Leidenschaft ist ihr Lebenselixier

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Auf ihrem neuen Album «Beautiful Trauma» singt Pink vom Zerstechen von Autoreifen und spinnt eine witzige Rachegeschichte mit Eminem. Leider sind die anderen Songs zu farblos. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Pink ist eine leidenschaftliche Person. Direkt, provokativ, ehrlich. Während andere Sängerinnen versuchen, fast körperlos übermenschlich zu sein, roch Pink in ihrem Video zu «Get the Party Started», einem Song von der Platte «Missundaztood» (2001), provo­kativ an ihrer Achselhöhle. Dabei verzog sie angeekelt das Gesicht. 

Sie will eigentlich nichts anderes sein als zutiefst menschlich – üble Körpergerüche, Fehler und Gedanken der Unzulänglichkeit inklusive. Deshalb klingen viele ihre Lieder wie Tagebucheinträge, zum Beispiel das Stück «Secrets» vom neuen Album «Beautiful Trauma»: «Was geben wir preis? Was verheimlichen wir? Was stimmt nicht mit mir?», fragt sie.

Pink ist es nie peinlich, stark, ja fast schon aggressiv aufzutreten. Das tat sie bereits zu Beginn ihrer Karriere um 2001, als die Pop-Welt von Britney Spears und Konsorten dominiert wurde und lange bevor Beyoncé mit einem Baseballschläger in der Hand Autofensterscheiben einschlug. Die 38-jährige Pink ist aber keine eigentliche Vorreiterin für solches Auftreten. Sie macht einfach ihr Ding: Wie dieses Jahr an den MTV Awards, als sie den Vanguard Award für ihr Lebenswerk bekam und keinem Kollegen für die Unterstützung dankte, sondern sich an ihre Tochter richtete und ihr mitteilte, sie sei schön und solle nie daran zweifeln.

Die wohl wichtigste Beziehung in ihrem Leben ist diejenige zu Ehemann Carey Hart. Als sie dachte, er betrüge sie, zerstach sie seine Autoreifen. Bei anderer Gelegenheit boxte er dafür vor Wut zu Hause in eine Wand. Pink, die mit bürgerlichem Namen Alecia Moore heisst, gefiel dieser Ausdruck männlicher Stärke so sehr, dass sie einen Bilderrahmen dafür kaufte und den Abdruck seiner Faust einrahmte. 

Sie hat diese turbulente Beziehung auch gleich in mehreren Songs auf ihrem neuen Album verewigt, unter anderem im titelgebenden «Beautiful Trauma», das so heisst, weil, mit Shakespeares Worten ausgedrückt, das Leben «bittersüss» ist.

Pink ist immer dann am besten, wenn sie sich nicht zügelt. Wie im Lied «I Am Here» mit seinem stampfenden Beat: Sie schreit, sie verführt und nimmt den Hörer mit ihrer Präsenz ein. Genauso grossartig ist ihr witziger Song «Revenge», den der Rapper Eminem zur Hälfte schrieb. Darin nehmen sie und ihr imaginärer Liebhaber auf wunderbar bösartige Art Rache aneinander. «Ich wünschte, ich wäre eine Anwältin, dann würde ich dich verklagen, dir deinen Hund, dein Haus, deine Schuhe und dein Herz nehmen», singt sie. Eminem kontert: «Wenn du zu seinem Haus fährst und mich unterwegs triffst, während ich zu ihr fahre, erinnere dich daran, dass du mich zuerst betrogen hast. – You’re a whore, you’re a whore, this is war.»

Leider sind diese drei Songs zusammen mit der eindringlichen Politikballade «What About Us» auch schon die Highlights des neuen Albums. Die weiteren Stücke dümpeln vor sich hin, und wenn man nicht aufmerksam zuhört, läuft ein Song unbemerkt in den nächsten über.

Vielleicht hat die Elternschaft Pink zahmer werden lassen. Vielleicht haben ihre Pro­duzenten die Lieder glattgeschliffen. Und vielleicht ist das einfach nicht ihr bestes Album. Aber wenige Sängerinnen haben sich so lange im Business halten können wie sie. Und deshalb ist eines gewiss: Das waren nicht Pinks letzte Worte. 

Sie feiern die Nacht

Bild: flickr / Vladimir

Die New Yorker Hipster-Band Hercules & Love Affair legen mit «Omnion» ein wunderbares Album vor, das Lust zum Tanzen macht.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Andrew Butler macht Musik für die Nacht: tanzbar, wehmütig und mit einem tragenden Beat. Die Stücke des kreativen Kopfes der US-Band Hercules & Love Affair beschwören die farbigen Nächte der Discozeit des New Yorker Nachtklubs Studio 54 herauf, als die Party endlos erschien und alle irgendwie gleich waren. Aber so ganz scheint er sich selber nicht zu glauben, denn immer schwingt auch eine Melancholie mit, die nur allzu menschlich ist: Wie wenn im Rausche der Feier plötzlich die Lichter angingen und jeder unter dem zerlaufenen Make-up des anderen die eigene Unsicherheit widerspiegelt sähe. So klingt das Titelstück «Omnion», in dem die Amerikanerin Sharon Van Etten mit bald fragiler, bald kräftiger Stimme an eine übersinnliche helfende Macht appelliert.

Für den Tonkünstler Andrew Butler ist die Nacht ein Versprechen, wie es wohl jeder Nachtschwärmer gerne glauben möchte. Aber für den schwulen Jungen aus einer problemreichen Familie war sie vor allem auch Zufluchtsort und Gegenwelt. Bereits mit fünfzehn Jahren legte er als DJ in einer Lederbar in seiner Heimatstadt Denver auf. Als das Lokal von der Polizei kontrolliert wurde, versteckte er sich in der Toilette. Diese Kindheit hat er im Track «Blind» verarbeitet, den Anohni von Antony and the Johnson einsang und der 2008 von verschiedenen Musikzeitschriften zum besten Song des Jahres gekürt wurde.

Butler hat immer Persönliches in seine Musik einfliessen lassen und die vielen Musiker, die auf seinen Alben mitwirken, zu gleichem ermutigt. 2011 verarbeitete John Grant in «I Try To Talk To You» auf dem Vorläuferalbum «The Feast of the Broken Heart» seine HIV-Ansteckung. In «Fools Wear Crowns» besingt Butler seine eigene Drogen- und Alkoholsucht und muss sich selber eingestehen, dass er ein Idiot war, als er deswegen über Monate immer wieder in die Notaufnahme eingeliefert wurde. Es ist der einzige Song, den Butler auf dem neuen Album «Omnion» selber singt. Und dieses Stück berührt am meisten, nicht der Thematik wegen, sondern weil die Musik seine heiser gesungene Beichte nur sanft pulsierend unterstützt, aber nie überdröhnt. 

Anders als auf dem Vorläufer experimentiert Butler auf seinem vierten Album stärker. Er bleibt seinem Mix aus Untergrund-Disco der siebziger und frühem Chicagoer House der achtziger Jahre treu. Aber in «Controller» webt er auch Synthesizerklänge aus New-Wave-Zeiten hinein. Faris Badwan, der Sänger der Garage-Rock-Band The Horrors, singt die Zeilen zu gleichen Teilen verführerisch und dominant. So als wolle er Beherrscher und Unterworfener gleichzeitig sein. 

In «Rejoice» setzt Butler auf die harten Beats der Industrial Music. Dazu passt die kräftige Stimme von Rouge Mary, dem zweiten Mitglied der Band, die über die stürmischen Klänge kratzt. In «Are You Still Certain» hat Butler mit der libanesischen Gruppe Mashrou’ Leila zusammengearbeitet, die der Musik arabische Worte und einen orientalischen Singsang verleiht, die an durchtanzte Nächte in Beirut erinnern. 

Grossartige Kunst ist selten einseitig. Und so lässt sich auch «Omnion» auf zwei Arten geniessen. Die Musik der New Yorker hält ihr Versprechen, sich tanzend mit anderen schwitzenden Körpern in der bunten Finsternis zu verlieren, aber wenn das Licht angeht, lässt sie einen nicht allein und hat noch immer etwas von Bedeutung zu erzählen.

«Seid bescheiden!»

Kendrick Lamar während einem Konzert 2013. Bild: flickr

Das sehnlich erwartete neue Album des Rappers Kendrick Lamar ist da. Es überzeugt mit hitzigem Hip-Hop und dringlichen Texten. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Noch ist das Konzeptalbum nicht tot. Auch wenn der Rapper Drake, der ganz auf das Geschäftsmodell Streaming setzt, gerade emsig am Sarg für Tonträger als Gesamtkunstwerke bastelt. Aber Kendrick Lamar als bester zeitgenössischer Rapper hält erfolgreich und ohne grosse Mühen die Stellung. Das mag daran liegen, dass sich Lamar selber als Schriftsteller sieht. Seine Alben hören sich deshalb an wie vertonte Gedichte. 

Auf seinem neuesten, «Damn», finden sich thematische Pendants. Der alles verzehrenden «Lust» wird die beständige «Love» entgegengesetzt, und auf «Fear» folgt «God». Vor allem aber spinnt Lamar seine Erzählung weiter. Während er sich auf seinem zweiten Album, «Good Kid, M.a.a.d. City», fragte, wie er es aus Compton, dem Ghetto von Los Angeles, heraus schaffen solle, stürzte ihn der folgende Reichtum auf «To Pimp a Butterfly» in eine Identitätskrise. Gleichzeitig war es auch eine Brandrede auf die Lebensbedingungen der Afroamerikaner. Auf «Damn» hat er seine Rolle als Sprecher seiner Community angenommen. «‹To Pimp a Butterfly› sprach das Problem an, das will ich nun nicht mehr machen», sagte Lamar der «New York Times». «Lernen, etwas zu akzeptieren, und nicht wegrennen. So will ich, dass sich das Album anfühlt.»

Während der 29-Jährige seinen Blick zuvor auf die Staatsgewalt und die Versuchungen von aussen gerichtet hatte, so konzentriert er sich nun auf sich selber und sein nahes Umfeld. In «DNA» erzählt er zu einem packenden Beat von seiner Herkunft als Afroamerikaner. Im Video zur Single versucht Don Cheadle als Polizist dem verhafteten Lamar durch seine DNA etwas nachzuweisen, bevor er selber dessen Sicht einnimmt und rappt: «I got loyalty, got royalty inside my DNA» («ich habe Loyalität und königliche Herkunft in meiner DNA»), aber auch sardonisch: «Sex, money, murder – our DNA.» Für diese Haltung, das Problem nicht nur in einem korrupten politischen System zu suchen, sondern mit einem ehrlichen Blick auf sich selber zu beginnen und auch Ängste und Zweifel zuzulassen, wurde er in der Vergangenheit des Öfteren kritisiert.

Nach dem Blick auf seine Community nimmt er es in «Humble» mit der Rap-Gemeinschaft auf. Im Videoclip zeigt Lamar, wie das Model ohne Make-up aussehen würde, und rappt dazu: «I’m so fuckin’ sick and tired of the Photoshop / Show me somethin’ natural like ass with some stretch marks» («Ich habe genug von Photoshop, zeig mir etwas Natürliches wie einen Hintern mit Dehnungsstreifen»). Dann schmettert er mehrfach «be humble» («seid bescheiden») hinaus.

Es ist ein einfaches Album, das ohne viel Brimborium auskommt, auch wenn Lamar auf raffinierte Weise Stimmen montiert. Es gibt keinen Begleitfilm, und die Musik funktioniert dieses Mal ohne den grossartigen Jazz des letzten, sondern setzt ganz auf Hip-Hop-Beats, auf den Soul der 1970er Jahre und auf Elektro-Elemente. Einfach Kendrick, sein Blick auf die Welt und seine berauschende Fähigkeit, Worte einzusetzen. Genau deshalb kann das Album allen Ansprüchen standhalten. Damit beweist Lamar, dass er der Beste seiner Zunft ist. Da ist etwas Häme in Richtung Drake durchaus angebracht. «My left stroke just went viral», liess er ihn wissen («Mein linker Hieb hat sich online gerade wie ein Virus verbreitet»). Und: «Get the fuck off my stage.» Recht hat der Mann. 

Alben sterben aus, jetzt kommt die Playlist

Rapper Drake ist zurzeit der am meisten gehörte Musiker der Welt. Der 30-Jährige hat begriffen, wie der Streaming-Markt funktioniert.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Streaming verändert die Musik. Jetzt gerade in diesem Moment. Nicht nur die Art, wie wir sie uns anhören, sondern die Musik an sich. Und der kanadische Rapper Drake forciert den Wandel wie kein anderer. Er ist der am meisten gestreamte Künstler der Welt. Alleine bei Spotify wurde seine Musik über neun Milliarden Mal angeklickt. 

In Medienberichten über Streaming wird gerne die Kurzlebigkeit und mangelnde Qualität von heutiger Musik beklagt. Dabei ist es genau umgekehrt. Früher zählten die Anzahl Albumverkäufe für die Hitparade. Dabei wusste niemand, was mit einem Album nach dem Kauf geschah, ob es überhaupt gehört wurde. Es war durchaus möglich, dass man ein Album nur wegen zwei, drei Songs kaufte, überprüfen konnte das niemand. Trotzdem wurde gerechnet, als würde sich die Person das ganze Album anhören.

CD im freien Fall

Seit Drake ganz auf Streaming setzt, sind seine Alben länger geworden. Die letzten beiden enthalten 20 oder mehr Songs und sind über als 80 Minuten lang, die maximal bespielbare Länge einer CD. Das trifft auch auf andere Künstler zu. Logisch, je mehr Songs sie veröffentlichen, umso höher ist die Chance auf einen Hitparadenplatz. In den USA entsprechen 150 Streams einem Single-Kauf (in der Schweiz sind es 108), und 1500 Streams sind das Äquivalent eines Albums. Die Musik muss folglich länger überzeugen. Und jeder Song muss bestehen können. Erst, wenn man sich von einem Stück 30 Sekunden angehört hat, wird der Stream gezählt. Gleichzeitig kann ein Künstler bei 20 Songs auch mehr Risiken eingehen, als wenn er nur 12 auf eine CD packen muss, und dann über Monate beobachten, was bei den Fans ankommt. 

Das in sich kohärente Album wird unter diesen Umständen zum Exoten. Eine der grössten aktuellen Veränderungen betrifft die Vorstellung davon, was ein Album ist. 2016 war ein aufschlussreiches Jahr: Frank Ocean gab mit «Endless» ein visuelles Album heraus, das man sich nur als Video-Stream anhören kann und das es nie auf CD gab. Heute setzen viele Popstars auf Streaming und behandeln den Verkauf physischer CD und Downloads als Nebensache, wenn sie denn überhaupt noch daran denken. 

Frank Ocean – visual album «Endless»

Das liegt einerseits daran, dass CD-Verkäufe und Downloads dramatisch sinken, Streaming aber explosionsartig wächst, 2016 in der Schweiz allein um 50 Prozent gegenüber Vorjahr, in den USA sogar um 68 Prozent. Andererseits zählt Streaming seit einigen Jahren auch zur Berechnung der Hitparadenposition. Wenn ein Album nicht sofort auf CD gepresst wird, muss es auch nicht zwingend fertig sein. Kanye West veröffentlichte mit «The Life of Pablo» ein unfertiges Album, woran er noch Monate arbeitete und es mehrmals aktualisiert herausgab. Und Drake, der erfolgreichste Künstler im Streaming-Bereich, spricht von «More Life» als einer Playlist. Das ist nicht nur eine rhetorische Entscheidung, sondern zeigt, dass er die Zeiten verstanden hat. 

George Ergatoudis verkündete schon 2014 auf Twitter: «Mit wenigen Ausnahmen stehen die Alben vor dem Aussterben. Playlisten sind die Zukunft.» Damals arbeitete er noch als Musikverantwortlicher für Radio BBC1, in der Zwischenzeit hat er zu Spotify gewechselt und kuratiert dort Playlisten. Aber ist es klug, dass der Rapper aus Toronto «More Life» eine Playlist nennt? Ja, auch wenn es ihm hauptsächlich um Aufmerksamkeit geht. Playlisten gleichen einer Compilation-CD wie «Bravo Hits» oder «Kuschel-Rock». Sie werden entweder von einem Algorithmus erzeugt, von einem Nutzer erstellt oder von einem Kurator eines Streaming-Service gestaltet. 

Drake arbeitet häufig mit anderen Musikern zusammen. Er nutzt Songs aus Afrika oder der afrikanischen Diaspora als Grundlage für seine Musik (sogenanntes Sampling). Seinen Mitmusikern gibt der Kanadier viel Raum, besonders auf seinem neuen Werk. Wenn man nicht weiss, dass es sich dabei um ein Album von einem einzelnen Künstler handelt, wäre man versucht, es als zusammengestellte Playlist im Hip-Hop- und Dance-Hall-Bereich einzuordnen. Das liegt nur schon daran, dass man unterschiedliche Stimmen hört, unter anderem Sampha oder Young Thug. Und die Musik klingt abwechselnd nach jamaicanischem Dance Hall, Londoner Grime (eine Mischung aus Jungle und Ragga) oder südafrikanischem Elektro. 

Die Popmusik verändert sich aber auch ästhetisch. Hubert Léveillé Gauvin von der Ohio State University untersuchte in den USA die Top-10-Songs der letzten 30 Jahre. Er fand heraus, dass das Intro von durchschnittlich 20 Sekunden in den 1980ern auf 5 heute geschrumpft ist. «Das ist sinnvoll», erklärt er, «denn die Stimme ist am effektivsten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.» Spotify gibt an, dass ein Viertel der Songs nach fünf Sekunden übersprungen wird. Es bleibt also nicht viel Zeit, um zu überzeugen.

Musiker als Marken

Und was ist mit den Einnahmen? Taylor Swift und andere Künstler haben sich über die niedrigen Tantièmen von Streaming-Diensten beschwert. Nun, jedes System bietet Möglichkeiten. Die amerikanische Funkband Vulfpeck war besonders geschickt. 2014 veröffentlichten sie mit «Sleepify» ein stilles Album, das zehnmal dreissig Sekunden Nichts enthielt. Sie forderte Fans auf, das Album während des Schlafens ununterbrochen zu streamen. Damit verdienten sie 20 000 Dollar. Danach nahm Spotify das Album aus dem Sortiment.

Stars wie Justin Bieber oder Rihanna machen, was Forscher Gauvin als generelle Tendenz bezeichnet: Anstatt nur auf Einnahmen aus dem Streaming zu setzen, nutzen sie die Plattformen, um sich als Marke zu etablieren und Fans an Konzerte zu locken. Damit verdienen sie Geld. Drake geht noch einen Schritt weiter. Er hat zwar ein Label, aber auch einen exklusiven Deal mit Apple Music. Das ist die Zukunft: Streaming-Services produzieren Musik direkt – sie folgen dem Beispiel von Amazon und Netflix, die selber erfolgreich Serien produzieren.

«Ein wenig wie sprachliches Boxen»

Ein Rapkonzert. Bild: Pexels / Luis Quintero

Die Professorin Ana Sobral sieht im Gangsta-Rap etwas Uramerikanisches. Die weltweit instabile politische Lage liefere zudem Inspiration für politischen Rap.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

NZZ am Sonntag: Frau Sobral, Rap ist im Moment am Fernsehen sehr präsent. Die Serie «The Get Down» beleuchtet unter anderem dessen Anfänge zu Zeiten von Wohnungsknappheit und bitterer Armut. Was war das für eine Zeit?

Ana Sobral: Ende der siebziger Jahre durchlief die South Bronx in New York eine gewaltige urbane Transformation. Man könnte sogar von der Zerstörung einer Gemeinschaft reden. Viele Häuser und Geschäfte und auch Lebensarten, die sich dort während Jahrzehnten entwickelt hatten, wurden zerstört – auch durch den Bau einer Autobahn mitten durchs Quartier. Das generierte eine Leerstelle, besonders für die Jungen. Das geschah ja alles nach der Bürgerrechts- und der Black-Pride-Bewegung. Aus diesem Gefühl des Mangels und gleichzeitig aber auch dem einer eigenständigen Identität heraus wurden die Jungen dazu inspiriert, neue Wege zu finden, sich auszudrücken.

Aber sie bauten auf alten Traditionen auf?

Genau. Der Sprechgesang, der sich an Quartierfesten, sogenannten Blockpartys, entwickelte, basiert auf alten afroamerikanischen Traditionen. Viele der Wortspiele darin kommen aus den «Dozens»: ein Spiel in Form eines verbalen Schlagabtausches, wobei zwei Gegner versuchen, sich in ihren gegenseitigen Beleidigungen und ihrem Sprachwitz zu übertreffen. Und andererseits aus dem «toast», einer Form von oraler Dichtung basierend auf der epischen Dichtung von Westafrika, wie zum Beispiel dem Gedicht «The Signifying Monkey».

Wie wichtig war die Musik?

Vor allem technologische Neuerungen waren wichtig. Damit gab es die Möglichkeit, zwei Alben gleichzeitig zu spielen, von einem Album zum nächsten zu wechseln und instrumentale Stellen von Songs aneinanderzuhängen. Und darüber konnte man dann eine Stimme legen. Das ist ja die Basis des Raps: alte Musik und neue Liedtexte.

Die ersten Rap-Songs waren sehr einfach. Im Song «Rapper’s Delight» singen sie: «I said hip hop, the hippie, the hippie…» Wann hat sich das geändert?

Am Anfang ging es ums Gemeinschaftsgefühl durch Live-Darbietungen und um das sprachliche Improvisieren. Erst als man begann, Songs im Studio aufzunehmen, erkannten Künstler die Möglichkeit, die Texte aufwendiger zu gestalten. Dabei wurden sie auch inspiriert von der Spoken-Word-Dichtung wie die der Last Poets, die ihre politischen Gedichte oft zu Jazzmusik vortrugen. Mit der Zeit wurden die Rap-Stücke einerseits politisch, und andererseits erzählten sie immer ausgefeiltere Geschichten.

Können Sie den Aufbau eines typischen Rap-Songs erläutern?

Es gibt natürlich nicht den Rap-Song. Vereinfacht gesagt: Im Intro identifiziert sich der Sprecher, der ja nicht identisch sein muss mit dem Künstler oder seiner Rolle. Marshall Mathers’ Rolle ist zum Beispiel Eminem, und eine seiner Figuren ist Slim Shady. Er oder sie verortet sich geografisch. Das ist ganz wichtig. Dann erzählt der Sprecher häufig von seinen Lebensbedingungen, das Thema «Mangel» ist sehr präsent und der Konflikt mit Gangs oder der Polizei. Dann werden auch die Hommies erwähnt, die Freunde, die oft eine dysfunktionale Familie ersetzen. Der «hook», der Refrain, ist meistens reserviert für die politische Botschaft.

Warum wird in Rap-Songs eigentlich so oft geprahlt?

Man nennt das «Braggadocio», von engl. «bragging». Das ist so eine reizende Art, über dieses Angeben zu reden, das ja auch nerven kann. Das geht einerseits auf das Spiel «the Dozens» zurück. Zudem entstand Rap durch «Battles», in denen Rapper ihre Fähigkeiten messen. Das ist ein wenig wie sprachliches Boxen. Und wie zeigt man da seine Überlegenheit, seine Muskeln? Durch seine Worte und sein Prahlen. Ausserdem sollte man die Rolle der Afroamerikaner in der amerikanischen Gesellschaft nicht vergessen. Sie wurden lange als minderwertig angesehen, und dieses «Braggadocio» ist eine Möglichkeit, dem etwas entgegenzusetzen – es ist eine etwas übertriebene Art, das Selbst und die Gemeinschaft zu zelebrieren.

Viele Leute denken bei Rap sofort an Gangsta-Rap, an diese Art, abschätzig über Frauen zu rappen und Gewalt zu verherrlichen.

Auf dieses Vorurteil stosse ich sehr häufig. Natürlich ist das ein Teil. Gangsta-Rap entsteht parallel zu dem, was wir heute Conscious Rap nennen, also dem Rap, der sehr politisch ist und eine starke soziale Botschaft hat – eine Gruppe wie Public Enemy ist ein Protagonist. Gangsta-Rap hingegen erzählt eher Geschichten, die schockieren sollen. Natürlich gab es damals Konflikte und Gewalt, die von Gangs und dem Krieg gegen die Drogen ausgingen.

Das war in den achtziger Jahren?

Genau. Aber dabei ist wichtig zu erwähnen, dass die Künstler real existierende Gewalt nahmen und in ein cooles Thema mit coolen Geschichten verwandelten, in urbane Mythen. Denn Kultgeschichten drehen sich ja meist um Transgression und die Figur des Gesetzlosen.

Sie denken dabei an Bonnie und Clyde?

Ja, aber auch an Billy the Kid und Jesse James. Sogar die Figur des Pioneers ist dem ähnlich. Diese Idee, immer die Grenze zu überschreiten, die vom System etabliert wurde, ist sehr prägend für die amerikanische Kultur.

Und das findet sich auch im Gangsta-Rap?

Genau. Der Gangster, der zum Held stilisiert wird. Aber gerade die Gewalt wird so übertrieben, dass sie fast cartoonmässig wirkt. Gangsta-Rap entstand in einer Zeit, als Weisse begannen, sich Rap anzuhören. Plattenlabels erkannten, dass diese Art von Geschichten – der Gangster, der Dealer, der Zuhälter – exotisch wirkten auf dieses Publikum. Die Handlung spielt in der Nähe, aber in einem Stadtteil, den Weisse kaum betreten. Ausserdem ist es auch eine Art der Kritik. Ice Cube hat den Song «The Nigga Ya Love to Hate» geschrieben. Der Titel ist polemisch, aber sein Argument ist korrekt. Es ist diese Haltung von «Ich mache nur, was du von mir erwartest, und du gibst mir noch Geld dafür».

Aber warum werden Frauen so oft zu Objekten degradiert?

Das kam mit dem übertriebenen Zelebrieren von Eigentum und Gütern im Gangsta-Rap. Es ist eine hyperbolische Art, das Überwinden von Mangel darzustellen, den viele Afroamerikaner erfahren: «Ich habe alles, von dem man jemals träumen könnte, inklusive der Frauen.» Ausserdem hat Gangsta-Rap eine sehr maskuline Perspektive und betont den männlichen Stolz. Das ist auch eine Art, dem weissen Amerika die eigene Macht zu demonstrieren.

Frauenverachtung gibt es nur im Gangsta-Rap?

Ja, das existiert überhaupt nicht im Conscious Rap. In diesem Genre waren auch die ersten Rapperinnen aktiv, die sehr feministisch, stark und zielstrebig waren. 

An welche Frauen denken Sie dabei?

Lauryn Hill ist wahrscheinlich die wichtigste Rapperin der Welt. Sie hat Frauenthemen auf sehr direkte Art angesprochen. Auch Lil’ Kim ist sehr interessant, weil sie ihre Stärke gerade im Umgang mit Stereotypen findet. Sie ist sehr sexuell in ihrem Auftreten, aber sie lässt sich nie zu einem Objekt machen, denn sie spielt mit ihrer eigenen sexuellen Stärke.

Wohin entwickelt sich der Rap? Wenn ich an Kendrick Lamar denke, habe ich den Eindruck, Rap werde wieder politischer.

Das stimmt. Und wenn wir von einer positiven Auswirkung der Trump-Wahl reden können, dann davon, dass es wieder mehr revolutionäre und kritische Ausdrucksformen geben wird. Es gibt so viel Inspiration für genau diese politischen Botschaften, mit denen Rap gestartet ist, wobei Lamar nur ein Beispiel ist.

Und weltweit?

Genau das Gleiche. Wir leben in politisch instabilen Zeiten. Und jeder will über seine Identität und sein Gefühl des Dazugehörens und der Repräsentation seiner Gemeinschaft reden. Da ist Rap genau das richtige Mittel dazu. Jeder kann ein Rapper sein. Du brauchst nur eine Stimme und ein paar Beats, und du kannst loslegen. Rap ist die wahrscheinlich demokratischste Art des Musikmachens, die es jemals gab.


Ana Sobral 

Ana Sobral ist die Assistenzprofessorin für globale Literaturen am Englischen Seminar der Universität Zürich. Sie hat das Buch «Opting Out» (Rodopi 2012) geschrieben, das Kultgeschichten wie Jack Kerouacs «On the Road» und Chuck Palahniuks «Fight Club» analysiert. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Globalisierung von Pop-Musik und die Verbindungen von Pop-Musik, Migration und Weltbürgertum. Sie hat Artikel zum islamischen Feminismus und zum Arabischen Frühling veröffentlicht. Gegenwärtig arbeitet sie an einem neuen Buch zum Thema «Rap als Narration». 

So war die Revolution

Die letzten neuen musikalischen Stilrichtungen entstanden in den siebziger und achtziger Jahren. Zwei neue TV-Serien und ein Film zeigen die aufregenden Anfänge.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Zugedröhnt sitzt Musikmogul Richie in seinem Auto in einer Seitenstrasse im New York des Jahres 1973. Ästhetisch in Szene gesetzt von Martin Scorsese für die HBO-Serie «Vinyl». Eben hat Richie die Telefonnummer eines Polizisten der Mordkommission gewählt. Doch bevor er etwas sagen kann, springen Leute auf sein Auto und rennen kreischend auf ein Abbruchgebäude zu. Wie unter Trance folgt Richie ihnen. 

Drinnen spielen die New York Dolls «Personality Crisis». In kollektiver Ekstase tanzen die Leute um Richie herum, der nur noch staunt angesichts von so viel Energie. Durch das Stampfen der Leute regnet es Putz von der Decke, bevor schliesslich das Haus in sich zusammenstürzt und Richie wie ein Phoenix aus der Asche zwischen Staub und Trümmerteilen hervortritt. 

Was Richie noch nicht weiss: Er wird gerade Zeuge der Geburt einer neuen Musikrichtung: Punk – mit seinem vorwärtspeitschenden Beat. «Es ist schnell, es ist dreckig, es ist, wie wenn dir jemand eins über den Schädel zieht», beschreibt er die Konzerterfahrung. «Du hast auch eins auf den Kopf bekommen, als das Haus einstürzte», sagt sein Arbeitskollege. «Na und? Ich habe die verdammte Zukunft gehört.»

Blütezeit der Musik

Das war die Zeit, als sich Musik ständig neu erfand. Zwischen dem Ende der sechziger Jahre und der Mitte der Achtziger wurden nicht nur die Grundsteine für Punk und Disco gelegt, sondern auch für Reggae, Rap, Synthi-Pop, New Wave, House, Techno und den Beginn des visuellen Musikkonsums. Die Serien «Vinyl», «The Get Down» und der Film «Sing Street» führen uns an die Geburtsstätten dieser Musikstile. Es ist die aufregende Zeit, die Musikjournalist Simon Reynolds in seinem Buch «Retromania» heute vermisst. Seither, bemängelt er, zitiert sich die Pop-Musik selbst, und alte Musikstile feiern ein Revival nach dem anderen. Die Band Hurts klingt nach dem Synthi-Pop der achtziger Jahre, Adele nach dem Soul der Sechziger. Das hat sich bewährt.

Diese Erfahrung macht auch Richie, als er seinen Musikmanager beauftragt, eine Punkband auf ein Vorspielen einzustimmen. Dieser lässt die Gruppe klingen wie eine Coverband der Kinks. Immerhin hatten die noch so etwas wie eine Melodie, findet er. Aber das ist nicht das, was Richie gesucht hat: «Die klingen wie Hafermehlbrei. Du hast alles weggerieben, was an denen interessant war. Die waren roh, frisch. Was hast du dir nur gedacht?» Das ist es auch, was Simon Reynolds in «Retromania» beanstandet: Mit der Stagnation oder gar Rückbesinnung auf vergangene Trends geht der Musik der rebellische Unterton verloren. Dabei treiben gesellschaftliche Rebellionen und technische Innovationen die Musik vorwärts und beeinflussen sich gegenseitig.

In der South Bronx regieren 1977 Disco und Korruption. Ganze Strassenzüge werden gesäumt von zerfallenen Häusern, von denen oft nur Trümmerteile übrig bleiben. Die Stadt ist bankrott, die Gewalt rekordverdächtig hoch, und die meisten Politiker scheren sich nicht um die Armen.

Sprachrohr einer Minderheit

«Ich komme aus der gefährlichsten Stadt der Welt. Tag für Tag ein weiteres Drama, dem wir uns nicht entziehen konnten. Die Musik war der einzige Ausweg. Denn wir waren im verfallenen Magen einer hungrigen Bestie», rappt der Protagonist der Netflix-Serie «The Get Down» über seine Kindheit im Ghetto. An einer Untergrund-Party hört der Teenager zum ersten Mal Rapmusik. Grandmaster Flash höchstpersönlich legt auf. Rap entstand, als DJs auffiel, dass die Leute während der kurzen, oft nur zehn Sekunden dauernden Schlagzeug-Sequenzen von Funksongs ausflippten. Deshalb begannen sie diese Sequenzen zu minutenlangen Musikstücken zusammenzuhängen. Die Technik dazu wird «Get Down» genannt.

Was als neuer Musikstil begann, wurde bald zur Grundlage für die rappenden Master of Ceremonies. «Solange der Beat andauert, so lange kann der Wortschmied weitermachen», wird dem Jungen erklärt. Der MC wurde zum Sprachrohr einer ungehörten Minderheit. Mit ihm bekam der Rap eine revolutionäre und politische Note.

Das finanziell gebeutelte Dublin der achtziger Jahre ist die Kulisse für den Film «Sing Street». Darin will der fünfzehnjährige Conor ein Mädchen beeindrucken. Also gründet er eine Band und dreht mit ihr ein Musikvideo. Es ist die Zeit der New-Wave-Gruppen wie Duran Duran und die Blütezeit der Musikclips. «Wenn das die Zukunft ist, sind wir alle am Arsch. Die bewegen ja nur die Lippen», kommentiert der Vater einen Musikclip der Band. Der ältere Bruder rollt genervt mit den Augen: «Das ist Kunst, die perfekte Kombination zwischen Musik und Ästhetik», ruft er zurück. Und der Jüngere plant bereits die musikalische Revolution an seiner katholischen Schule inklusive blonder Strähnchen und blauem Lidschatten.

Wer sich für Musikgeschichte interessiert, bekommt mit den drei Serien einen Einblick in eine ihrer kreativsten Perioden. «Vinyl» zeigt neben Punk auch Bob Marley oder Alice Cooper. «The Get Down» setzt den Kampf zwischen den rivalisierenden DJs Grandmaster Flash und DJ Kool Herc in Szene. Und «Sing Street» zeigt den Einfluss von New Wave und Musikvideos auf die Kultur. Vor allem aber sind es die Energie, die Aufbruchstimmung und die Begeisterung, Zeuge von etwas Neuem zu sein, die sie auszeichnen und zu einem Seh-Ereignis machen.

Nichts ist ihnen peinlich

Die Lemon Twigs mischen alles, was die sechziger und siebziger Jahre hergeben, und haben damit Erfolg.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Sie wirken wie aus einer anderen Welt: Zeitreisende, die wie durch Zufall in der Gegenwart gelandet sind und jetzt etwas deplaciert im Raum stehen. Ihr Aussehen, ihre Musik, sogar ihre höflichen Manieren weisen auf Vergangenes zurück. Besonders der jüngere Michael, gerade einmal 17 Jahre alt, sieht aus wie ein Mitglied der Bay City Rollers. Fröhlich, aber auch ein wenig so, als hätte sich ein Farbkasten über ihm übergeben. Zu Schuhen mit Schachbrettmuster trägt er grün-rot karierte Hosen und ein weisses Hemd mit roten Punkten. Die von Rod Stewart inspirierte Vokuhila-Frisur runden bräunlich abgedunkelte Brillengläser und ein roter Lippenstift ab. Michael hält stets den Mund ein wenig geöffnet, wenn er mit der Hand auf der Hüfte keck in die Kamera schaut, und am Schlagzeug tobt er sich aus wie der Drummer der Muppet Show. 

Dagegen wirkt Bruder Brian, 19, mit seiner schlichten schwarzen Jeans, dem hellblauen T-Shirt und dem roten Cordblazer wie ein blasser Hipster. Selbst seine Frisur sieht so brav aus wie aus den achtziger Jahren, als man Kindern noch eine Suppenschüssel über den Kopf gestülpt hat, um ihnen die Haare zu schneiden. Er wirkt ruhiger und reflektierter, und seine Antworten sind weniger impulsiv als die seines Bruders. 

So abgedreht ihr Kleiderstil ist, spätestens wenn man ihre Musik hört, nimmt man die beiden ernst. Die Boys aus einem Kaff auf Long Island, 45 Minuten von New York City entfernt, klingen wie die Beatles zu Zeiten von «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band», gekreuzt mit den Beach Boys und einem guten Schuss Glam Rock der Siebziger von Bands wie T. Rex. Die Songs haben eine perfekte Mischung aus intelligent-ausgeklügelt und schrullig-skurril. Oder wann hat man das letzte Mal ein Xylophon-Solo in einem Rocksong («These Words») gehört? Eben. Und dann noch eines, das klingt, als wäre Rumpelstilzchen in einem Tobsuchtsanfall über das Schlaginstrument gehüpft. 

Lieblingsband von Elton John

Mit dem Song haben Michael und Brian, die sich «Lemon Twigs» nennen, in den USA vor gut einem Monat auch das Talkshow-Publikum von Jimmy Fallon begeistert. Daraufhin twitterte Questlove über die Band, und auch Elton John war voll des Lobes und bezeichnete sie in seiner iTunes-Radioshow «Rocket Hour» als seine neue Lieblingsband. 

«These Words» stammt von ihrem Album «Do Hollywood». Strenggenommen ist das bereits ihr zweites. Das erste «What We Know» haben sie auf dem 8-Spur-Tonträger ihres Vaters, einem Musiklehrer, im Keller aufgenommen und gerade einmal 100 Kassetten davon unter die Leute gebracht. Da waren sie 15 und 17 Jahre alt, und ihre Musik klang noch etwas mehr nach psychedelischem Rock. 

Damals schrieben sie auch die Songs für das neue Album, das sie im Februar 2015 mit Produzent Jonathan Rado in Kalifornien einspielten – zehn Songs in zwölf Tagen. Damit keine Eifersucht aufkam, steuerte jeder fünf bei. In den folgenden Monaten fügten sie dann mittels Overdub mehr und mehr Instrumente hinzu. Brian spielte Gitarre, Bass, Keyboard, Trompete, Violine und Cello, während Michael lange «nur» am Schlagzeug sass. «Wir haben beide mit fünf Schlagzeug spielen gelernt. Mit sieben kamen bei mir Gitarre und andere Instrumente dazu. Michael konzentrierte sich bis 13 aufs Schlagzeug. Dann hatte er eine Nirwana-Phase und lernte Gitarre spielen», erzählt Brian in einem Interview mit dem «Guardian». 

Während andere Kinder noch Comic-Bücher lasen, spielten die beiden bereits als Kinder in Theaterstücken am Broadway und in Hollywood-Filmen mit, traten mit ihren Schulbands auf oder komponierten Rap-Songs, wie man auf Youtube sehen kann. «Wir kommen aus einer kleinen Stadt, dort gibt es nicht viel zu tun, ausser zur Schule zu gehen und Musik zu machen», sagt Michael. 

Und so klingt das Album «Do Hollywood» nach einer Band, die über ein fast lexikalisches Musikwissen der sechziger und siebziger Jahre verfügt, aber auch über die Freiheit der Jugend, der nichts peinlich ist und die alles ausprobiert. Auf die Frage, warum sie so retro klängen, sagte Brian dem «Guardian»: «Wir versuchten nicht, verkrampft ausgeklügelte Musik zu machen. Wir wollten einfach, dass es hübsch klingt.» Der Song «Haroomata» beginnt mit einem andächtigen Cembalo-Intro, steigert das Tempo, bis man an eine Zirkusband denkt, der die Kontrolle entgleitet, bevor Brian mit ruhiger Stimme wieder für Ruhe sorgt. 

Lebhafte Bühnenschau

Eingespielt haben die Brüder die Platte allein. Auf der Bühne erhalten sie Verstärkung von Megan Zeankowski am Bass und Danny Ayala am Keyboard. Sie selbst wechseln sich an Gitarre und Schlagzeug ab. Dabei muss sich vor allem Megan öfter vor Michaels hohen Kicks in acht nehmen. «Ich spiele nicht so gut Gitarre wie Brian und fühle mich unsicher, wenn ich mich nicht gut genug bewege. Kicks sind so ziemlich die einzigen Bewegungen, die du auf der Bühne machen kannst, wenn du gleichzeitig noch Gitarre spielst», sagt Michael. Gut, dass sie dazu die passende Musik gefunden haben.

Wer bin ich eigentlich?

R’n’B-Sänger Frank Ocean und Rapper Kendrick Lamar suchen auf ihren jüngsten Alben nach ihrer Identität. Sie gehören zu den innovativsten Künstlern ihrer Generation.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Frank Ocean hat alle überrascht, als er innerhalb von 24 Stunden gleich zwei vollständige Alben veröffentlichte und dazu noch ein 360 Seiten dickes Magazin mit dem Titel «Boys Don’t Cry». So hätte eigentlich das neue Album heissen sollen. Entstanden sind dann aber: «Blond» (auch «Blonde» geschrieben) und «Endless». 

«I’ve got two versions», singt Ocean in «Nikes», dem ersten Song auf «Blond/e». Und das gilt gleich mehrfach: Der 28-Jährige hat zwei Alben und zwei Versionen des Albums «Blond/e» (mit jeweils unterschiedlichen Songs) veröffentlicht. Der Titel ist wahlweise männlich oder weiblich geschrieben: der Blonde oder die Blondine. Und seit Frank Ocean vor vier Jahren kurz vor seinem ersten Album «Channel Orange» mitteilte, seine erste grosse Liebe sei ein Mann gewesen, rätselt die Welt, ob er denn nun bisexuell oder homosexuell sei. Der Mann hat nicht nur zwei Versionen, es gibt ihn auch in zwei Versionen. Mindestens. 

Bevor er «Blond/e» veröffentlichte, schrieb er auf seiner Tumblr-Seite, die Inspiration zum Album sei das Foto eines blonden Mädchens in einem Auto gewesen. Dabei reflektierte er auch seine Auto-Obsession: «Vielleicht ist sie verbunden mit einer tiefen unbewussten Hetero-Jungenphantasie. Aber ich suche nicht bewusst nach hetero – ein bisschen schwul ist gut», schrieb er. 

Das Album hat wenige eingängige Melodien, und man muss sich bewusst darauf einlassen, damit es sich einem erschliesst. Wie Tagebucheinträge, ohne narrative Struktur, lässt einen Ocean an seinen intimsten Momenten teilhaben: Kindheitserinnerungen, Sex, Dates, Anekdoten. Aber immer bleibt Ocean alleine. Selbst wenn er andere beobachtet. Wie in einem Kokon. Einem metallenen. Seinem Auto.

Das audiovisuelle Album «Endless» gibt es nur als Videodatei. Während man Ocean in einem Schwarz-Weiss-Film beim Bau einer Wendeltreppe ins Unendliche zusieht, sind im Hintergrund ganze Songs oder auch nur Einzeiler zu hören, die anschwellen und wieder verklingen. In einer Kombination aus Bewusstseinsstrom und Montage setzt sich dem aufmerksamen Zuhörer langsam Oceans Identität zusammen. Aber immer nur für kurz, bevor sie wieder wie Sand zwischen den Fingern verrinnt und eine neue Form annimmt. 

Es ist ein Werk der Tumblr-Generation. Während Menschen früher auf Blogs ihre Gedanken vollständig ausformuliert der Welt kundtaten, kann auf Tumblr alles geteilt werden: Fotos, Tweets, längere Texte, Ton- und Filmdateien. Das Publikum wird so aufgefordert, sich aktiv für ein Gesamtbild einzusetzen, anstatt es fixfertig vorgesetzt zu bekommen.

Während Ocean eher unbeabsichtigt für seine Generation steht, sieht sich Kendrick Lamar als ihr Sprecher – zumindest als jener der Afroamerikaner. «Ich bin fast eine Art Prediger für die Jungen», sagte er der «New York Times». Der aus den Armenvierteln in Compton stammende Lamar hat sich in seinem zweiten, viel gelobten Album «good kid, m.A.A.d. city» mit der Frage auseinandergesetzt, wie man es aus dem Ghetto herausschafft.

In seinem dritten Album «To Pimp a Butterfly» und dem dazugehörigen vierten Album «Untitled Unmastered», das unfertige Demos des gleichen Materials enthält, fragt er sich, wer er nun ist, jetzt, da er es geschafft hat und reich ist. Selbstkritisch analysiert Lamar seine Rolle in «i» und «u» und kommt zum Schluss, dass er die Verantwortung, die ihm durch seinen Reichtum und seine Berühmtheit übertragen wurde, annehmen muss.

Im von Jazzklängen begleiteten Stück «For Free?», in dem sich ein Mann scheinbar über seine Freundin beschwert, klagt Lamar die USA an: «Oh, Amerika, du böse Schlampe, ich pflückte Baumwolle und habe dich reich gemacht. This dick ain’t free.» Durch die Doppeldeutigkeit von «free» als frei und gratis beklagt er mit politischer Brisanz, dass er auch als reicher Afroamerikaner nicht wirklich frei ist, und verweist gleichzeitig darauf, dass er nicht bereit ist, sich von der Musikindustrie ausnutzen zu lassen. Am Ende des Albums hat der 29-Jährige seine neue Rolle akzeptiert und rezitiert als Antwort ein Gedicht über eine Raupe, die in ihrem Kokon feststeckt, sich dann aber in einen Schmetterling verwandelt. 

Die beiden genialen und innovativen Künstler basteln nicht nur gerade an der Musik der Zukunft, sie verkörpern auch perfekt den Geist der Jugend, der politische Gleichberechtigung fordert und sich in seiner Identität nicht auf ein paar Adjektive festlegen lässt. Word! 

Dabei sein ist alles

Die Open-Air-Saison beginnt. Wer glaubt, es ginge den meisten Besuchern nur um Musik, ist naiv.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Die Menschen lagen im Schlamm. Auf einer Fläche von 2,5 Quadratkilometern verteilt. Es war nass. Es war kalt. Und da die Bühne weit entfernt war, hörten viele die Musik nur als Hintergrundgeräusch. Die meisten sahen weder den Auftritt von Jefferson Airplane, noch hörten sie Jimi Hendrix «A Star-Spangled Banner» auf seiner Gitarre improvisieren. Aber es war Woodstock. Und sie waren dabei. 

Es gibt diese Momente in der Geschichte, die als Mythos lange nachwirken. Und der legendäre Hippie-Auflauf von 1969 erstreckt seine Tentakel bis zu den heutigen Open Airs. «I was at Coachella, baby, for a minute, it was Woodstock in my mind», singt die 31-jährige Lana del Rey über ihre Festivalerfahrung. Das kalifornische Open Air mit dem seltsamen Namen ist der neue Sehnsuchtsort der Freizeithippies weltweit. Einmal über diese saftiggrünen Wiesen in der Wüste flanieren, die von riesigen Pumpstationen unterirdisch bewässert werden. Und tagelang die eigene Jugend und Unbeschwertheit zelebrieren. 

Die Organisatoren investieren viel Energie, um den Mythos aufrechtzuerhalten, und werden von Fans und Sponsoren laufend untergraben. H&M hat eine eigene Coachella-Kleiderlinie kreiert, die auch bei uns erhältlich ist und aus ultrakurzen Jeans-Shorts und langen Mänteln besteht. Komplementiert wird das Outfit mit der übergrossen spiegelnden Sonnenbrille und dem obligatorischen Bandana. Die Fans werden nicht müde, so ihre Individualität auf Instagram zu posten. Dabei sehen sie aus wie Klone. Es ist die ultimative Eventisierung eines Lebensgefühls. Dabei geht es darum, eine Veranstaltung für Marketingzwecke emotional aufzuladen. Verkauft werden nicht nur Konzerte, ökologisches Essen und das Zelten unter freiem Himmel, sondern das Versprechen, einen magischen Moment erleben zu dürfen, der vielleicht sogar in die Geschichte eingeht. Die Musik wird dabei zur Nebensache. Coachella verkauft drei Viertel seiner Tickets, Monate bevor das Programm überhaupt verkündet werden kann. Es spielt keine Rolle, wer auf der Bühne steht. Es geht um das Feeling. Aus diesem Grund hat die «New York Times» sich letztes Jahr entschieden, nicht mehr über die grossen Open Airs zu berichten. Übernommen haben diese Aufgabe Online-Zeitungen und Blogs. 

Familientreffen auf dem Gurten

Den Niedergang der Open Airs in den USA eingeläutet hat ausgerechnet Woodstock. Die halbe Million Menschen war zwar friedlich, aber verursachte ein Verkehrschaos und hinterliess einen Abfallberg, der es zukünftigen Veranstaltern fast verunmöglichte, weitere Festivals zu organisieren. Erst 1991 klappte es mit Lollapalooza in Chicago wieder. 

Dafür wurde das Konzept in der Zwischenzeit in Europa aufgenommen. 1970 entstand das Glastonbury Open Air in Grossbritannien, die grösste Freiluftveranstaltung weltweit. Für vier Tage wird eine Stadt aufgebaut, die mehr Einwohner zählt als Bern. Im Unterschied zu Coachella hat Glastonbury eine lange Tradition und ermöglicht so eine soziale wie auch eine altersmässige Durchmischung der Besucher, für die Musik eine Rolle spielt. Das andere wichtige europäische Open Air Sziget wird in Budapest veranstaltet. 

Und in der Schweiz? Viele Besucher gehen auch hier an die Festivals, ohne an Musik interessiert zu sein. Das gestand auch Dany Hassenstein, Mitglied der Geschäftsleitung des Paléo Festival Nyon, des grössten Open Airs in der Schweiz, 2015 der «NZZ». «Als Programmverantwortlicher hoffe ich natürlich, dass die meisten wegen unserer gebuchten Acts kommen. Aber die Realität ist, dass das ganze Package entscheidet.» Und so prahlen immer mehr Besucher damit, während der ganzen vier Tage nicht ein einziges Konzert besucht zu haben. Vielmehr geht es um den Geist eines Festivals, der massgeblich von der Tradition und teilweise auch der Geografie geprägt wird. 

So bleibt das Gurtenfestival auf dem Berner Hausberg relativ klein. Als eines der grossen in der Schweiz mit den wenigsten Stars setzt es lieber auf eine familiäre Stimmung. Die Leute kommen auch ohne Headliner. Auch beim Open Air St. Gallen ist dabei sein alles. Zwar setzte das Festival auf Stars, aber das Gerücht hält sich hartnäckig, dass die richtig eingefleischten Fans ihre Zeit in der Halligalli-Hütte verbringen, wo sie Musik aus der Dose konsumieren. Da haben es die Nischen-Events einfacher. Das Greenfield Festival in Interlaken setzt seit 2005 auf Rock und hat sein Programm über die Jahre noch verfeinert, während das Open Air Frauenfeld sich der afroamerikanischen Musik widmet. Wer es besucht, ist meist auch an den Künstlern interessiert. Und das Festival punktet immer wieder mit Musikern, die sonst in der Schweiz nicht live auftreten, dieses Jahr zum Beispiel Rapper Nas. 

Nyon schlägt Zürich 

Da hat es das Zurich Open Air schwer. Es hat zwar viele Weltstars im Programm, aber es verzeichnete mit 50 000 Besuchern letztes Jahr über viermal weniger als das Paléo mit 220 000. Doch grosse Stars verlangen im Allgemeinen auch grosse Gagen. Das vergleichsweise kleine Publikum erklärt sich wahrscheinlich dadurch, dass sich das jüngste unter den grossen Open Airs in der Schweiz noch nicht etablieren konnte. Und so berichteten die Zeitungen letztes Jahr zwar von guten Acts, aber auch von wenig Stimmung. 

Seit einiger Zeit wird in der Schweiz dem Sommer gehuldigt, als käme er nächstes Jahr nicht wieder. Auf Facebook wird man überschwemmt von Einladungen zu Open-Air-Bars, Freiluftrestaurants, Messen unter freiem Himmel, Partys im Grünen und Filmvorführungen unter Sternenfirmament. Da wundert es nicht, dass es auch immer mehr Musikfestivals gibt. Und so trägt wohl auch hierzulande jeder der jährlich knapp fünf Millionen Besucher die Hoffnung mit sich auf einen legendären Sommerabend wie vor knapp 50 Jahren auf einer schlammigen Wiese in der Nähe von New York. Dass das Wetter dabei nebensächlich ist, hat Woodstock bewiesen. Dabei sein ist eben alles. 

Limonade aus Zitronen

Aus der bitteren Ehekrise mit Gatte Jay-Z hat Beyoncé auf ihrem Album «Lemonade» süsse Erfrischung gemacht.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Nicht viele Frauen schaffen es, mit einem Baseballschläger in der Hand sexy auszusehen. Aber Beyoncé Knowles gelingt genau das, wenn sie im Film «Lemonade» in einem wallenden, gelben Kleid majestätisch eine Strasse hinunterschreitet und dabei mit viel Schwung Autofenster zertrümmert. So als handle es sich um den Kopf ihres Ehemannes Jay-Z.

Was ist passiert? Er hat sie betrogen. Offiziell bestätigt wurde es nie. Aber Knowles beschreibt den Seelenschmerz auf ihrem neuen Album so eindrücklich, dass kaum jemand mehr daran zweifelt. Gerüchte kamen schon einmal auf. 2014. Als ein Video veröffentlicht wurde, das zeigt, wie ihre kleine Schwester Solange ihren Ehemann Jay-Z im Lift vermöbelt. Seither hat Queen Bey geschwiegen. Dass sie nun plötzlich Details dazu preisgibt, hat alle genauso überrascht wie die plötzliche Veröffentlichung ihres neuen Albums «Lemonade». 

Doch in der Zwischenzeit hat sie zum Auftakt ihrer Welttournee ihrem «wunderbaren Ehemann» gedankt. Also alles wieder gut? Scheint so. «Lemonade» ist auch kein Trennungsalbum. Im Gegenteil. Beyoncé gelingt, was sie mit dem Titel andeutet: Sie macht aus Zitronen Limonade und versucht damit dem Schmerz etwas Positives abzugewinnen. Das Album ist eigentlich zweigeteilt. Sechs der zwölf Songs drehen sich um den Betrug und zeichnen die verschiedenen emotionalen Phasen des Schocks nach. «Du bist nicht mit einer gewöhnlichen Schlampe verheiratet, Junge», erinnert Beyoncé ihren Ehemann. Als ob sie das nötig hätte. Statt in Selbstmitleid zu versinken oder mit stoischer Miene hinter ihrem betrügerischen Mann zu stehen, besinnt sich Queen Bey auf ihre Kultur, was den zweiten Teil des Albums dominiert. «Denn eine Gewinnerin gibt sich nie selber auf», singt sie.

Und so zelebriert sie auf ihrem Album und noch mehr im dazugehörigen Film afroamerikanische Weiblichkeit. Dieses «visuelle Album» wurde in den USA auf HBO ausgestrahlt und ist nun bei iTunes und Amazon erhältlich. Die Videoclips der zwölf Songs werden durch die von Beyoncé vorgelesenen Texte der somalisch-britischen Lyrikerin Warsan Shire zusammengehalten. Die Worte der 27-jährigen Immigrantin prickeln wie Eiskristalle über den Rücken und hallen wegen ihrer eigenwilligen Sprachbilder noch lange nach. Der ganze Film feiert die afroamerikanische Kultur. Frauen, die zusammen leben, an langen Tafeln zusammen essen oder tanzen. Auch die Mütter der von weissen Polizisten erschossenen jungen Männer Michael Brown, Eric Garner and Trayvon Martin sind zu sehen, wie sie Porträts ihrer Söhne in die Kamera halten. Eingewoben werden Szenen aus New Orleans, der Stadt, die spätestens seit Hurrikan «Katrina» zum Inbegriff der Ungleichheit der Ethnien in den USA wurde. 

Im letzten Stück ihres Albums, «Formation», stellt sie sich in die Tradition der «Black Is Beautiful»-Bewegung der 1960er: «Ich mag die Afro-Locken meines Kindes. Ich mag meine Negernase und die Jackson-Five-Nasenlöcher.» Auch musikalisch gibt das Album einiges her. Beeindruckend sind vor allem die Mitwirkenden: DJ Diplo hat an zwei Stücken mitgearbeitet, genauso wie Ezra Koenig, der Sänger von Vampire Weekend, Sänger The Weeknd, Musikproduzent James Blake und Rapper Kendrick Lamar, und auch Jack White war beteiligt. Er sampelte Led Zeppelin für «Don’t Hurt Yourself». Die Musikstile reichen von Pop über R & B bis zu Country für das Stück «Daddy Lessons». Viele Helden der afroamerikanischen Kultur sind gefallene Helden: Bill Cosby, O. J. Simpson, Michael Jackson. Im Film zitiert Beyoncé Malcolm X: «Die am wenigsten respektierte Frau, die am wenigsten geschützte Frau, die vernachlässigtste Frau Amerikas – ist die schwarze Frau.» Das ist heute noch bittere Realität in den USA. Immerhin gelingt es immer mehr Frauen, wie Oprah Winfrey und Michelle Obama, diesem Schicksal zu entrinnen. Auch Beyoncé gesellt sich zu ihnen – gewohnt sexy und neuerdings auch kämpferisch, notfalls mit einem Baseballschläger in der Hand.