Der Soundtrack unseres Lebens

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Seit Fernsehserien immer besser wurden, hat sich auch die Arbeit der Musiksupervisoren verändert: Sie stellen den Soundtrack aus bereits bestehenden Songs zusammen, statt generische Filmmusik zu verwenden.

Von Murièle Weber (FRAME)

Essenzielle Bestandteile für den Seriengenuss sind nicht mehr nur ein Fernseher und ein Sofa, sondern auch eine App namens Shazam. Mit ihr kann man die Titel von Songs aufspüren, die man in einer Bar oder eben vor dem Fernseher hört. Wenn Shazam jährlich die am häufigsten gesuchten Stücke vorstellt, finden sich darunter immer häufiger Titel, die in Serien eingespielt werden, besonders oft werden die Lieder aus «Gray’s Anatomy» gesucht.

Seit es das Kino gibt, wird es von Musik begleitet. Sie verleiht den bewegten Bildern eine emotionale Färbung und widerspiegelt das Innere einer Person. Mittlerweile ist es so, dass viele Filme in der kollektiven Erinnerung auch und vor allem über ihre Filmmusik existieren. Was wäre «Star Wars» ohne die bedrohlichen Fanfaren? Oder der «Weisse Hai» ohne die dramatischen Streicher? Musik und Film verschmelzen zu einer unlöslichen Einheit. 

Für seinen Independentfilm «The Graduate» (1967) liess Mike Nichols als Erster nicht nur Musik komponieren, sondern setzte auch viele bereits bestehende Folksongs ein – zum Beispiel «The Sound of Silence» von Simon & Garfunkel. Radiostationen spielten den Soundtrack Tag und Nacht, was den Musikern zu Erfolg verhalf und Gratiswerbung war für das Coming-of-Age-Drama. Dass Nichols mit bestehenden Songs arbeitete, lag auch daran, dass dies damals billiger war, als einen Komponisten und ein mehrköpfiges Orchester zu bezahlen. Breite Akzeptanz fand dieses Konzept aber lange nicht. Wenn Regisseure bestehende Musik für ihre Filme verwendeten, dann meist, weil sie die Geschichte damit in einer bestimmten Zeit – die sechziger Jahre in «Dirty Dancing» (1987) – oder an einem Ort – jamaicanischer Reggae in «The Harder They Come» (1973) – verankern wollten.

Tarantino macht es vor

Dann kam Quentin Tarantino, der nicht nur den Filmkanon auswendig kennt, sondern auch eine über 10000 Alben umfassende Musiksammlung besitzt. Mit seinen Filmen wie «Pulp Fiction» (1994) oder «Inglourious Basterds» (2009) hat er sowohl alternde Schauspieler wie John Travolta und Kurt Russell vor dem Vergessen bewahrt als auch obskure Songs. Er hat vorgemacht, wie man bestehende Musik im Film einsetzt, damit sie einen bleibenden Eindruck hinterlässt: Die Folterszene in «Reservoir Dogs» (1992) wäre nicht halb so verstörend ohne den überdrehten Klang von «Stuck in the Middle with You» der Band Stealers Wheel. Und das ominöse Stück «Misirlou», eigentlich ein Volkslied aus dem Nahen Osten und in «Pulp Fiction» in einer Garage-Surf-Version zu hören, ist seither fest in der Popkultur verankert. 

Noch stärker als Tarantino haben jedoch die Fernsehserien die Musikauswahl verändert. Bis in die achtziger Jahre gab es in diesen Programmen meist komponierte Musik. In den neunziger Jahren gingen Serienmacher dazu über, bestehende zeitgenössische Musik zu verwenden, häufig solche von Indiebands, dem Musikgeschmack der Zielgruppe entsprechend, beispielsweise für «Friends» oder das Teenie-Drama «My So Called Life». 

Anfang des neuen Jahrtausends wurden die Serien inhaltlich und in ihrer Umsetzung besser, und ihre Macherinnen und Macher verwendeten auch mehr Zeit auf die Musikauswahl. In «Six Feet Under», «The Wire» oder «The Sopranos» etwa hörte man viele exzentrische Stücke. In den letzten Jahren hat sich diese Entwicklung noch stärker ausgeprägt. Es wird jetzt kaum mehr komponiert, sondern vielmehr kuratiert. Das heisst: Musiksupervisoren suchen nach bestehenden Songs, die ins Konzept einer Serie passen. Inzwischen erklingt die Musik in Serien nicht mehr nur im Hintergrund, um die Handlung zu unterstützen. Heute ist sie vielmehr ein Gestaltungselement. So wie früher ein Schauplatz der Handlung wie eine eigenständige Figur wahrgenommen wurde – etwa das kleine Städtchen Twin Peaks aus der gleichnamigen Serie von David Lynch –, so eigenständig wirkt heute die Musik. «Peaky Blinders» beispielsweise lebt von Songs, die von Nick Cave, PJ Harvey oder Iggy Pop stammen, Künstlern also, die sich jenseits des Mainstream bewegen.

Musik als roter Faden

Da immer mehr bestehende Songs verwendet werden, hat sich die Arbeit der Musiksupervisoren stark verändert. Zuerst waren diese hauptsächlich damit beschäftigt, die Lizenzen für die verwendeten Lieder einzuholen. Je wichtiger die Musik wurde, desto kreativer wurde ihr Beruf: Sie bekamen den Auftrag, nach geeigneten ausgefallenen Songs zu suchen.

Heutzutage kümmern sich Musiksupervisoren je nach Projekt um Lizenzierung und Recherche, ausserdem sind sie oft auch das Bindeglied zwischen Regie und Komponisten. In vielen Fällen entwickeln Musiksupervisoren ein individuelles Konzept, das komponierte Musik und bestehende Songs miteinander vereint. 

Die Britin Catherine Grieves (Interview S. 49) übernahm diese Arbeit für «Killing Eve» von Phoebe Waller-Bridge. Die Serie ist komplex: gewalttätig, lustig, sie lebt von vielen emotionalen Momenten. Musikalisch sei diese Vielfalt schwierig abzubilden, sagt Grieves. Um einen musikalischen roten Faden zu entwickeln, wollte sie mit einem Komponisten zusammenarbeiten. Auf ihren Vorschlag hin holten die Produzenten David Holmes dazu, der schon die Musik für «Ocean’s Eleven» komponiert hatte. 

Da «Killing Eve» in verschiedenen europäischen Ländern spielt, verbrachte Catherine Grieves viel Zeit damit, sich Songs in fremden Sprachen anzuhören, und stiess dabei auf Perlen wie das französische Chanson «Roller Girl» von Anna Karina oder auf eine niederländische Version von «Angel of the Morning», im Original von Juice Newton. Ihre Song-Auswahl wurde schliesslich angereichert mit Stücken von David Holmes’ Band Unloved, die vor allem dunkle Synthie-Musik beigesteuert hat. 

Grieves, Holmes und alle Beteiligten einigten sich schliesslich auf einen Soundtrack, der aus Songs der sechziger Jahre besteht oder davon inspiriert ist, weil das am besten zur visuellen Ästhetik der Serie passt. 

Wer sich mit Musiksupervisoren unterhält, hört viele abenteuerliche Geschichten darüber, wie sie an die Rechte von Songs kamen: «Als ich einen über 90-jährigen Komponisten anrief, sagte der, er stehe gerade unter der Dusche, ich solle später mit einem Scheck vorbeikommen», erzählt Robin Urdang lachend. Die Amerikanerin arbeitet hauptsächlich für Indie-Filmproduktionen, zuletzt etwa für das Drama «Call Me by Your Name» von Luca Guadagnino.

Für die Serie «The Marvelous Mrs. Maisel» von Amy und Dan Palladino, die in den fünfziger Jahren spielt, suchte Urdang nach aussergewöhnlicher amerikanischer, französischer und jüdischer Musik von damals, die an Musicals erinnert und der Serie eine extravagante Naivität verleiht. 

Songs erzählen eigene Geschichten

Nicht nur die Recherche und das Abklären von Lizenzen sind aufwendig. Es ist auch kompliziert, bereits bestehende Songs und deren Songtexte mit den Filmdialogen in Einklang zu bringen. Passende instrumentale Musik dazu zu kreieren, wäre einfacher. Serienmacher setzen trotzdem gern auf bestehende Songs, weil diese in sich abgeschlossene kurze Geschichten erzählen, die oft schon eine ganze Welt in sich tragen. Wenn sich die Geschichte des Liedes mit den Bildern einer Szene verbindet, entwickelt diese eine Wucht, die uns Zuschauerinnen und Zuschauer ergriffen nach dem Handy greifen lässt, um Shazam zu öffnen. 

Ein solcher Moment findet sich in der ersten Staffel von «Killing Eve», als die Auftragskillerin Villanelle (Jodie Comer) der MI6-Agentin Eve (Sandra Oh) als Ausdruck ihrer Bewunderung einen Koffer voller neuer Kleider schickt. Einige Tage zuvor hat Villanelle Eves besten Freund umgebracht. Als Eve den Koffer aufmacht, läuft im Hintergrund «Psychotic Beats» von den Killer Shangri-Lahs. Diese singen: «I had to kill you / I’m really sorry / Was it so much fun?» Die Musik entlarvt die Dimension dieser Beziehung der beiden Frauen, die zwischen Anziehung und Schrecken schwankt. 

Die Beatles sind zu teuer

Um solche Effekte zu erreichen, suchen Musiksupervisorinnen nach Musik, die einzigartig ist, viel ausdrückt und ein emotionales Gewicht hat. Die Zuschauer wollen nicht bereits Bekanntes hören, sondern überrascht werden. Kommt hinzu, dass die Rechte von zu bekannten Songs oft einfach zu teuer wären. Darum hört man in Filmen selten Lieder von Queen oder den Beatles.

Der Schweizer Pirmin Marti von Mojo3 arbeitet für die neue SRF-Serie «Frieden» oder den Kinofilm «Platzspitzbaby». Er kennt das Budgetproblem: «Regisseure sagen mir, welche Art von Musik und Stimmung sie wollen, und die Produzenten definieren, was sie bezahlen können. Daraufhin mache ich Vorschläge, die ins Budget passen und das Konzept des Projekts musikalisch unterstützen.» Dabei ist viel Kreativität und Zugang zu Liedern gefragt, deren Rechte einfach erhältlich sind, und bei hiesigen Produktionen wird auch Schweizer Musik wieder wichtiger. Für die Serie «Seitentriebe» von Güzin Kar (die 2.Staffel läuft ab Oktober auf SRF) entschieden sich die Macherinnen dafür, fast ausschliesslich auf inländische Musik zu setzen. «Der Rest der Beteiligten kommt aus der Schweiz, da ist es naheliegend, auch bei der Musik auf einheimische Talente zu setzen und als Bonus die hiesige Musikszene zu unterstützen.» 

Würdigung bei den Emmys

Inzwischen ist die Arbeit der Musiksupervisoren so wichtig geworden, dass es bei den Emmys, dem amerikanischen Fernsehpreis, seit 2017 die Kategorie «Outstanding Music Supervision» gibt. Robin Urdang hat letztes Jahr zusammen mit den Autoren Amy und Dan Palladino für den Soundtrack von «The Marvelous Mrs. Maisel» gewonnen. Dieses Jahr sind sie für die zweite Staffel nominiert. Sie treten an gegen «Russian Doll», «Better Call Saul», «Fosse/Vernon» und «Quincy».

Filmmusik-Wettbewerb

Der internationale Filmmusikwettbewerb, veranstaltet vom ZFF, dem TonhalleOrchester Zürich und dem Forum Filmmusik, findet dieses Jahr zum 8. Mal statt. 321 Komponistinnen und Komponisten aus 46 Ländern reichten Musik zum 5-minütigen Kurzfilm «Danny and the Wild Bunch» von Robert Rugan ein. Uraufführung der Arbeiten: 28. September, Tonhalle Maag, Zürich

Da hört man noch was

Malaka Hostel am Festival des Arcs 2019, Foto: Mike Enichtmayer

Grosse Open Airs mögen mit Stars punkten. Aber sie sind teuer und überlaufen. Die Alternative: An kleinen familiären Festivals lassen sich die Berühmtheiten von morgen entdecken.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Jetzt, wo der Sommer endlich seine noch zarten Fühler ausstreckt, strömen wieder Horden von bleichen Menschen an die Sonne. Damit hat auch offiziell die Saison der Open Airs begonnen. Wer keinem der grossen Freiluft-Musikfestivals wie St. Gallen, Zürich, Paléo, Frauenfeld oder Greenfield die Treue geschworen hat, ist dieses Wochenende vielleicht an den alternativen Anlass par excellence gepilgert: die Bad Bonn Kilbi in Düdingen bei Freiburg. Tickets für diese Veranstaltung waren aber so heiss umkämpft, dass sie in Gold aufgewogen werden könnten. 

Darum lohnt sich ein Blick auf die Alternativen. Da reicht die Spannbreite von ganz kleinen Open Airs mit ein paar hundert Leuten am Tag, wie dem Rock Sedrun in Graubünden, bis zu den Grossen unter den Kleinen, wie dem Lakelive in Biel mit bis zu 10 000 Besuchern täglich. Viele dieser Anlässe sind irgendwann bei einem Bier im Freundeskreis gegründet worden oder einfach dem Wunsch entsprungen, auch kleineren Bands Auftritte zu ermöglichen. Das merkt man bis heute. Jedes der hier vorgestellten Open Airs ist regional verankert und setzt auf ein gutes Verhältnis zur lokalen Bevölkerung. Diese unterstützt die Anlässe oft, sei es durch Gönnerbeiträge, Sach­spenden und Landvermietung für wenig Geld – oder zumindest mit einer hohen Lärmtoleranz.

Disco im Apfelkeller

Ökologie ist allen diesen Festivals sehr wichtig. «Bei Nahrungsmitteln, Getränken, Kleidern und Baumaterialien achten wir auf biologischen Anbau, faire Produktionsbedingungen und wenn möglich regionale Bezugsquellen», sagt Martin Bürgin vom Organisationskomitee des Festival des Arcs bei Ehrendingen. Diese Achtsamkeit erstreckt sich auch auf andere Bereiche der Festivalorganisation. So hat zum Beispiel das Open Air Schlauer Bauer in Wetzikon mit Blinden und Gehbehinderten zusammengearbeitet, um das Gelände auch für sie zugänglich und sicher zu machen. Ihren Erfahrungsschatz haben sie an einem Workshop den anderen kleinen Festivals vermittelt. «Der Wille, sich gegenseitig zu unterstützen, ist gross in der Szene. Wenn irgendwie möglich, helfen wir einander und besuchen uns gegenseitig», meint Bürgin.

Die kleinen Open Airs können oft mit aussergewöhnlichen Standorten begeistern. Das Open Eye übernimmt für ein Wochenende einen Bauernhof in Oberlunkhofen im Aargau, der Apfelkeller wird dabei zur Disco und der Miststock zur Bar. Das Quellrock in Bad Ragaz nistet sich in einer Burgruine ein, von der aus man einen wunderschönen Blick auf die umliegenden Berge hat. An manchen Festivals werden nicht nur Zelte aufgebaut, sondern ganze Häuserkonstruktionen gezimmert und aufwendig dekoriert. Das Clanx-Festival im Appenzell setzt beispielsweise auf einen feuerspeienden Fahnenmast, während das B-Sides in Kriens bei Luzern gleich einen ganzen Holzturm aufs Gelände setzt. 

Im Zentrum steht natürlich die Musik. Es wird viel Zeit aufgewendet, um über persönliche Kontakte oder den Besuch von anderen Festivals und Konzerten die passenden Künstler für das eigene Festival zu gewinnen. Damit decken sie die ganze Spannbreite ab von Rock über Latin und Folk zu Afrobeats bis Elektro. Dabei setzen einige Open Airs auf bekannte Namen wie das Lumnezia in Graubünden mit Limp Bizkit und Mando Diao. Das B-Sides hat die Wortkünstlerin Kate Tempest eingeladen und das Lakelive in Biel Hecht und Lo & Leduc. 

Der grosse Vorteil von kleinen Open Airs ist die Möglichkeit, für verhältnismässig wenig Geld noch relativ unbekannte Talente zu entdecken oder sich Musiker und Musikerinnen anzuhören, die nur einen Nischengeschmack bedienen, wie zum Beispiel das Frauenduo Mokoš am Festival des Arcs, das seine Musik als Piraten-Folk bezeichnet. Weil die Anlässe noch klein sind und wenig Geld zur Verfügung haben, sind sie auf die freiwillige Arbeit von vielen angewiesen, die sich wiederum dem Festival verbunden fühlen und mit Freunden und Familie daran teilnehmen. Das trägt zur für sie typischen familiären Stimmung bei. «Wir investieren viel in die Atmosphäre und das Gefühl des Zusammenhalts zwischen den Teilnehmern, aber auch den Künstlern», sagt Martin Bürgin. «Vor einigen Jahren zum Beispiel gaben wir allen Besuchern ein Stück Holz, mit dem sich alle am Bau einer Skulptur beteiligen konnten, die wir am Ende abgebrannt haben. Aber auch sonst endet der Abend oft damit, dass die Leute zusammen um eines der Lagerfeuer sitzen.»

Konzerte für Kinder

Nicht bei allen Festivals geht es nur um die Musik: «Wir laden Akrobaten, Autoren und Theaterleute ein, die selber etwas aufführen oder mit dem Publikum interagieren», beschreibt Bürgin das Festival des Arcs. Das B-Sides wiederum veranstaltet Vernetzungsanlässe, und das Lakelive organisiert auch Sportaktivitäten und Jassturniere. Kleine Festivals richten sich auch nicht nur an Jugendliche und Junggebliebene, sondern auch an Familien. Viele organisieren extra etwas für die ganz Kleinen. Am Donnerstagnachmittag finden am Openair Etziken bei Solothurn beispielsweise Kinderkonzerte statt, ebenso haben das Festival des Arcs, Lakelive, Clanx, Open Eye und Rock Sedrun solche Angebote, die auch mal die Arbeit mit Akrobatinnen oder das Basteln und Informationsworkshops über Ökologie umfassen. 

Die Romandie hat neben schönem Wetter und dem grössten Open Air der Schweiz, dem Paléo, auch viele phantastische kleine Festivals. Das Hors Tribu in Môtiers mit 700 Besuchern am Tag gehört zu den ganz kleinen. Da es im Herzen des Absinth-Landes organisiert wird, gibt es am Anlass die Möglichkeit, die grüne Fee vor Ort zu degustieren. In Genf wiederum findet das À la pointe X Festival JonXion für Elektromusik auf einer kleinen Brache am Kreuzungspunkt zwischen Rhone und Arve statt. 

Anstatt sich diesen Sommer an den immergleichen Quartierfesten in Zürich die Beine in den Bauch zu stehen, während man eine halbe Stunde auf sein Bier warten muss, warum nicht wieder einmal den Schlafsack und das Zelt packen und für ein Wochenende mit den Freunden oder den Kindern in die Romandie oder die Bündner Berge ziehen?


Lakelive am Bielersee

Das grössere und kommerziellere Lakelive findet dieses Jahr an den Wochenenden vom 26. Juli und dem 3. August am Bielersee statt. Musikalisch funktioniert das Festival nach dem Motto «Für jeden hat es etwas». Neben der Opening Night mit Mando Diao gibt es eine Latin Night, eine Urban Night und eine Swiss Night. Das Gelände ist in drei Abschnitte unterteilt: An der «Sandy Beach» steht eine Bühne, und man hat die Möglichkeit, Kanus oder Stand-up-Paddles zu nutzen. Am «Meeting Point» gibt es Kinderaktivitäten und eine Zirkusbühne, und auf der «Show Stage» finden die grossen Konzerte statt. Für 5 Franken kann man ein Ticket nur für den Strandteil kaufen. Das Ticket für alle Konzerte kostet zwischen 65 und 79 Franken pro Tag. Hinter dem Lakelive steht kein Freundeskreis, sondern eine Agentur.

Week-end au bord de l’eau in Siders

Das Festival findet dieses Jahr vom 28. bis 30. Juni am Lac de Géronde in Siders statt. Selbst ­britische Festivalratgeber sind schon darauf aufmerksam geworden. Musikalisch wird es unter anderem vom welschen Radiosender Couleur 3 geprägt, dessen Musikredaktor DJ Joh mit seinem urbanen Sound ­präsent ist und einen Mix aus House, Elektro und Hip-Hop auflegt. Daneben finden sich andere Elektro-Künstler, auch etwas Lo-Fi, Disco und Afro-Beat. Im Grunde alles, wozu man tanzen kann. Die Veranstalter kommen aus der Gegend und haben an diesem See auch ihre eigene Jugend verbracht. Es gibt einen Campingplatz in der Nähe, und mit 79 Fr. für drei Tage ist das 2500-Personen-Festival ein Highlight. Das Schwimmen im kleinen See ist zwar erfrischend, aber man entsteigt ihm gern mit einem Pollenpelz überzogen.

Wenn die TV-Serie zur Playlist wird

Foto: Pexels, Andre Moura

Bei ihrer Musikauswahl richten sich die Leute immer häufiger nach ihrer Lieblingsserie. Das ist besonders für Bands abseits des Mainstreams eine Chance. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Wer sich vor den Zeiten des Internets einen bestimmten Song anhören wollte, musste sich oft physisch mächtig ins Zeug legen. Jahrzehntelang hatten viele Menschen immer eine leere Kassette eingelegt, um dann blitzschnell zum Recorder zu hechten, wenn das gewünschte Stück im Radio lief. Das Internet hat das wie so vieles vereinfacht. Gefällt einem in der Bar, im Radio oder am Fernsehen ein Lied, zückt man das Handy und sucht über die App Shazam den Titel, bevor man den Song direkt über die App in seinem Spotify-Account ablegt, um ihn dann später wieder anzuhören. 

Die Art und Weise, wie und wo wir Musik entdecken, hat sich verändert. Neue Melodien können überall aufgespürt werden und sind auf Knopfdruck zugänglich. Noch immer gehen die wenigsten Menschen gezielt auf die Suche nach neuer Musik, stöbern in Plattenläden, lesen Musikblogs oder hören sich durch obskure Playlists. Meistens ist es der Alltag, der zu Entdeckungen führt. Dabei entwickelt sich besonders das Fernsehen als Goldgrube. Denn mit dem neuen goldenen Zeitalter der TV-Serien hat sich nicht nur die filmisch-narrative Qualität des Mediums exponentiell erhöht, sondern auch der Anspruch an die musikalische Untermalung.

Qualität der Serienmusik steigt

Audiovisuelle Medien waren schon immer ein fruchtbares Feld für Musik. Bild und Ton wirken zusammen. Die wenigsten Filme funktionieren ohne passenden Soundtrack, weil Musik immer auch Gefühle erzeugt. Neu ist die gesteigerte Qualität der Musikauswahl in Serien. Immer mehr Menschen suchen deshalb im Internet und über Apps nach Songs aus ihren Lieblingsshows. 

Auf der Website Tunefind kann man gezielt nach Liedern aus Lieblingsserien suchen. Die Seite gibt in Zusammenarbeit mit Shazam und Nielsen Music jedes Jahr die Top-Listen der am meisten gesuchten Soundtracks heraus. 2018 wie schon 2017 stand «Grey’s Anatomy» an erster Stelle, dann folgte die Jugendserie «Riverdale». 2018 wurde die amerikanische Sängerin Lauren Daigle, deren Song «Rescue» in «Grey’s Anatomy» lief, am häufigsten gesucht. In der Vergangenheit wurde bereits die britische Band Snow Patrol von dieser Show transportiert. Von den Schweizern hat besonders die Basler Band Zeal & Ardor, die Heavy Metal und Gospel mischt, davon profitiert, dass ihre Musik in US-Serien lief, nämlich in «Fortitude» oder «Underground».

Seit Musik über das Internet so einfach zugänglich ist, nicht zuletzt via Youtube, kaufen weniger Menschen Tonträger. Künstler sind deshalb interessiert an anderen Einnahmequellen und haben weniger Hemmungen, ihre Musik von anderen nutzen zu lassen. Die diesjährige Ausgabe des Newcomer-Festivals M4Music hat das grosse Potenzial erkannt und dazu ein Podium veranstaltet. Die fünf anwesenden Experten betonten, dass Filme- und Serienmacher weniger an den grossen Hits interessiert sind, sondern viel Energie darauf verwenden, Musik zu finden, die unbekannt ist und speziell klingt.

«Das x-te Mal einen Rolling-Stones-Song reinzuklatschen, das interessiert jetzt ­wirklich niemanden mehr», erklärte Martin Todsharow. Er arbeitet als Musiksupervisor und ist damit zuständig für die Auswahl der Musik für Filmsoundtracks. «Regisseure und Produzenten fühlen sich geehrt, wenn sie einen Song bekommen, der bis anhin noch nicht veröffentlicht wurde oder wenig bekannt ist.» Ausserdem verwies Todsharow darauf, dass die Budgets der Produktionen oft kleiner sind als früher und daher weniger Geld für grosse Musikdeals zur Verfügung stehen. Das bietet besonders kleineren Bands und unbekannten Musikern eine Chance.

Wenn Serienmacher einen eklektischen Musikgeschmack haben, kommt das auch Schweizer Musikern zugute. Als Ezra Koenig, der Sänger der amerikanischen Band Vampire Weekend, 2017 seine eigene Serie «Neo Yokio» produzierte, wählte er das schweizerdeutsche Lied «Campari Soda» von Taxi. «Er kannte den Song bereits und wollte ihn unbedingt haben», erzählt Pirmin Marti von der Schweizer Musikagentur Mojo 3. Marti wohnt mittlerweile in San Diego und vermittelt dort sogenannte Sync-Deals – also Musik für audiovisuelle Medien. 

Auch der Zürcher Latin-Pop-Sänger Loco Escrito schaffte es in eine amerikanische Serie, in «Shut Eye». Die Lausanner Rapper Sens Unik wiederum waren in der Serie «Legends» zu hören. Und auch Schweizer Musikhörer entdecken ihre eigenen Künstler. Für Güzin Kars Serie «Seitentriebe» wurde hauptsächlich Schweizer Musik verwendet. 

Individueller Musikgeschmack

Der Bedarf der Serien an passenden Songs fördert auch Bands abseits des Mainstreams. Der Grund: Es gibt es viel mehr Serien als je zuvor. Das erhöht die Notwendigkeit, ein sehr spezifisches, individuelles Produkt zu kreieren. Das führt zwar zu einem kleinen Nischenpublikum, dafür aber zu einer treuen Anhängerschaft. Wer den Humor mit den Serienmachern gemein hat, teilt oft auch deren Musikgeschmack. Kleine Serien sind deshalb musikalisch gut kuratierte Insider-Playlists. Besonders der Abspann hat sich bewährt. Während die Titelmusik fix ist und die Musik in den Szenen zur Handlung passen muss, haben die Serienmacher am Ende mehr Freiheiten. 

Die Wichtigkeit der Musikauswahl, also nicht der eigens für die Serie komponierten Musik, hat nun auch die Branche erkannt. 2010 wurde die Guild of Music Supervisors gegründet, die jedes Jahr die Besten der Branche prämiert. 2017 vergaben die Emmys – der wichtigste Preis im Fernsehgeschäft – zum ersten Mal eine Auszeichnung für die besten Musik-Supervisoren. 2017 erhielt Susan Jacobs den Emmy für die Serie «Big Little Lies», 2018 Robin Urdang für «The Marvelous Mrs. Maisel». Auch hier zeigt sich, dass das Fernsehen dem Film um Längen voraus ist: Die Oscars nämlich anerkennen diese Arbeit noch nicht.

Open Air hat’s schwer

Foto: Pexels, Jonathan Borba

Im Festivalsommer 2018 kämpfen Veranstalter mit Lokalgroove und besonderen Angeboten um jeden Besucher. Doch jetzt drängen auch noch finanzkräftige ausländische Konkurrenten auf den Markt?

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Die Saison des Schlamms und der Sonnenbrände hat wieder begonnen. Alle paar Kilometer versammeln sich Menschen, um unter freiem Himmel die Musik oder zumindest die sommerlichen Temperaturen zu geniessen. Die Palette reicht vom Paléo Festival in Nyon, dem grössten mit insgesamt 230 000 Besuchern an sechs Tagen, über das Zürich Open Air mit 80 000 Gästen an vier Tagen bis zu ganz kleinen Veranstaltungen wie dem Blues Rules in Crissier.

An den grossen Open Airs werden jedes Jahr aufs Neue komplexe Welten erstellt und nach wenigen Tagen wieder abgerissen. Am Paléo Festival dauern Auf- und Abbau vier beziehungsweise drei Wochen. Jeden Tag sind dort und am Open Air Frauenfeld um die 50 000 Personen auf dem Gelände. Das entspricht etwa der Einwohnerzahl der Stadt Biel. Dafür müssen Anreise, Infrastruktur, Künstler, Sicherheit und Gastronomie organisiert werden. 

Die vier Grossen – Nyon, Frauenfeld, Zürich und St. Gallen – bestätigen alle, dass der grösste Ausgabenposten für Infrastruktur, Komfort, Abfall und Sicherheit anfällt. Das sind im Schnitt 50 Prozent des Gesamtbudgets. Bei einem Grossanlass wie dem Paléo macht das immerhin 13 Millionen Franken aus, in St. Gallen sind es 5 Millionen. Das sind grosse Summen. Alle vier sagen auch, dass die Sicherheitskosten in den letzten Jahren im Zuge von gesellschaftlichen und technischen Veränderungen gestiegen sind.

Für die Künstlergagen und den Aufbau der Bühnen wird dagegen deutlich weniger ausgegeben: Beim Paléo Festival sind es 27 Prozent, beim Open Air St. Gallen sogar nur 22 Prozent des Gesamtbudgets. Man hätte gerne gewusst, wie viel das Zürich Open Air dafür ausgibt, weil die Veranstaltung seit ihrem Start 2010 immer wieder mit grossen Namen lockt. Dieses Jahr sind es der Rap-Gott Kendrick Lamar, der einen prestigeträchtigen Pulitzerpreis erhalten hat, und Imagine Dragons, die Band, die 2017 bei Spotify weltweit am dritthäufigsten gespielt wurde. Aber leider veröffentlichen die Zürcher genauso wenig Zahlen wie das Open Air Frauenfeld. Nyon und St. Gallen legen offen, dass sie über 50 Prozent durch Tickets einnehmen, etwa 25 Prozent aus dem Verkauf von Essen und Getränken und rund 18 Prozent über Sponsoring und Merchandising.

Irrwitzige Honorare für Bands

Seit etwa zehn Jahren steigen die Gagen der Künstler kontinuierlich. «Der Markt ist sehr vital, es gibt unzählige Festivals. In Amerika hat es sogar eine richtige Renaissance gegeben. Aufgrund dieses Angebots ist die Nachfrage nach Bands dermassen erhöht, dass teilweise irrwitzige Summen gezahlt werden», sagt Christof Huber, der Festivaldirektor des Open Airs St. Gallen. Das Festival hat sich mit anderen Veranstaltern und Musikagenturen zur Dachmarke Wepromote zusammengeschlossen. Das verschafft ihnen Zugang zu Klubs, Konzerthallen und Veranstaltungen und den Musikern die Möglichkeit, eine ganze Tournee statt einzelner ­Konzerte zu organisieren.

Die Veranstalter reagieren damit auf global agierende Medienunternehmen wie das amerikanische «Live Nation», das für Künstler massgeschneiderte Tourneen in eigenen Hallen und an eigenen Festivals organisiert und dafür immer öfter Exklusivität erwartet. Unabhängige Festivals haben es da schwer. Seit 2017 ist Live Nation auch der Mehrheitsaktionär am Open Air Frauenfeld. «Durch den Einstieg von Live Nation sind wir Teil eines grossen Netzwerks geworden. So können wir weiterhin eine hohe Qualität des Programms mit internationalen Superstars wie Eminem garantieren», sagt Joachim Bodmer, der Pressesprecher des Open Airs Frauenfeld, und bestätigt damit indirekt, dass das vorher schwierig wurde. Dany Hassenstein, der Programmgestalter des Paléo, sieht darin noch kein grosses Problem, aber eine Gefahr für die Zukunft: «Wir beobachten diese Konglomerate sehr kritisch. Im Moment ist der Markt noch unter Kontrolle der Agenten. Aber in Frankreich sehen wir schon, dass Independentfestivals oft das Nachsehen haben.»

Unter diesen Umständen ein Musikprogramm zusammenzustellen, ist anspruchsvoll. «Es ist definitiv kein Wunschkonzert», sagt Rolf Ronner, der Festivaldirektor des Zürich Open Air. Die Veranstalter müssen abklären, wer im Sommer in Europa auf Tournee ist. Die Zeiten, als Künstler extra für ein Konzert in die Schweiz flogen, sind vorbei. Auch hier hilft Vernetzung: «Wir haben ein grosses Netzwerk aus Journalisten, anderen Veranstaltern und Agenten. Mit denen tauschen wir uns aus. Dann orientieren wir uns auch an den Ticketverkäufen der Künstler und an den sozialen Netzwerken. Und wir schauen uns ihre Konzerte live an», beschreibt Hassenstein den Prozess.

Das Open Air St. Gallen lässt hingegen auch das Publikum mitreden. «Wir machen ausgedehnte Umfragen nach Stilrichtungen und wollen wissen, welche Bands gewünscht sind. Wir waren selber davon überrascht, dass das Publikum oft solche bevorzugt, die bereits vor einem Jahr bei uns aufgetreten sind», sagt Huber. «Mit der Planung beginnen wir dann bereits ein Jahr zuvor.»

Wie wichtig die Bands für ein Festival sind, ist nicht klar. Viele Umfragen bestätigen, dass nicht immer die Künstler den Ausschlag für den Ticketkauf geben. Ans Paléo kommen nur zwei Prozent aller Besucher aus der Deutschschweiz, über 90 Prozent reisen aus der Romandie an und rund acht Prozent aus dem grenznahen Frankreich. «Das Festival ist in der Region sozial verankert. Wir haben knapp 5000 Freiwillige, die mitarbeiten und oft ihre Freunde und Familien mitbringen. Ausserdem haben wir rund 80 Bars auf dem Gelände, von denen ein Grossteil von Sportklubs aus der Region betrieben wird», sagt Hassenstein. Nebenbei setzt das Paléo auf kunstvolle Bauten, unter anderem von der Fachhochschule Westschweiz. Das Festival lädt Artisten und Gaukler ein und erlaubt NGO, dem Publikum ihre Anliegen zu präsentieren; dieses Jahr zum Beispiel der «SOS Mediterranée Suisse», die mit ihrem Schiff Aquarius Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettet.

«Trash-Heroes» gegen Abfall

Auch das Open Air St. Gallen ist lokal verankert und hat ein loyales Publikum. Das Open Air Frauenfeld, das ausschliesslich auf Hip-Hop, R’n’B und Reggae setzt, investiert ins Ambiente. «Wir bieten dem Gast ein Gesamterlebnis. Unsere Bühne ist 124 Meter lang und sieht aus wie die Skyline einer Grossstadt. Das Festival ist ein wenig wie Disney World oder Las Vegas. Für vier Tage kann der Alltag vergessen werden», sagt Bodmer. Das Zürich Open Air wiederum setzt auf Komfort und Sauberkeit, was das ältere und zahlungskräftige Publikum erwartet.

Um der Unsitte, das Zelt nach dem letzten Konzert einfach zurückzulassen, Herr zu werden, hat das Open Air St. Gallen ein Depot eingeführt. Auch in anderen Bereichen setzen die Veranstalter auf Nachhaltigkeit. In St. Gallen werden Mehrwegbecher verwendet, und Trash-Heroes sensibilisieren das Publikum für die Abfallproblematik. Das ist auch dem Paléo Festival wichtig.Während die Veranstalter den Einfluss ausländischer Medienunternehmen wie Live Nation kritisch beobachten, sehen sie die grösste Herausforderung in der Vielzahl der Veranstaltungen in der Schweiz. «Der Markt hat eine Dichte wie wahrscheinlich nirgends sonst auf der Welt», sagt Huber und wird von Hassenstein bestätigt: «Wer sich umhört, spürt, dass es schwieriger geworden ist. Bei den vielen Festivals das eigene Publikum zu behalten, ist wahrscheinlich die grösste Aufgabe.» Da ist es verständlich, dass das Paléo und das Open Air St. Gallen auf ihre Verankerung in der Region achten und das Open Air Frauenfeld auf ein Musik-Genre, nämlich Urban, setzt. Ob das reicht, muss sich zeigen.

So frei wie Prince

Foto: Joe Mabel

Mit ihrem vierten Album, «Dirty Computer», führt Janelle Monáe uns in ihre Traumwelt und feiert ihre afroamerikanische Herkunft.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Musiker stehen im Spannungsfeld zwischen Authentizität und Künstlichkeit. Ein Rapper muss aus dem Ghetto kommen, sonst ist er für sein junges Publikum nicht glaubhaft, und ein Countrysänger sollte zumindest wissen, wie Kuhdung riecht. Gleichzeitig werden sie für ihre Kunstfiguren verehrt. David Bowie ist noch immer am präsentesten als Ziggy Stardust, und der Name Stefani Germanotta sagt den meisten nichts ohne den Zusatz Lady Gaga. 

Diese Figuren werden von den Künstlern genutzt, um die eigene Person zu schützen, wie im Fall von Germanotta, oder die eigene Persönlichkeit zu unterstreichen, wie bei Ziggy Stardust – dem androgynen, bisexuellen Ausserirdischen. In Interviews zum gleichnamigen Album outete sich Bowie nämlich als bisexuell.

Die zierliche, 1,55 Meter grosse Afroamerikanerin Janelle Monáe hat gleich zwei Alter Egos. Für ihre drei ersten Alben kreierte sie Cindi Mayweather, einen rebellischen Androiden, der sich in einen männlichen Maschinenmensch verliebt und gegen eine böse Macht kämpft. Cindi basiert auf dem Roboter Maria aus Fritz Langs Stummfilm «Metropolis». Monáes Androide ist eine Jesus-ähnliche Figur, die ihre Leute retten und zwischen Menschen und Maschinen vermitteln will. Auf Fragen nach ihrer Sexualität antwortete Monáe kryptisch: «Ich verliebe mich nur in Androiden.»

Computer in Menschenform

Seit ihrem letzten Album, «The Electric Lady», sind fünf Jahre vergangen. In der ­Zwischenzeit hat sie ihre Schauspielkarriere lanciert: als Freundin des Drogendealers in «Moonlight» und als eine der drei Wissenschafterinnen in «Hidden Figures». Für ihr neustes Album, «Dirty Computer», hat sie ein 48-minütiges Video gedreht. Monáe nennt es ein «emotion picture», weil der Film Emotionen auslösen soll. Wie seine Vorgänger erzählt es eine Geschichte.

Monáe feiert in «Dirty Computer» und dem dazugehörigen Film ihre afroamerika­nische Identität und das Frausein, genau wie Beyoncé in «Lemonade». Aber sie bleibt ihrem Afrofuture-Stil treu. Im Afrofuturismus mischen sich Visionen über die Zukunft und die Ästhetik des Science-Fiction-Genres mit afrikanischen Traditionen und Ausdrucksformen sowie der festen Überzeugung von einer besseren Zukunft aller afrikanischstämmigen Menschen. Häufig werden auch nichtwestliche Entstehungsgeschichten der Welt eingeflochten. Besonders einflussreich war der amerikanische Musiker Sun Ra (1914–1993), der sich in seinen Jazzkompositionen mit dem afrikanischen Erbe befasste und sich als Ausserirdischer inszenierte, der auf die Welt kam, um für Frieden zu sorgen. Der Kino-Hit «Black Panther» machte dieses Jahr schliesslich das bereits 60-jährige Genre einem breiten Publikum bekannt.

Für ihr viertes Album, «Dirty Computer», hat die R’n’B-Sängerin die Figur Jane, einen Computer in Menschenform, kreiert. Die Herrscher in diesem Universum behaupten, sie sei mit Viren verseucht, und wollen sie deshalb säubern. Dazu löscht eine Maschine all ihre Erinnerung, damit sie mit sauberer Festplatte neu aufgebaut werden kann.

Sexuelles Comingout

Im Film bestehen ihre Erinnerungen aus den Musikvideos zu ihrem neuen Album, die in die Rahmenhandlung eingearbeitet werden. Wir erfahren, dass Jane eine Frau geliebt hat – deshalb der Säuberungsvorgang. In den Interviews zum neuen Album erklärte Monáe dann zum ersten Mal, pansexuell zu sein, also alle Geschlechter zu lieben. Dies machte «pansexuell» für ein paar Tage zum meistgegoogelten Wort in den USA.

Neben dem Afrofuturismus betont Monáe dieses Mal vor allem ihre Sexualität. In «Pynk» tanzt sie mit anderen Frauen in Leggins, die wie übergrosse Schamlippen aussehen. Die Schauspielerin Tessa Thompson (die Walküre in «Thor: Ragnarok»), von der gemunkelt wird, sie sei Monáes Liebhaberin, steckt ihren Kopf schliesslich zwischen Monáes Beinen hervor, die aussehen wie eine übergrosse Vagina. Und in «Make Me Feel» singt Monáe von Gefühlen, die sie nicht so leicht in Worte fassen kann. «Baby, don’t make me spell it out for you / All of the feelings that I’ve got for you / Can’t be explained, but I can try for you.» Das Musikstück, an dem auch ihr Mentor Prince mit­gearbeitet hat, klingt musikalisch dann verdächtig nach dessen Song «Kiss».

In Interviews erklärt Monáe, das Album mit einer musikalischen Mischung aus R’n’B, Elektro und Rap habe vier Teile. Die ersten fünf Songs stehen für die Abrechnung: Man merkt, als Teil einer Minderheit nicht dazuzugehören. In den nächsten fünf Liedern zelebriert sie das Anderssein als Minderheit. Dann folgen zwei Stücke, in denen sie nochmals Angst hat, ihre wahre Persönlichkeit zu zeigen. Der letzte Track, «Americans», steht für die Rückgewinnung. «Ich bin auch eine Amerikanerin, und ich werde nicht nach Kanada auswandern, sondern bleibe hier in den USA», kommentierte sie den Song.

Die Maske Cindi, die Monáe lange trug, hat sie auf «Dirty Computer» abgelegt. Sie zeigt mehr von sich, traut sich aber nicht, als sie selbst aufzutreten. Deshalb gibt es Jane. Aber Monáe ist dabei, sich zu befreien. Sie sagt: «Ich will totale Freiheit haben, aber Freiheit bekommt man nicht gratis.» Und: «Prince hatte seine eigene verdammte Kategorie. Das will ich auch.» Man würde es ihr gönnen.

Beleidigung ist alles

Foto: Pexels, Aleksandr Neplokhov (Symbolbild)

Beim Battle-Rap geht es darum, den Gegner verbal niederzumachen. Diese Disziplin gerät nun wegen Antisemitismusvorwürfen in Verruf.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Hip-Hop ist die dominierende Jugendkultur. Noch immer. Die Punks gab es nur ein paar Jahre, Grunge auch, und die Techno-­Bewegung macht mit der Street Parade in Zürich noch einmal im Jahr als grösstes öffentliches Besäufnis von sich reden. Aber die Rapper halten sich seit den 1980ern. Und trotzdem gibt es immer noch relativ wenig Wissen über dieses Musikgenre.

Jetzt ist es der Battle-Rap, der die Schlagzeilen beherrscht. Kollegah und Farid Bang haben für ihr Album «Jung, brutal, gutaussehend 3» einen Echo-Preis in der Sparte «Hip Hop/Urban national» bekommen. Weil in ihrem Song «0815» die Zeile vorkommt «mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen», haben andere Preisträger aus ­Protest gegen die antisemitische Äusserung ihren Echo retourniert. Verteidigt wird die Zeile von den Rappern mit dem Hinweis, es handle sich hier um Battle-Rap.

Rap entstand aus sprachlichen Traditionen der Afroamerikaner. Das Spiel der «Dozens» ist ein verbaler Schlagabtausch zwischen zwei Gegnern, eine Art sprachliches Boxen, wobei die eigenen Fähigkeiten und der Selbstwert überhöht und der Gegner beleidigt und herabgesetzt wird. Jeder versucht den anderen mit noch grösseren Beleidigungen, verpackt in intelligenten Sprachwitz, zu übertreffen und die Zuschauer auf seine Seite zu ziehen. Kollegah und der jüdische Rapper Spongebozz haben sich schon oft Schlagabtausche geliefert, die beiden waren sogar befreundet, haben mehrere Songs gemeinsam aufgenommen. Die Tradition der rituellen Beleidigungen stammt aus Westafrika, wo sie noch heute praktiziert werden. So sollen Konflikte und sogar gewalttätige Übergriffe verhindert werden. 

Die «Dozens» leben weiter in den heutigen Rap-Battles. Diese sind quasi die Urform des Hitparadenraps. Diese Battles gibt es auf der ganzen Welt. Wer dort besteht, steigt in den Rap-Olymp auf. Eminem hat sich seinen Ruf und seine Karriere hier erarbeitet. Kool Savas, einer der wichtigsten Rapper Deutschlands, begann so. Und auch Kollegah hat so seine ersten Schritte gemacht. Traditionell werden Rap-Battles live vor Publikum ausgetragen. Das berühmteste ist «Rap am Mittwoch» in Berlin. Es gibt mehrere Runden, einige darf man vorbereiten, im Allgemeinen aber muss improvisiert werden. Es gewinnt, wer mit seinen Reimen den Gegner besonders gewitzt und kunstvoll beleidigt. Das Publikum kürt über Johlen und Klatschen den Gewinner. 

Tabu ist bei diesem Abkanzeln nichts. Es darf über das Aussehen, die sexuelle Orientierung, die Freundin, die Mutter, die Schwester, die Religion, die Nationalität, die Hautfarbe des Gegners hergezogen werden. Und das klingt dann bei Pillath so: «Erzähl mir nicht, dass du weisst, wie man Knete macht, Mädels knackt. Dein Gesicht beweist, dass selbst Gott manchmal Fehler macht.» Das ist im Vergleich ein harmloser Diss. Neben dem Aussehen ist besonders oft die Mutter das Ziel. Das klingt beim deutschen Rapper mit afrikanischen Wurzeln Ssynic dann so: «Dann fick ich deine Mutter wie ein Tier im Stehn. Ich geb ihr nen Klaps wie nem Gaul und reite sie, bis wir Sterne sehn. Du kommst rein, bleibst verärgert stehn. Ich sag, was ist los, hast du noch nie nen Nigger auf nem Pferd gesehn?»

Wird man vom Gegner beleidigt, ist es die höchste Kunst, die Beleidigung umzu­drehen. «Bei meinem Anblick werden sogar Emos wieder lebensfroh. Doch bei seinem Anblick werden sogar Schwule wieder hetero.» – «Schwule werden wieder hetero. Denkst du, sprengst hier mal die Grenze. Hey, nach einer Nacht mit mir, lutschen selbst Lesben wieder Schwänze.»

Man muss einiges aushalten können. Dass die Kontrahenten unter die Gürtellinie gehen, ist nicht nur akzeptiert, es wird erwartet. Da wird behauptet, man habe mehr «Tonträger verkauft als ein afrikanischer Sklavenmarkt». Einem arabischen Kontrahenten wird gesagt, er sei so arm, er müsse sich einen Sprengstoffgürtel teilen. Und dem jüdischen Gegner wird ins Gesicht geschleudert: «Ich würd dich gerne batteln, aber die Gasrechnung wär zu hoch.» Aus dieser Tradition, in der es nur um das (gewitzte) Sprachbild geht, entstammt die Zeile «Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen».

Aber was die Verteidiger des Battle-Raps nicht verstanden haben: Ein Battle entsteht nie im luftleeren Raum. Das Publikum entscheidet, wer gewinnt. Und wer zu weit geht, wird gnadenlos ausgebuht. Es findet eine soziale Kontrolle und Korrektur statt – sofort, unmittelbar. Und so äusserten die Zuschauer beim Reim über die «Gasrechnung» ihren Unmut, und der Rapper hat sich entschuldigt.

Werden Zeilen aus dem Battle-Rap nicht live vor Zuschauern vorgetragen, sondern über Songs verbreitet, fungiert die Öffentlichkeit als Publikum. Und die hat Kollegah und Farid Bang nachträglich die rote Karte gezeigt. Der Schrecken über das Leid der Holocaust-Opfer ist in der Gesellschaft zu Recht unverändert präsent. Natürlich können sich Rapper wie Kollegah auf Kunstfreiheit berufen und alles sagen in Songs und Interviews. Aber das Publikum an den Battles akzeptiert nicht alles und die Öffentlichkeit erst recht nicht. 

Spongebozz

2005

Der jüdische Rapper und Kollegah lernen sich über die Online-Plattform Reimliga Battle Arena kennen und freunden sich an. Kollegah lädt Spongebozz ein, auf dem Stück «Showtime» seines ersten Albums «Zuhältertape» mitzurappen. 

2018

Spongebozz veröffentlicht mit «Yellow Bar Mitzvah» (224 S., 29 Fr.) seine Memoiren. Darin schreibt er auch von seiner Freundschaft und Feindschaft mit Kollegah.

Hier spielt der Nachwuchs

Seit 20 Jahren fördert das m4music-Festival junge Schweizer Musikerinnen und Musiker. Es ist viel bedeutender als die pompöseren Swiss Music Awards.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Die Swiss Music Awards (SMA) mussten auch dieses Jahr wieder Prügel ein­stecken. Jahrelang hat sich der Grossanlass kaum für Frauenförderung interessiert, und nun organisierte er ein Panel zur Frage, ob die Schweizer Pop-Musik ein Frauenproblem habe. Hohn und Spott aus den Reihen der Musikjournalisten und des aufmerksamen Publikums war den Veranstaltern genauso sicher wie das Stirnrunzeln in der Musikbranche.

Die Kritiker spielten die Swiss Music Awards gegen ein anderes Festival aus: das M4Music. Jedes Jahr organisiert das Migros-Kulturprozent an drei Tagen ein Festival, an dem Schweizer Musik im Zentrum steht. Am Donnerstag ist der Anlass jeweils in Lausanne präsent, wobei die Sender Couleur 3 und Virus die Konzerte übertragen, und am Freitag und Samstag trifft sich das gut gestylte Partyvolk im Zürcher Schiffbau. Aber was macht das M4Music richtig, dass so viele Kritiker des Lobes voll sind?

Während die SMA ein Anlass der grossen Labels sind, den die People-Journalisten ausschlachten, treffen sich am M4Music vor allem die kleineren Labels und Künstler. Und da gibt es viel zu reden. Seit seinen Anfängen 1998 setzt das Festival nachmittags deshalb auch auf Panels und Workshops, die öffentlich und gratis sind. Und seit die Musiktauschbörse Napster 1999 online ging, als nur wenige voraussahen, wie sich der Musikkonsum entwickeln würde, organisiert das M4Music Panels zur Digitalisierung der Musik. 2011 wurde dann auch Peter Sunde vom Internetportal The Pirate Bay, das Musik gratis zugänglich macht, eingeladen.

«Die Musikbranche hat mich fast erwürgt», erzählt Festivalleiter Philipp Schnyder, «niemand wollte dem Feind zuhören.» Er und sein Festival bewiesen jedoch mit der Einladung Weitsicht, sie verstanden, wohin sich die Musik bewegte. Während letztes Jahr noch viele Zeitungen in das immergleiche Klagelied einstimmten, Streaming raube der Musik die Seele, stellte das M4Music ein Panel zusammen, das die Vorteile und die Chancen davon aufzeigte. «Wir verwenden viel Zeit darauf, die Conference vorzubereiten», erklärt Schnyder.

Und was sagen die Leute aus der Musikbranche? Die schätzen den Anlass vor allem als Treffpunkt, an dem fast jeder aus dem Schweizer Business und sogar einige Vertreter aus dem Ausland anzutreffen sind, was bei einem kleinen Land wie der Schweiz nicht selbstverständlich ist. Und doch wird moniert, das M4Music möge sich noch etwas mehr um Kontakte zum Ausland bemühen. «Anfangs haben wir sehr europäisch gedacht», gesteht Schnyder. Dann sei ihnen bewusst geworden, dass sie zuerst die Leute aus der Schweiz an einem Ort vereinen mussten. Von Anfang an setzten sie auch auf gute Kontakte in die Romandie, Branchenvertreter aus dem Ausland kamen dann sporadisch dazu.

Wichtig war den M4Music-Organisatoren von Anfang an, dass abends ebenfalls internationale Acts auftraten, was natürlich auch mit der Attraktivität zu tun hat. Ohne die Unterstützung des Migros-Kulturprozents wäre der Anlass nicht möglich. Aber die Karten müssen trotzdem verkauft werden, da braucht es Namen, die ziehen. «Wir wollten aber auch, dass die hiesigen Künstler sich mit internationalen Acts vergleichen und messen können. Und wir haben extra einen grossen Backstagebereich, wo sich die verschiedenen Musiker treffen. So sollen auch neue Kontakte entstehen», erklärt Schnyder. Denn die Künstler reisen mit Management und Agenten von Veranstaltern an, die sich oft auch die anderen Konzerte anhören. 

Und was tut das Festival für den Nachwuchs? Da hat sich die Demotape Clinic etabliert. Jedes Jahr reichen 700 bis 800 Schweizer Künstler ihre Songs ein, dieses Jahr waren es 797. Diese Demos werden dann von drei Jurys beurteilt, die voneinander unabhängig sind. Die erste M4Music-interne Jury wählt für alle vier Kategorien – Pop, Rock, Electronic und Urban – jeweils die 15 vielversprechendsten Songs aus, welche an den Nachmittagen in Zürich live der zweiten Jury jeder Kategorie vorgespielt werden. Diese diskutieren die Lieder vor Publikum und wählen dann das beste aus. Die dritte Jury schliesslich wählt aus allen vier Gewinnern das Demo of the Year.

«Das ist ein sinnvolles Gefäss», sagt David Burger von der Musikagentur Radicalis, «weil es sich vertieft mit dem derzeitigen Befinden der Schweizer Musiklandschaft auseinandersetzt und eigentlich immer ein sehr direktes Bild zeigt, in welche Richtung sich das musikalische Schaffen weiterentwickelt.» Radicalis ist deshalb wie andere Agenturen und Labels am Festival auf der Suche nach neuen Künstlern. Letztes Jahr hat es auf diese Art Meimuna entdeckt, die Gewinnerin der Kategorie Pop, welche dieses Jahr am M4Music auftritt. Wer also wissen möchte, was die Branche beschäftigt und was die musikalische Jugend macht, sollte deshalb bereits am Nachmittag in den Schiffbau pilgern.

Ihre Wut treibt sie an

Bild: Pexels / Emre Kuzu

Junge Punk-Musikerinnen hauchen dem Altherren-Genre Rockmusik neues Leben ein. Sie singen davon, was sie wollen – oder eben nicht. Und begeistern damit auch Männer.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Bono von U2 sagte kürzlich dem Magazin «Rolling Stone»: «Ich denke, die Musik ist zu mädchenhaft geworden. Als ich 16 war, hatte ich eine Menge Wut in mir. Du musst einen Platz für sie finden und für die Gitarren. Sobald etwas konserviert wird, ist es verdammt noch mal vorbei. Denn was ist Rock’n’Roll im Kern? Wut!» 

Bei allem Sexismus, dessen sich Bono schuldig macht, muss man sagen: Der Mann hat recht. Am Anfang guter Rockmusik steht Wut. Und wer hat davon am meisten? Junge Frauen. Bono hat nämlich übersehen, dass der Rock nicht generell konserviert wird, sondern dass sich sehr viel tut auf dem Feld der Gitarrenmusik. Die Altherren-Musik bekommt gerade frisches Blut aus der Punkszene. Jenem Genre also, das die Rockmusik schon einmal gerettet hat. Und in dessen pulsierendem Innersten stehen junge Frauen mit viel Wut und noch mehr Talent. 

Als die Punks Ende der siebziger Jahre schreiend und ihre Gitarren schrammend auf der Weltbühne polterten, war die Rockmusik am Ende. Sie hatte sich in seichte Melodien mit kitschigen Texten verrannt und wartete Dornröschen ähnlich auf ihre Wiederbelebung. Die Punks wollten dem Rock’n’Roll die Seele zurückgeben: die einfachen harten Gitarrenriffs, die schnellen Beats eines Schlagzeugs und einen kurzen prägnanten Text, den man mitgröhlen konnte – und eben die Wut. Damit küssten sie Dornröschen nicht zärtlich wach, sondern traten ihm ziemlich unsanft mit ihren Doc-MartensSchuhen in den Allerwertesten. 

Do-it-yourself-Philosophie

Die Wirtschaftskrise der 1970er und die konservative politische Wende mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher gaben genug Stoff her für wütende Texte gegen die Staatsmacht. Die Ramones schrien in «Blitzkrieg Bop»: «Schiesst ihnen in den Rücken.» Dabei erklärten sie nie, um wen es sich bei diesem «ihnen» handelte, aber allen war klar: die Polizei. Und The Clash sangen in «I Fought the Law»: «Ich bekämpfte die Staatsgewalt und ich verlor.» 

The Clash – «I Fought the Law»

Punk war immer der Ort für junge Wut, weil die Musik schnell und hart ist. Aber vor allem auch, weil Punk zum Einstieg keine grossen musikalischen Fertigkeiten verlangt; trotzdem sind viele Punkmusiker grossartige Talente. Im Zentrum steht die Do-it-yourself-Philosophie: Jeder kann zwei Gitarrenakkorde lernen und aufs Schlagzeug einhauen. Bis heute wird vor allem der politische Punk wahrgenommen, dabei drehen sich viele Songs um Wut und Verletzungen im privaten Bereich. Die Buzzcocks sangen in «What Do I Get»: «Ich will eine Geliebte, wie jeder andere auch. Aber was bekomme ich? Nur eine platonische Freundin.»

Anfang der 1980er wurde Punk zwar für tot erklärt, aber er lebte an den Rändern des Pops weiter und stimulierte die Gitarrenmusik. So auch jetzt. Bands wie Sheer Mag, Snail Mail, Daddy Issues, Diet Cig oder Sad13 und viele weitere bestehen ganz oder hauptsächlich aus Frauen und machen intelligente und elektrifizierende Gitarrenmusik im Garagen- und Lo-Fi-Stil. 

War on Women – «Capture the Flag»

Die meisten dieser Bands waren bereits am prestigeträchtigen South-by-SouthwestMusikfestival (SXSW), aber im Mainstream sind sie noch nicht angekommen. Gerade das macht ihren Charme aus. Ihre Musik ist noch nicht geglättet, sondern rau, verschroben, zerbrechlich. Dabei reicht ihr Spektrum vom harten und wütenden Punksound von War on Women über den lüpfigen Punk von Diet Cig bis zur sanfteren Indiemusik mit Vagabon oder Cayetana und allem dazwischen. 

Da ist zum Beispiel die vom Siebziger-Jahre-Punk inspirierte Band Sheer Mag aus Philadelphia mit Frontfrau Tina Halladay. Die machen vor allem politische Musik für unsere Zeit. In «Expect the Bayonet» singen sie intelligent analysierend: «Aus dem Leid schufen wir einen fragilen Staat aus Blut und Launen, gemacht für reiche Männer in ihrer weissen Haut, aber Leute, mutigere als ich, standen auf gegen die Lüge. Wenn ihr uns nicht das Recht zu wählen gebt, dann erwartet euch das Bajonett.» Auf dem gleichen Album «Need to Feel Your Love» haben sie mit «(Say Goodbye to) Sophie Scholl», der hingerichteten deutschen Studentin, die mit ihrer Widerstandsgruppe Weisse Rose gegen die Naziherrschaft kämpfte, ein Denkmal in Form eines Protestsongs gesetzt.

Sheer Mag – «Expect the Bayonet»

Ohne moralische Predigten

Dabei ist nicht nur die Botschaft wichtig, sondern auch die physische Präsenz. In der «New York Times» sagte Tina Halladay von Sheer Mag: «Ich denke, viele Frauen sind an sich politisch, einfach weil sie als Frontfrau auf der Bühne stehen.» Und Sophie Allison von Soccer Mommy beschrieb im gleichen Interview das Publikum an vielen Konzerten von Frauenbands: «All diese Männer, die laut die Texte mitsingen über Liebe und alles andere. Ich denke, dass hilft bei der Demontage von toxischer Maskulinität.» 

Es handelt sich bei diesen Bands und ihren Zuhörern eben nicht um eine feministische, männerfreie Blase. Sheer Mag zum Beispiel besteht aus vier langhaarigen Typen, aber an vorderster Front steht eine Frau. Und auch im Publikum finden sich viele Männer. Aber interessanterweise sind die meisten anderen Bands dieser Musikwelle fast ausnahmslos weiblich. Es könnte ein Zufall sein, dass Frauen gerade die interessantere Gitarrenmusik machen, oder es ist eben die Wut, die diese Frauen antreibt und von der Frauen noch immer genügend haben. 

Selbstverständlich tragen die Bands auch etwas zur MeToo-Debatte bei – nicht mit moralischen Predigten; sie sagen ihrem männlichen Publikum im Detail, was sie und die meisten Frauen wollen oder eben nicht. «Du läufst auf mich zu, streitsüchtig, und erlaubst mir noch, meinen Satz zu beenden. Deine Gegenwart lenkt mich ab. Du schreist über jeden Satz. Du stehst zu nahe», singt Allison Crutchfield aus Alabama in «Mile Away». Und die Dichterin Sadie Dupuis singt unter dem Pseudonym Sad13 in «Get a Yes»: «Leg mir bloss keine Worte in den Mund. Du kannst nicht einfach wissen, was ich will. Deshalb versuche ich es dir zu sagen, was ich will. Ich sage Ja zum Kleid, wenn ich es anziehe. Ich sage Ja, wenn du es mir ausziehen willst. Ich sage Ja zu deiner Berührung, wenn ich deine Berührung will.» 

Die Musikerinnen schreiben auch über Beziehungen. Manchmal ist es eine amüsante Abrechnung mit dem Ex. Daddy Issues aus Nashville singen in «Dog Years»: «Wir werden nie Freunde sein. In Hundejahren bist du bereits tot.» Cayetana aus Philadelphia wiederum sind selbstkritisch: «Du siehst meine hässlichen Teile, die ich dir nie zeigen wollte. Wirst du mich noch lieben, mit all diesen kranken Gedanken im Kopf?» 

Daddy Issues – «Dog Years»

Wie von Bono gewünscht, kommen auch die Teenager zu Wort. Lindsey Jordan von Snail Mail ist 17 Jahre alt und war schon am SXSW. In «Thinning» schrammen die Gitarren, bevor sie davon singt, ein unsicherer und ratloser Teenager zu sein: «Ich frage mich die ganze Zeit: Bin ich das wirklich? Und ich weiss es nicht. Und ich fühle mich eklig.»

Hier wird nichts konserviert. Die Wut ist da, genauso wie das musikalische Talent, die politische Botschaft, die nachdenkliche Analyse, der frische Wind und das Können. Bono guckt nur am falschen Ort. Die Frauen haben schon immer eine Rolle gespielt in der Rockmusik, man denke nur an Pattie Smith oder Blondie. Und auch dieses Mal werden die jungen Frauen die Gitarrenmusik mit frischem Blut versorgen.

SXSW-Festival

Das South-by-Southwest-Festival im ­texanischen Austin ist ein wichtiges Sprungbrett für Indie-Rock-Musiker. Es findet seit 1987 statt, mit Programmen zu Musik, Film, Comedy und Neue Medien. Snail Mail schafften 2017 am SXSW den Durchbruch.

Snail Mail – «Thinning»

Die Popmusik wird langsamer

Bild: pexels / John Tekeridis

Unter Einfluss von Elektro- und Rapsounds findet eine Entschleunigung statt. Dies zeigen die Top-Songs von Spotify. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Niemand wurde 2017 auf Spotify so oft gestreamt wie Ed Sheeran. Damit hat er Drake entthront. Warum das interessant ist? Sheeran ist bekannt für seine Schmusesongs, derzeit steht er gerade mit «Perfect» auf Platz 1 der Hitparade. Aber nicht dieser Song wurde im laufenden Jahr bei Spotify am häufigsten angeklickt, sondern «Shape of You», ein Song mit Dancehall-Elementen. Auch die anderen Songs der Top-Ten-Liste auf Spotify enthalten Bestandteile elektronischer Musik. Damit bildet sich ab, was sich seit einigen Jahren in der Pop-Musik vollzieht: Electronic Dance Music (EDM) gewinnt an Einfluss.

Unter EDM werden sehr unterschiedliche Genres zusammengefasst, zum Beispiel der melodiöse House aus Chicago, der mechanisch klingende Techno mit dem harten Beat aus Detroit, der schnelle Jungle mit Sprechgesang aus dem Süden Londons oder der vom Reggae inspirierte moderne Dancehall aus Jamaica.

Seit Jahrzehnten gibt es Künstler, die mit Pop und EDM experimentieren, aber erst seit einigen Jahren nimmt der Einfluss auf die Pop-Musik zu. Die französische Band Daft Punk mischt seit den neunziger Jahren House und Techno mit Synthiepop und Funk. Als sie 2006 am Open Air Coachella auftrat, begeisterte sie mit ihrem Mix auch das Rockmusikpublikum in den USA. Wichtig für den Einfluss von EDM war auch ein weiterer Franzose: DJ David Guetta. Mit seinem vierten Album «One Love» schaffte er 2009 den Durchbruch in den USA mit dem Stück «I Gotta Feeling» von The Black Eyed Peas.

Seither hat sich der Einfluss der EDM auf die Pop-Musik laufend verstärkt. Mittlerweile ist er im Grossteil der aktuellen Songs zu hören: Taylor Swift nutzt die schweren Beats der Industrial Music für «…Ready For It?» und Justin Bieber den Danceball für «Sorry». Die Rockband Imagine Dragons (in der Schweiz am vierthäufigsten gestreamt) hat ihren Song «Thunder» mit EDM-Rhythmen unterlegt. Und Coldplay, die mit Gitarrenrock berühmt wurden, sind gleich mit zwei Songs mit EDM-Einflüssen in den besten Listen bei Spotify vertreten: «Hymn for the Weekend» und «Something Just Like This». 

Diese Einflüsse verändern den Pop-Song nicht nur musikalisch, sondern auch strukturell. Der Refrain ist traditionell die wichtigste Stelle. Musikalisch und erzählerisch läuft alles auf diesen Höhepunkt hinaus. Auf diesen Teil wartet jeder und alle können ihn mitsingen: «Oops, I did it again, got lost in the game». Traditionell funktionieren EDM-Tracks ohne Stimme. Sie haben anstelle des Refrains aber ein gut erkennbares melodiöses Stück, den sogenannten Drop, der das Tanzpublikum in Ekstase versetzt. In der Popmusik ersetzt nun dieser Pop-Drop den Refrain.

Das Stück «Closer» der Chainsmokers, der Könige des Pop-Drops, ist typisch für die neue Art der Songstruktur: Es beginnt mit einer Strophe, dann kommt ein Teil, der später nochmals wiederholt wird, das wäre traditionell der Refrain, aber das Stück steigert sich musikalisch weiter bis zum melodiösen Teil, dem Pop-Drop, den alle nun nicht mehr mitsingen, aber mitsummen und dazu die Arme in die Höhe reissen.

Eine weitere Entwicklung, die sich seit Jahren abzeichnet: Der Einfluss an World Music nimmt zu. Diesen Trend hat besonders Drake befeuert, indem er Afrobeats aus Westafrika und Dancehall aus Jamaica in seine Musik einfliessen liess. Dieses Jahr war der Einfluss von Lateinamerika spürbar, mit dem Sommerhit «Despacito» des Puertoricaners Luis Fonsi aus Salsa und Reggaeton-Elementen. In «Unforgettable» von French Montana wiederum finden sich Einflüsse aus Afrika und Jamaica. Und dieses Jahr zeigt sich erneut, dass die Pop-Musik insgesamt langsamer wird. Ältere Pop-Musikstücke haben eine Geschwindigkeit von 130 bis 170 Schlägen pro Minute. Die am häufigsten angeklickten Songs 2017 liegen fast alle unter 100 Schlägen pro Minute. Yakov Vorobyev hat mit einer selbstprogrammierten App die 25 am häufigsten gestreamten Songs zwischen 2012 und 2017 untersucht und herausgefunden, dass in diesen fünf Jahren das durchschnittliche Tempo um 23 Schläge pro Minute gesunken ist.

Diese Verlangsamung wird hauptsächlich dem verstärkten Einfluss der langsameren Rap-Musik zugeschrieben. Diese Entwicklungen machen die Pop-Musik konstant interessant und zeigen sie als Abbild der Gesellschaft. Wir leben in einer globalisierten Welt, logisch, dass sich die Musikstile so noch schneller mischen als bis anhin. Daraus entstehen dann wirklich gelungene Stücke wie «Shape of You», aber leider auch total misslungene wie «Something Just Like This», ein melodiöses Gitarrenstück, das völlig unnötig durch ätzende quietschende Beats verhunzt wird. Nun, die am häufigsten gestreamten Songs sind zwar ein Indikator für die Entwicklung der Pop-Musik, aber nicht immer für guten Geschmack.

Top-Musiker 2017 auf Spotify Schweiz

1.

Ed Sheeran: Der Engländer spielt auf seinem neuen Album «÷» mit verschiedenen Musikstilen von irischem Folk, über Hip Hop bis zu Dancehall, mit dem Stück «Shape of You» ist er am erfolgreichsten.

2.

Drake: Der kanadische Rapper arbeitet sehr erfolgreich mit EDM und Worldmusic-Stilen. «Passionfruit» wurde 2017 am häufigsten ge­streamt. Es ist eine Mischung aus Club-House und R’n’B. 

3.

The Chainsmokers: Die Amerikaner dominieren mit ihren eintönigen EDM-untermauerten Popsongs seit Jahren die Charts. Mit ihrem ersten Album «Memories … Do Not Open» waren sie nicht so erfolgreich, nur neun Wochen war es in der Hitparade.

Die Missverstandene

Bild: Flickr / Eva Rinaldi

Taylor Swift gibt sich gern als moderne Feministin und Kämpferin für die Rechte von Künstlern. Dabei ist sie vor allem eines: eine knallharte Geschäftsfrau, die nur eigene Interessen verfolgt.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Eigentlich will Taylor Swift nur nett sein und ihre Kunst machen. Aber die anderen sind gemein und verstehen sie falsch. Deshalb ist sie immer wieder gezwungen, Songs zu schreiben mit ­Botschaften wie «Ich lass mich nicht unterkriegen». Ungerechtigkeiten wollen eben verarbeitet sein. Das neuste Beispiel dafür ist die neue Single «Look What You Made Me Do» (Sieh, wozu du mich gezwungen hast). Über die Jahre hat sie sich so einen Ruf eingehandelt, der ihr nicht gefällt. Das neue Album heisst dann zur grossen Über­raschung aller: «Reputation».

Taylor Swift – «Look What You Made Me Do»

Swift vermarktet sich gern als Unschuld oder als Opfer. Im Lied «Dear John», adressiert an ihren 12 Jahre älteren Ex-Freund John Mayer, singt sie: «Denkst du nicht, dass ich mit 19 Jahren zu jung war, um deine dunklen, verdorbenen Spiele mit mir zu spielen?» Mayer war natürlich zutiefst beschämt über diese musikalische Huldigung.

Auch die unhöfliche Behandlung durch Kanye West 2009 an den MTV Awards verarbeitete Swift musikalisch. Er stürmte die Bühne, während sie ihre Dankesrede hielt, um zu erklären, Beyoncé habe eigentlich die Auszeichnung verdient. Damit sprach er an, was andere eloquenter formuliert haben: dass weisse Girls mehr Chancen als schwarze Frauen haben, Preise zu gewinnen.

Als Swift (*1989) ein Jahr später ihren Song «Innocent» (unschuldig) an den MTV Awards vorstellte, lief ein Videoclip dieser Szene, bevor sie herablassend sang, West müsse mit seinen 32 Jahren noch erwachsen werden. Dass sie sich dazu als verletzliche weisse Geschädigte eines schwarzen Mannes inszenierte, legten ihr einige Kommentatoren als Rassismus aus.

Taylor Swift – «Innocent»

Seit einiger Zeit wird Taylor Swift auch von der Alt-Right-Bewegung vereinnahmt und als «arische Göttin» gepriesen. Darüber ist Swift so aufgebracht, dass sie sich öffentlich… Nein, bis jetzt schweigt sie dazu. Aber 2014 war sie so erzürnt, dass sie eine ganze Nacht lang wach lag und sich morgens um 4Uhr genötigt sah, einen offenen Brief zu schreiben. Apple Music hatte beschlossen, den Künstlern ihre angeklickten Songs erst nach drei Monaten zu vergüten, weil Kunden den Dienst während einer Probezeit drei Monate lang gratis nutzen können.

Spott von Spotify

«Hier geht es nicht um mich», schrieb die 280-fache Dollarmillionärin. «Ich kann mich mit Konzerten finanzieren. Es geht um Künstler, die ihre erste Single veröffentlichen und dafür nicht bezahlt werden.» Ein Jahr zuvor hatte sie ihre Abneigung gegenüber Gratis-Streaming-Diensten bereits in einem Artikel im «Wall Street Journal» mit den Worten begründet: «Musik ist Kunst, und Kunst ist wertvoll. Wertvolle Dinge sollten bezahlt werden.» Sie sah ihre Songs durch diese Dienste entwertet. Deshalb entzog sie Spotify 2014 all ihre Musik – sehr zum Entsetzen ihrer vielen jungen Fans –, was die Firma zur Playlist «What to Play While Taylor’s Away» inspirierte.

Aber schliesslich kam alles gut. Apple Music lenkte innerhalb von 24 Stunden ein. Und Frau Swift rühmte sich in einem Interview mit «Vanity Fair» ihrer Heldentat und erwähnte die vielen Glückwünsche anderer Künstlerinnen. Frau Swift sieht sich auch gern als Verfechterin von Frauenrechten. 2012 erklärte sie noch, Feminismus sage ihr gar nichts. Ihre Eltern hätten ihr beigebracht: «Wenn du so hart wie die Jungs arbeitest, kannst du es weit bringen im Leben.» Womit sie jeder Feministin aus tiefstem Herzen sprach. Aber schliesslich sah auch Frau Swift das violette Licht. «Eigentlich bin ich schon immer eine Feministin gewesen», erklärte sie 2014. Schliesslich sei sie seit Jahren mit Lena Dunham befreundet, der Vorzeigefeministin der Millennials. Das färbt ab. Und so schreibt Frau Swift gern über die grossen Themen der Welt, wie die Rache am Ex oder den vom Ex ausgelösten Herzschmerz. 

Kritik daran konterte sie so: «Wenn eine Frau über ihre Gefühle schreibt, wird sie oft als wahnsinnig dargestellt. Das verdreht etwas, das gefeiert werden sollte, in etwas Sexistisches.» Richtig, schon die ersten Feministinnen legten Wert darauf, über ihre Beziehungen zu Männern definiert zu werden. Und als sich die Komikerinnen Tina Fey und Amy Poehler 2013 an den Golden Globes erfrechten, sich über Frau Swifts Verschleiss an Männern lustig zu machen, antwortete diese mit einem Zitat der ehemaligen US-Aussenministerin ­Madeleine Albright: «In der Hölle gibt es einen ganz speziellen Ort für Frauen, die andere Frauen nicht unterstützen.» Die Ironie ging leider komplett an Frau Swift vorbei, als sie 2014 in ihrem Video zu «Bad Blood» die Hälfte ihrer hauptsächlich aus Models bestehenden Frauentruppe ver­sammelte und musikalische Rache an ihrer Gegenspielerin, Katy Perry, nahm. 

Taylor Swift – «Bad Blood»

Die Kultur, und in ganz besonderem Masse die Pop-Kultur, lebt von Appropriation, der Aneignung von «fremden» Stilen, Werken, Ideen, Melodien zur Erschaffung neuer Kunst. Die Rockmusik wäre ohne den afroamerikanischen Blues nicht möglich gewesen, und die späten Beatles hätten anders geklungen, wären sie nicht mit indischer Musik in Kontakt gekommen. Aber sich die Melodie von «I’m Too Sexy» von Right Said Fred für «Look What You Made Me Do» anzueignen, ist das eine; sich als Hüterin der Rechte von Künstlern emporzustilisieren und sich den Mantel des Feminismus überzustreifen, während man völlig eigennützige Ziele verfolgt, ist etwas ganz anderes. 

Reiner Opportunismus

Da hat Frau Swift mit der «reappropriation», der Wiederaneignung, schon mehr Talent bewiesen. Als sie beteuerte, Kanye West kein Einverständnis gegeben zu haben, in seinem Song «Famous» über sie zu singen, und Wests Frau Kim Kardashian mit einem Video das Gegenteil bewies, wurde Swift mit Bildern von Schlangen eingedeckt. In «Look What You Made Me Do» nun wendet sie dieses Image ins Positive und präsentiert sich als Schlangenkönigin. Das ist richtig, richtig lustig. Nicht jeder Künstler muss sich zu allem äussern. Aber wenn Swift sich darüber auslässt, wie sie unter dem ungerechten Bezahlsystem eines Streaming-Dienstes leidet, aber kein Wort darüber verliert, dass sie von der rassistischen Rechten als «arische Göttin» gepriesen wird, erweist sie sich als Opportunistin. Das tut Frau Swift auch in ihrem neuen Song «Look What You Made Me Do», wo im Finale 14 Versionen der Sängerin zu sehen sind. Eine sagt: «I would very much like to be excluded from this narrative.» Und die anderen antworten treffend: «Oh, shut up.»

Neues Album

«Reputation», das 6. Studioalbum von Taylor Swift, kommt am 10. 11.2017 heraus. Am Freitag hat sie den Clip zum Song «Ready For It?» veröffentlicht. Es ist ein für sie ungewöhnlich harter Elektro-Song mit peitschenden Beats.