dass Geschlechterrollen aufgebrochen und Transmenschen sichtbarer gemacht wurden, auch die Authentizitätsbotschaft ist zentral. In «The Rocky Horror Picture Show» (1975) verführt der selbstproklamierte Transsexuelle Frank’N’Furter in Pumps, Strapsen und Korsett das verklemmte Studentenpaar Brad und Janet. Dies animierte Menschen in aller Welt dazu, ihrer eigenen Verrücktheit Ausdruck zu verleihen und in Kinos lauthals die Authentizitätshymne «Don’t Dream It, Be It» zu johlen. Auch heute tragen Comingouts von Berühmtheiten oder die flamboyanten Auftritte von Conchita Wurst die Botschaft in sich «Du darfst so sein, wie du willst». Das ist nicht nur für Transmenschen verlockend, sondern kommt auch beim biederen Durchschnittsbürger an. 

Aber wie die Kulturwissenschafterin Elahe Haschemi Yekani richtig feststellt, ist es «zu einfach zu sagen, mehr Bilder gleich mehr Akzeptanz». Es kommt auf die Art der Darstellung von Transmenschen an. Diese muss normalisierend sein statt schockierend. 2005 wurde mit dem Film «Transamerica» genau das erreicht. Die Transfrau Bree (Felicity Huffman) kommt ihrem bis anhin fremden Sohn auf einer Reise durch die USA näher. Weil diese Formel bekannt ist, sieht Haschemi Yekani darin den normaliserenden Effekt. «Der Film nimmt das typische Roadmovie und konzentriert sich auf das Familiäre. Bree ist eine komplexe Figur, die unter anderem trans ist.»

In der guten Stube

Kein anderes Medium erreicht einen normalisierenden Effekt so effizient wie das Fernsehen. Da der Fernsehapparat – oder heute oft der Computer – in den eigenen vier Wänden steht, holt man sich die Welt quasi ins Familien-Wohnzimmer. Nebenrollen von Transmenschen in TV-Serien wie «Glee» oder «Grey’s Anatomy», aber auch Auftritte in «Let’s Dance» sind deshalb wichtig für die Minderheit. Eingebettet in diese Serien, erscheinen Transmenschen nicht als etwas Aussergewöhnliches, sondern in «Dimensionen des Alltäglichen», wie Haschemi Yekani es nennt. In der Serie «Transparent» «geht es natürlich um die Geschlechtsangleichung einer Figur, aber es geht auch um Familienprobleme, um Beziehungsfragen und andere Themen», sagt Haschemi Yekani. Und darin erkennen wir uns alle wieder. 

Viel wurde also erreicht. Aber weil es immer noch relativ wenige sichtbare Transfrauen gibt, besteht die Gefahr, dass die dargestellte Form von Weiblichkeit als die einzige wahrgenommen wird. Dabei geht vergessen, dass Transmenschen sich im genau gleich breiten Spektrum zwischen mehr oder weniger feminin oder maskulin befinden wie alle Frauen und alle Männer. Deshalb ist die Serie «Orange Is the New Black» so erfrischend. Sie zeigt eine breite Palette an sehr unterschiedlichen Frauen, wobei ein breites Spektrum an Weiblichkeit, von der sehr maskulinen Boo (Lea DeLaria) bis zur sehr femininen Piper (Taylor Schilling), nur eines der Merkmale ist. Die (Trans-)Frau Sophia ist da eine unter vielen. 

Während sich die Filmindustrie zehn Jahre nach «Transamerica» erneut des Themas Transweiblichkeit in «The Danish Girl» annimmt (der Film mit Oscarpreisträger Eddie Redmayne kommt im November ins Kino), geht Transmännlichkeit oft vergessen. Die Subkultur versucht dem entgegenzuwirken. Der Fotograf Loren Cameron zum Beispiel posiert in einem Selbstporträt nackt, braun gebrannt, tätowiert und muskulös mit deutlichem Bartschatten in einer klassischen Bodybuilder-Pose – und mit weiblichen Genitalien. Das erhöht nicht nur die Sichtbarkeit, sondern wirft auch die Frage auf: Wie definieren wir Geschlecht?

Damit befasst sich ebenfalls der Intersex-Fotograf Del LaGrace Volcano. In einem Selbstporträt zeigt er sich mit Schnauz, Ziegenbärtchen und rosarotem Rock, den er mit herausforderndem Blick bis zur Körpermitte hochhebt, wo man kaum sichtbar seine weiblichen Genitalien sieht. Damit setzt er in Szene, womit die meisten Transmenschen tagtäglich konfrontiert sind – die Frage nämlich: «Hast du denn jetzt weibliche oder männliche Geschlechtsorgane?» Diese Frage ist verständlich, wenn man bedenkt, dass schon Kindern auf diese Weise der Unterschied zwischen Mann und Frau erklärt wird. Sie eignet sich aber schlecht, daran das ganze Spektrum von Geschlechtsidentität festzumachen.


Mit allen Nachteilen

Wann ist eine Minderheit im Mainstream angekommen? Wenn man die Antwort in einer normalisierenden Darstellung sucht, dann ist das für Transmenschen mit der Berichterstattung über Caitlyn Jenners neue Rolle sicher erreicht. Nach den überwältigend positiven Reaktionen auf ihr erstes Fotoshooting gingen die Medien sofort dazu über, ihr Aussehen bis ins kleinste Detail zu kommentieren und zu kritisieren – ein Vorgang, den Frauen seit Jahrhunderten kennen. Dies veranlasste den US-Komiker Jon Stewart in «The Daily Show», ihr wie folgt zu gratulieren: «Caitlyn, welcome to being a woman in America.»

Begriffe im Wandel – Am liebsten «Trans*» 

Auch auf Deutsch verwendet man den Begriff «transgender» für Menschen, die sich nicht dem Geschlecht zugehörig fühlen, das ihnen bei Geburt zugeschrieben wurde. Den früher gebräuchlichen Ausdruck «transsexuell» hingegen lehnt die Gemeinde ab, da die Geschlechteridentität nichts mit der Sexualität zu tun habe. Es wird auch nicht mehr unterschieden, ob jemand eine geschlechtsangleichende Operation gemacht hat oder nicht. Viele Transmenschen bevorzugen den Begriff «Trans*», um transgender und transsexuell vollständig zu umgehen. Daraus resultieren dann auch die Begriffe Transmann oder Transfrau. Transgender hat nichts mit Crossdressern zu tun wie dem Komiker Eddie Izzard, der häufig in Frauenkleidern auftritt, oder Transvestiten wie Thomas Neuwirth, der mit seiner Kunstfigur Conchita Wurst bekannt wurde. 

Bild: flickr / Dominick D

Laverne Cox

Die in Alabama geborene Schauspielerin macht gerne ein Geheimnis um ihr Alter. Sie wurde durch ihre Rolle als Transfrau Sophia Burset in der Netflix-Serie «Orange Is the New Black» bekannt. Gleich in drei Situationen war Laverne Cox der erste Transmensch: als sie 2013 eine Emmy-Nominierung erhielt, 2014, als sie auf der Titelseite des «Time»-Magazins erschien für einen Artikel über Transgender, und im Juni 2015, als sie ins Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud in San Francisco aufgenommen wurde.

Chaz Bono

Der 1969 in LA geborene Journalist ist das einzige Kind von Sonny und Cher. Als Kind trat er mehrmals mit seinen Eltern im Fernsehen auf. Auf öffentlichen Druck hin outete er sich 1995 als lesbisch. 2008 begann Bono mit der Geschlechtsangleichung, einer Entwicklung, die im Dokumentarfilm «Becoming Chaz» gezeigt wird. 2011 nahm Bono als Kandidat in der Sendung «Dancing with the Stars» teil. Das war das erste Mal, dass ein Transmensch in einer US-TV-Sendung auftrat, ohne dass es explizit um Trans* ging.

Bild: flickr / Joren Komen

Anohni (Antony Hegarty)

Die Sängerin der Band Antony and the Johnsons wurde 1971 in England geboren und wuchs im Raum San Francisco auf. Hegarty besingt ihre Geschlechtsidentität unter anderem im Song «For Today I Am a Boy». Vom Magazin «Flavorwire» auf ihr Geschlecht angesprochen, sagte sie: «In meinem Privatleben bevorzuge ich weibliche Pronomen. Ich denke, Wörter sind wichtig. Jemanden mit dem von ihm gewählten Geschlecht anzusprechen, würdigt seinen Geist, sein Leben und seine Errungenschaften.» 

Bild: flickr / Walt Disney Television

Caitlyn Jenner

Die zurzeit bekannteste Transfrau wurde 1949 als William Bruce Jenner in New York geboren. 1976 gewann sie an den Olympischen Spielen Gold im Zehnkampf. Als Vater von Kendall und Kylie sah man sie in «Keeping Up with the Kardashians». Im April 2015 outete sich Jenner in der ABC-Show «20/20» Diane Sawyer gegenüber öffentlich als Transfrau. Dafür erhielt sie viel Lob, selbst das Weisse Haus gratulierte zum «mutigen Schritt». Jenner setzt es sich zum Ziel, für die Rechte von Transmenschen einzustehen.