Erwachsen geworden

Die britische Rockband The Vaccines wurde 2010 auf einen Schlag berühmt. Drei Alben später klingt sie weniger spassig, dafür differenzierter. Am Festival m4music spielt sie in Zürich.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Als die Band im August 2010 ihre erste Single «If You Wanna» online stellte, schlug diese ein wie eine Bombe. Der Aufruf von Sänger Justin Young an eine Ex-Freundin, begleitet von peitschendem Surf-Rock, traf einen Nerv. «Ich will am Morgen nicht allein aufwachen, aber ich muss mich dem Tag stellen. Das sagen jedenfalls alle Freunde, die ich nicht so gut wie dich mag», sang er. 

Die liebeskummergetränkte Deklaration in tanzbarem Indierock bescherte den Newcomern Konzerteinladungen in ganz Grossbritannien. Ein Londoner Auftritt einige Monate später bekam in den Erzählungen der Anwesenden (hauptsächlich Journalisten und andere Musiker) später Kultstatus. Und es animierte einen Musikjournalisten im Magazin «Clash» dazu, eine neue Ära der Gitarrenmusik auszurufen. Die Band begründete zwar keine neue Welle, aber die damals erst Anfang-zwanzig-Jährigen erspielten sich innerhalb von Monaten ihren festen Platz in der Musikszene. 

Songschreiber und Sänger Justin Young ist ein Grübler. Das hört man auch den Songs an, die er im Alleingang schreibt. Während er in «Wetsuit» noch die Angst vor dem Altern besingt – «Um Gottes willen lasst uns jung bleiben, denn es wird immer schwieriger, der Zeit davonzulaufen» –, steht in «Minimal Affection» vier Jahre später die Angst vor der Beziehungslosigkeit im Vordergrund: «Du vergisst, wie man eine Verbindung eingeht, wenn du schon so lange eine wolltest.»

Besonders zu Beginn der Bandkarriere hatte Young den Ruf, so distanziert zu sein, dass sich Interviews mit ihm schwierig gestalteten. Diesen Eindruck hinterlässt er bei uns nicht, als wir kürzlich mit ihm telefonieren. Die Band befindet sich gerade in Madrid, wo sie am Abend auftritt. Young bemüht sich, die Fragen detailliert zu beantworten. Dabei lacht er regelmässig, aber so sanft, dass man genau hinhören muss, um es nicht zu überhören. 

«Ich habe mich schon immer mit der Musik verbunden gefühlt», erzählt er. «Songs zu schreiben fällt mir leicht. Ich fand stets, der beste Weg, mit Menschen in Verbindung zu treten, ist, ihnen ehrlich zu sagen, was man fühlt und wie man die Welt sieht.»

Unter dem Druck von Fans und Kritikern, nach dem Erfolg von «If You Wanna» ein Debütalbum nachzuliefern, zog sich die Band ins Studio zurück. Fast zeitgleich tingelte sie monatelang durch Grossbritannien und spielte in Pubs, die nach ihrem schnellen Erfolg für die Fans oft zu klein waren. Allfällige Kritik vorwegnehmend, nannten sie ihr Album im März 2011 herausfordernd «What Did You Expect From the Vaccines?». 

Während es in den Songs des ersten Albums noch mehr um Spass und Sex ging, zeigten sie sich auf ihrem nächsten Album «Come of Age» (Erwachsen geworden) achtzehn Monate später selbstkritischer. In «Teenage Icon» analysierte Young den plötzlich Ruhm kritisch: «Ich bin keine Teenager-Ikone. Distanziert und schüchtern, nur ein Durchschnittstyp, untrainiert, mit fettigen Haaren. Ich bin nicht magnetisch oder mythisch. Ich bin nur vorstädtisch und typisch. Ich wurde von allem überwältigt.» 

Das Debütalbum wurde begeistert aufgenommen. In der zweiten CD sahen viele Kritiker dagegen nur eine Verlängerung der ersten. Sie bemängelten das Fehlen einer musikalischen Entwicklung. Über die Jahre entstand auch innerhalb der Band der Wunsch nach Veränderung, und sie beschloss, sich mehr an zeitgenössischer Musik zu orientieren. «Von unserem dritten Album, ‹English Graffiti›, wollten wir, dass es nicht mehr so zeitlos klingt wie die ersten beiden. Es sollte klingen wie ein Produkt seiner Zeit», erklärt Young.

Das Ergebnis dieser musikalischen Frischzellenkur erinnert streckenweise an Popsongs der achtziger Jahre. Und die Sehnsucht nach Verbundenheit, die sich auf allen drei Alben als zentrales Thema findet, bekommt auf dem dritten eine stärker melancholische Note. Zum Glück blitzt dazwischen die jugendliche Lebensfreude der ersten beiden Alben auf. Die Verbundenheit als Thema finde sich auch im Titel des Albums, erklärt Young. «Als ich in Peru war, sah ich viele englische Graffiti, während ich in einem deutschen Auto sass, eine Cola trank und im Radio amerikanische Popmusik hörte. Die Welt ist auf so vielfältige Art verbunden. Über diesen Mix aus Verbundenheit und Abgrenzung, der sich auch im Versuch, eine bedeutungsvolle Beziehung zu haben, zeigt, dachte ich viel nach. ‹English Graffiti› fasst das alles für mich zusammen.» 

Wer nun befürchtet, sich bei einem Auftritt der Vaccines wie an einem Popkonzert zu fühlen, den beruhigt Young: «Wir sind noch immer eine Rockband. Die Gitarre steht weiterhin im Mittelpunkt. Aber es hat etwas Magisches, wenn der ganze Raum mitsingt. Wir spielen deshalb gerne unsere Hits.» 

Auf Zürich angesprochen, erinnert er sich an einen ganz speziellen Moment. «Unser erstes und bisher einziges Konzert in Zürich fand im Dezember 2012 statt. Es war eiskalt. Wir hatten den Tag über nichts zu tun und haben einen Schneemann gebaut. Dann haben wir ihm ein Vaccines-T-Shirt angezogen, sind alle um ihn herumgestanden und haben eine Foto gemacht. Fast so eine Art offizielle Familienfoto, wie an Weihnachten. Ich habe es noch immer auf dem Handy.»

Auf dem Planschbecken trommeln

Die Band Animal Collective suchte für ihre neue CD «Painting With» archaische Klänge und schuf eine App, mit der man ihre Musik auch malen kann. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Wer als Indie-Musiker ernst genommen werden will, muss Anekdoten bieten. Die Band Animal Collective liess Dinosaurier an die Wände der EastWest Studios in Los Angeles projizieren, während sie im Kerzenschein auf einem Kinderplanschbecken aus Plastic herumtrommelte. Die Musik sollte rudimentär, aggressiv und stampfend klingen. 

Zuvor hörten sich die fünf Experimentalmusiker aus Baltimore alte Ramones-Songs und frühe Techno-Werke an. Das fertige Album klingt in ihren Ohren wie ein «elektronischer Trommelkreis», wie es Geologist (mit bürgerlichen Namen Brian Weitz) in einem Interview ausdrückte. Ein Punk-Album ist das Werk dennoch nicht. Man hört den Songs nicht an, woher sie ihre Inspiration nehmen. 

Diese Musik klingt so getrieben und gehetzt, als käme sie aus dem Mixer. Lässt man sich auf sie ein, ist man nach vierzig Minuten beinahe ausser Atem. Nur unbedingte Hingabe kann einen vor Überforderung schützen. Der dichte Klangteppich, den die sich überlappenden Gesangsstimmen von Avey Tare (David Portner) und Panda Bear (Noah Lennox) begleiten, erinnert an den Informations-Overkill, dem wir täglich ausgesetzt sind, und er schützt zugleich auch davor: Multitasking kann man bei dieser Musik vergessen.

Fans des Mainstreams werden sich darüber freuen, dass das neue Album «Painting With» an die heitere Grundstimmung der vorletzten CD «Merriweather Post Pavilion» (2009) erinnert, mit dem Animal Collective ihren grössten Erfolg feierten. Das lüpfige Eröffnungsstück «FloriDada» fährt einem besonders in die Ohren. Avey Tare ist zwar nicht gerade bekannt für politische Statements, die Hymne auf den Sonnenstaat schrieb er aber als Reaktion auf die Radiosendung «Dumme Dinge, die Menschen in Florida gerade tun». Diese ist für ihn ein Sinnbild für das zerbröckelnde Zusammengehörigkeitsgefühl der Amerikaner. Dem wollte er entgegenwirken. 

Zum Album gibt es auch eine App, mit der man die Musik auf dem Touchscreen visuell darstellen kann. Das ist wie damals mit den Fingerfarben im Kindergarten und bereitet eine kindliche Freude. Selbst das Aufhängen des Kunstwerks am Kühlschrank der Familie hat sein digitales Pendant auf Twitter gefunden. Die Band war schon in der Vergangenheit daran interessiert, Bilder für ihre Musik zu schaffen: zum Beispiel mit dem psychedelischen Film «ODDSAC» (2010) oder ihrer Performance «Transverse Temporal Gyrus» (2012) im Guggenheim-Museum in New York. Mit der App haben die Musiker sich nun den Wunsch erfüllt, ihre Fans an diesem Entstehungsprozess teilhaben zu lassen. So geht Höhlenmalerei im 21. Jahrhundert.

Ganz schön verrückt

Die Madrider Band Hinds hat es dank Online-Veröffentlichungen auf die grossen Bühnen geschafft. Das ist völlig verdient: Ihre Garagenmusik schmeckt nach Sonne und geht in die Beine.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

«It’s crazy!», sagt die 21-jährige Ana García Perrote während des Interviews immer wieder. Und verrückt ist das Ganze wirklich. Innerhalb eines Jahres sind sie und ihre drei Mitstreiterinnen der Band Hinds von ihrem Studentendasein in Madrid, auf die grossen Musikbühnen katapultiert worden: Vorband von The Strokes im Hyde Park, Auftritt am Glastonbury-Musikfestival, Welttournee. Und dann gibt’s da noch diese Anekdote einer Party in Harrison Fords Haus. Aber der Reihe nach. 

Angefangen hat alles an einem Strand in Spanien. Als García Perrote mit der 24-jährigen Carlotta Cosials 2011 und Freunden am Meer war, brachte ihr Cosials einige Akkorde auf der Gitarre bei. Zurück in Madrid hatten sie ein paar Auftritte als Coverband, die die beiden aber der Erzählung nach mehr schlecht als recht über die Bühne brachten. Beschämt beschlossen sie, nie wieder ein Wort darüber zu verlieren. Achtzehn Monate später, im Winter 2013, begannen sie eigene Songs zu schreiben. Zwei davon nahmen sie mit ihrem Smartphone auf und veröffentlichten sie als «Demo» im Frühling 2014 auf der Website Bandcamp (damals noch unter dem Bandnamen Deer, inzwischen zwang die gleich klingende Band The Dears sie zu einem Namenswechsel).

Es dauerte nur wenige Monate, bis es verrückt wurde. «Es wurde grösser und grösser, wie ein Schneeball, den man den Hang hinunterrollt», erzählt Perrote. Die einflussreiche Zeitschrift «New Musical Express» (NME) schrieb im Juli 2014 über sie, «The Guardian» erklärte ihr «Demo» Mitte September zum Album der Woche, und eine Plattenfirma flog extra nach Madrid. «Während des ersten Treffens fragte uns der Manager nach unseren Träumen. Wir sagten ihm, wir würden gerne drei Konzerte in Spanien spielen. Das war alles, was wir uns erhofften. Nur schon eine Band zu sein, war unser Traum.» 

Und nun sitzt García Perrote auf dem Sofa ihres Plattenlabels in London, neben ihr die 19-jährige Amber Grimbergen, die Schlagzeugerin der Band, die im Herbst 2014 kurz nach der 23-jährigen Bassistin Ade Martín zur Band stiess. Vor ihnen steht der Laptop, auf dem wir über Skype kommunizieren. Perrote fallen die dunkelbraunen Haare über die Schultern. Sie spricht schnell, lacht viel und gestikuliert wild mit den Händen. Ihre Lebensfreude ist ansteckend. Neben ihr wirkt die blonde Grimbergen etwas scheu und in sich gekehrt. 

Die Hinds sind ein Produkt ihrer Do-it-yourself-Generation. Sie haben nicht nur das Musikmachen sich selber beigebracht, die Songs selber aufgenommen und ihre eigenen Videoclips gefilmt und geschnitten. Auch ihre Social-Media-Präsenz haben sie genauestens überwacht. «Wir sind richtige Social-Media-Freaks und haben von Anfang an genau darauf geachtet, wer uns liket und wer nicht und welche Foto und welcher Eintrag geliket werden», erzählt Perrote selbstironisch lachend. 

Kurz nach dem Plattenvertrag kamen bereits die ersten Konzertanfragen: Thailand, Hongkong, Australien. Und dann rief der Manager von The Libertines an. «Er sagte: ‹Okay, flippt nicht aus, und ihr müsst das auch nicht machen, wenn ihr euch nicht bereit fühlt, aber wir wollen euch als Vorband.›» Perrote lacht erneut schallend. «Natürlich haben wir zugesagt, obwohl es erst unser 20. Konzert war, und dann gleich noch vor sechstausend Zuschauern. Wir waren so nervös, dass wir vorher kaum schlafen konnten.»

Ihre Songs im Garage-Rock-Stil klingen wie eine Kreuzung zwischen den Black Lips und den Pipettes oder den Vivian Girls und den Thee Headcoatees. Deren Mitgröl-Kracher «Davey Crockett» haben sie inklusive des von den Ramones geprägten Punkmusik-Schlachtrufs «Gabba Gabba Hey» als Cover aufgenommen. Ihre Songs drehen sich um das, was einen eben bewegt, wenn man Anfang zwanzig ist: Beziehungen, Liebe, Ausgang, Freunde. Die schrammenden Gitarrenriffs und die sich manchmal überschlagenden Stimmen passen zu ihrer DIY-Musik, die gute Laune macht und schnell in die Beine fährt. 

Diesen Stil wollten sie auch beibehalten, als ihnen im April 2015 zum ersten Mal ein Studio zur Verfügung stand. Als Produzenten wählten sie deshalb den befreundeten Musiker Diego García der Garage-Band The Parrots. Und so hat man beim Anhören ihres Albums das Gefühl, live mit Freunden in einem Bandkeller zu sein, Bier und Zigarette in der Hand, während man sich beim Mitsingen heiser schreit. 

Böse Zungen behaupten, der Erfolg sei ihnen bloss durch ihre Jugend und ihr Aussehen beschert worden; gestandene Musikjournalisten berichten in einem etwas väterlichen, gönnerhaften Ton über die Band. Dabei merkt man den Frauen während des Interviews deutlich an, wie hart sie für ihren Erfolg arbeiten. «Zwei Monate nach den Aufnahmen kamen wir wie Nerds mit seitenlangen detaillierten Notizen zurück ins Studio, um die Songs abzumischen», erzählt Ana García Perrote. 

Auch ihrer Heimatstadt ist ihr Erfolg nicht entgangen. «Wir sind nicht wirklich berühmt in Madrid, eher berüchtigt. Weil das so verrückt ist, was mit uns passiert ist, mögen uns nicht alle. Also entweder sie lieben uns, oder sie hassen uns», ergänzt Perrote und wirkt zum ersten Mal distanziert. 

Und wie war das jetzt mit Harrison Fords Haus? Perrote krümmt sich wieder vor Lachen. «Das stimmt schon. Wir waren in seinem Haus. Eine befreundete Band von uns ist mit der Band von Fords Sohn befreundet, und die haben uns gefragt, ob wir mitkommen wollen.» So einfach geht das. Und wie war’s? «Gross. Irgendwo war auch noch seine Mutter, und Ade musste sich später in seinem Badezimmer übergeben.» Da ist es wieder, ihr Lachen. «It’s crazy», sagt sie. «Wir verdanken das alles dem Internet.»

Sei du selbst!

Die Sängerin Peaches bezirzt mit trotzigen Texten und anzüglichen Posen. Sie führt die Tradition von Provokateuren wie John Waters weiter, die in den siebziger Jahren zu ihrer multisexuellen Identität standen.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Wenn Filmemacher eine anzügliche Szene gedreht haben, untermalen sie sie gerne mit Musik von Peaches. So hat das Sofia Coppola in «Lost in Translation» gemacht, wenn Bill Murray in einem Striptease-Klub versucht, den nackten Hintern einer Tänzerin zu ignorieren. Oder die Macher der Animationsserie «South Park», wenn der verdeckte Ermittler an einer Studentenparty nur mit einem Bikini bekleidet aus einer Torte springt.

Dabei will sich die kanadische Musikerin Merrill Beth Nisker, die sich vor 15 Jahren den Bühnennamen Peaches gab, keineswegs als Aushängeschild einer sexbesessen Gesellschaft verstanden wissen. «Ich drücke mich einfach gerne in einer Sprache aus, die von sexuellen Anspielungen lebt», sagt Peaches, die aus einer jüdischen Familie in Toronto stammt. Sie befindet sich derzeit auf Tournee mit ihrem neuen Album «Rub». Als wir sie sprechen, hält sie sich in New York auf, im Hintergrund hört man Autos vorbeidonnern.

Peaches’ Musik oszilliert zwischen Electro, Hip-Hop und Punk, wird aber gerne dem Electroclash zugeordnet, jenem Musikstil, der Anfang des Jahrtausends ein Revival der Discomusik zelebrierte und Sexualität, Individualität und Ironie zurück in den Techno brachte. «Es war das erste Mal seit langem, dass die Musik wieder queer war: unverhohlen sexuell, extravagant und weltoffen», erzählt Peaches. «Leider verschwand diese Szene sehr schnell wieder.» Das musikalische Mekka war damals Berlin, das die Sängerin im Jahr 2000 als neue Heimat wählte. Heute pendelt sie zwischen der deutschen Hauptstadt und Los Angeles. 

Spiel mit Phantasien

Auch wenn die Tage des Electroclash gezählt sind – Peaches bleibt ihrem Stil treu. An ihren Konzerten spult sie nicht einfach ihr Repertoire ab, sondern bietet immer Performances in extravaganter Aufmachung. «Die Kostüme sind wichtig. Das Publikum liebt sie. Während jedes Konzerts gibt es einen Moment, in dem ich fast nackt auf der Bühne stehe.» Was will sie damit ausdrücken? «Meine Botschaft lautet: Wir alle haben unsere Masken, aber eigentlich brauchen wir sie nicht.» So springt sie vor Publikum abwechselnd im Ganzkörperkostüm mit baumelndem Stoffpenis herum, in einem Body mit angenähten Brüsten oder in einem flatternden Umhang, der wie eine Vagina aussieht. «Ich setze gerne eine Phantasie in die Realität um und reisse sie danach nieder. Die Show soll den Leuten einen Anstoss geben, zu überlegen, was eigentlich ihre heimlichen Phantasien sind.» 

Peaches bewegt sich in der Ästhetik der Midnight-Movies, jenes Phänomens der siebziger Jahre, als Low-Budget-Produktionen in Spätvorstellungen zu Kultfilmen avancierten. In Klassikern wie «The Rocky Horror Picture Show», «Liquid Sky» oder «Pink Flamingos» wurde mit Geschlechternormen experimentiert und wurden abnormale Körper gefeiert. Da verwundert es kaum, dass Peaches sowohl «Liquid Sky» als auch John Waters, den Regisseur von «Pink Flamingos», als Inspirationsquellen nennt, zusammen mit Künstlern wie Cindy Sherman, PJ Harvey und Grace Jones – sie alle rebellierten gegen bürgerliche Geschlechternormen und experimentierten mit transsexuellen Posen. In dieser Tradition sieht sich Peaches – und nicht als verhockte Feministin mit politischen Absichten. «Meine Musik soll Spass machen. Ich will nicht als Zorn-Frau herüberkommen. Die Menschen sollen meine Musik geniessen und mitsingen können.» Sie lacht. «Und dann kommt dieser Aha-Moment, wenn ihnen klar wird, was sie da singen.»

Ihre ausgefallenen Outfits und Songs wie «Fuck the Pain Away», der sowohl in «Lost in Translation» als auch in «South Park» zu hören und auf mehreren Best-Songs-Listen zu finden ist, haben Peaches den Ruf eingebracht, auf Sex fixiert zu sein. Dabei geht es ihr eben gerade nicht um die Instrumentalisierung des weiblichen Körpers, sondern um starke weibliche Vorbilder. Zu ihnen gehören unter anderen Blondie-Sängerin Debbie Harry und die Pretenders-Frontfrau Chrissie Hynde, denen Peaches ein musikalisches Denkmal setzt. Auch ihr Künstlername ist eine Hommage an eine Grosse: Sie entnahm ihn Nina Simones Lied «Four Women».

Mit Iggy Pop

«Bei der Arbeit gehe ich meist von einem Beat aus, der nicht zwangsläufig für eine Idee steht. Die beiden treffen sich irgendwann, die Melodie kommt danach.» Oft beginnt sie mit einer Zeile, die ihr nicht mehr aus dem Kopf will. Beim Song «Dick in die Air» auf ihrem neuen Album «Rub» war es die Zeile «Whose jizz is this?» (Wessen Sperma ist das?). Entstanden ist eine in Musik gepackte Forderung nach der Umkehrung der Geschlechternormen: «We’ve been shaking our tits for years, so let’s switch positions, no inhibitions / Put your dick in the air.» (Wir haben unsere Brüste während Jahren geschwungen, lasst uns nun die Positionen tauschen, keine Hemmungen. Halt deinen Schwanz in die Höhe.) 

Wie wichtig Peaches der Austausch mit anderen Künstlern ist, bezeugt auch der Bildband «What Else Is in the Teaches of Peaches» von Fotograf Holger Talinski. Darin sieht man Peaches lachend mit ihrem Ex-Freund Chilly Gonzales, der sie bei ihrer Solo-Show «Peaches Christ Superstar» am Klavier begleitete. Man sieht sie mit Iggy Pop, mit dem sie den Song «Kick It» aufnahm, mit Yoko Ono, deren Live-Performance von 1964 «Cut Piece» sie 2013 in London wiederaufführte, sowie mit Pink, auf deren Album «Try This» Peaches mitsang. 

Daneben enthält das Buch Fotos wie jene von ihr mit einer nackten Frau in der Badewanne. Auch schlafend auf dem Ledersofa im Hause ihrer Eltern ist sie zu sehen, über ihr ein spiessiges Blumenstrauss-Ölbild, vor dem Fenster Vorstadtidyll. Die Füsse hat sie auf dem Schoss ihres Vaters placiert, die Mutter streicht ihr über den Kopf. 

Es ist diese Verletzlichkeit, die das Klischee, Peaches sei bloss eine Provokateurin auf der Flucht vor dem Spiessbürgertum, Lügen straft. Die 47-jährige Frau ist sie selbst. Und es braucht verdammt dicke Eier, sich so verletzlich zu zeigen. 

Konzert 

Peaches tritt am 7.12.15 um 20 Uhr in der Roten Fabrik in Zürich auf. Sie spielt Songs ihres neuen Albums «Rub», das bei Rough Trade erschienen ist. Der Fotoband «What Else Is in the Teaches of Peaches», bei Akashic Books erschienen, kostet 37 Franken 90.