Den Menschen der Nacht gelauscht

Glass Animals: How to Be a Human Being. Caroline/Universal.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Auf diesem Album schallen dem Hörer gleichzeitig so viele Klänge entgegen, dass man sich die Songs einige Male anhören muss, um alles aufnehmen zu können. In «Life Itself» ertönen zuerst so etwas wie Harfenklänge, dann klingt es nach chinesischer Musik, irgendetwas tönt wie Kastagnetten, bevor der Beat einsetzt, der wiederum an indische Trommeln erinnert, begleitet von Schellen, als würde jemand dazu tanzen. Und das sind gerade einmal die ersten neun Sekunden des Songs. «Je grösser unser Publikum wurde, desto wilder wurde es. Wir spielten auf der Bühne ungehemmter, ungeschliffener, mit mehr Energie. Nun haben wir versucht, diese Energie, diese Spontaneität und diesen Klang auf das Album zu bringen», erklärt Dave Bayley, der Sänger von Glass Animals. Die vier Männer dieser Band aus Oxford mischen Indiemusik mit Electro, Hip-Hop mit Marimbaklängen. «In den letzten zwei Jahren sind wir jede Nacht in einer anderen Stadt aufgetreten. Wir fanden neue Freunde, hörten verrückte Geschichten und landeten in den absurdesten Situationen. All das brachte mich dazu, über Menschen nachzudenken und etwas Intimeres und Menschlicheres zu schreiben», sagt Bayley. Für jeden Song haben die Musiker zuerst eine Figur konstruiert, für die sie eine Geschichte aus erfundenen und wahren Begebenheiten schrieben, bevor sie dazu die passende Musik komponierten. Entstanden ist ein Album, das mitreisst, unterhält und bis in die Details interessant bleibt. 

Herzzerreissend

Nick Cave and the Bad Seeds. Skeleton Tree. Bad Seed Ltd. /Limmat Records.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

«Wir wollen uns nicht wirklich ändern, nur modifizieren zu einer besseren Version unserer selbst. Aber was machst du, wenn etwas Schreckliches passiert und du dich ganz plötzlich veränderst und nicht mehr der bist, der du mal warst?», fragt Nick Cave im Film «One More Time with Feeling», der zur Veröffentlichung des neuen Albums erschien. «Skeleton Tree» ist das erste Album nach dem tragischen Unfalltod von Caves Sohn. Und auch wenn es schlechter Stil ist, von der Biografie auf die Kunst zu schliessen, kommt man hier fast nicht umhin. Cave macht es im Film selber zum Thema und lässt einen das Trauma nicht vergessen. Wenn er in «Jesus Alone» singt «mit meiner Stimme rufe ich dich», ist das dann der Vater, der nach dem toten Sohn ruft? Oder wenn er die Zeile spricht: «Sie sagten uns, die Götter würden uns überleben, aber sie haben gelogen», hört sich «Götter» wie ein Synonym für Kinder an. Caves Musik war oft düster, nun klingt sie vor allem traurig und zerbrechlich. Ganz besonders im herzzerreissenden «Distant Sky», auf dem die Sopranistin Else Torp mitsingt und das sich wie ein Schlaflied anhört. «Es gibt eine Art Hilflosigkeit in den Songs», sagt Cave im Film. «An der narrativen Form bin ich nicht mehr so interessiert wie auf früheren Alben, denn das Leben ist nicht so. Es gibt keine Auflösung am Ende.» 

Dieser Stimme folgt man überall hin

Imany: The Wrong Kind of War. Universal.

Der Sommerhit «Don’t Be So Shy» dröhnt einem dieses Jahr aus unzähligen Smartphones entgegen. Doch für einmal stört das nicht sonderlich. Nicht einmal die schlechte Audioqualität der Telefone kann einem die Freude verderben. Der tanzbare Imany-Remix der beiden russischen DJ Filatov & Karas ist so beliebt, dass er in vielen europäischen Ländern auf Platz 1 hochschnellte. Ihre eigenen von Streichern unterstützten Songs aber sind ruhiger als ihr Sommerhit, mit einer melancholischen Note. Die französische Soul-Diva lebte viele Jahre als Model in New York, bevor sie merkte, dass sie mehr vom Leben will, und ihre Musikkarriere startete. Mit ihrem Debütalbum «The Shape of a Broken Heart» (eine Anspielung auf die Form des afrikanischen Kontinents und dessen tägliche Realität) erreichte sie 2011 in mehreren Ländern Platin. Die Musikerin, deren Eltern von den Komoren stammen, erzählt oft von den traurigen Seiten des Lebens: In «You Don’t Belong to Me» singt sie von einer Liebe, die nicht sein soll, und in «Save Our Soul» von den täglichen Schreckensnachrichten in den Medien. Ihre tiefe Stimme ist dabei genauso einnehmend wie ihre charmante Persönlichkeit auf der Bühne. Imany hat die Gabe, uns ihren Schmerz fühlen und gleichzeitig an eine bessere Zukunft glauben zu lassen. Dieser rauchigen Stimme folgt man gerne auf jede emotionale Reise. 

Erschreckend intim

Ziemba. Hope Is Never. Lo & Behold! Records.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Im Videoclip «With the Fire» schlendert Ziemba durch das Haus ihrer Kindheit. Seit Jahren ist es verlassen. Die gelbe Farbe blättert von der Fassade. Der Garten ist verwildert. Die Tapete hängt in Fetzen. Der Lampenschirm löst sich langsam auf. In dieser Zwischenwelt des Verfalls fühlt sich die Performancekünstlerin wohl. Was sie selber daraufhin zurückführt, dass sie in El Paso, der Stadt an der Grenze zu Mexiko, aufgewachsen ist und sich von Grenzwelten angezogen fühlt. Hier findet sie Schönheit in Asche und Zerfall. Das Element Feuer verwendet die New Yorkerin in vielen Songs als Zerstörer und Schöpfer zugleich. Es ist diese Dualität und ihre Fähigkeit, die Schwere und den Schmerz des Lebens anzuerkennen und für einen Neubeginn zu nutzen. Dabei verzichtet sie vollständig auf aufdringlichen, nervtötenden Optimismus. Viele ihrer Stücke singt sie choralartig a cappella, weil es ihnen eine Verletzlichkeit verleiht. «Du kannst dich nicht vor dir selber verstecken, und das Publikum fühlt das», erklärte Ziemba (René Kladzyk) in einem Interview mit dem «Posture Magazine». «Es ist erschreckend intim, und das ist reizvoll für mich.» Ihre Musik erinnert an das Werk der grossartigen österreichischen Sängerin Anja Franziska Plaschg, die unter dem Pseudonym Soap & Skin ihre Lieder veröffentlicht. Aber wo Plaschgs Musik eine dunkle Eindringlichkeit hat, die einen zwingt, ihr zuzuhören, lässt Ziemba einem Raum zum Tagträumen. 

Mehr Dreck wäre super gewesen

Wendy James. The Price of the Ticket. Pledge Music.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Das Wichtigste zuerst: Miley Cyrus liebt Wendy James – als Pin-up-Ikone und Sängerin. Den älteren Jahrgängen ist James vielleicht noch aus den achtziger Jahren bekannt – als Frontsängerin der Punk/Pop-Band Transvision Vamp. In sexy Posen hauchte und kreischte sie deren Songs ins Mikrofon. Auch in der Schweiz hatten die vier Briten mit «I Want Your Love» 1988 einen Hit. Als die Gruppe sich Anfang der neunziger Jahre auflöste, startete die Londonerin ihre wenig erfolgreiche Solokarriere. Auf ihr von Elvis Costello geschriebenes Debütalbum «Now Ain’t the Time for Your Tears» 1993 folgte erst 2011 das zweite Album mit dem zweideutigen Titel «I Came Here to Blow Minds». Das Geld für ihren neusten Streich sammelte James über die Crowdfunding-Homepage Kickstarter. Auf dem Cover räkelt sich die Fünfzigjährige halbnackt auf einem Sofa, während sie auf dem Tonträger wie eine Zwanzigjährige klingt. Das ist schade. Denn James hat musikalisch ein richtig gutes New-Wave/Garage-Rock-Album vorgelegt, das an die spanische Band Hinds erinnert. Unterstützung bekam die Britin von zwei Mitgliedern der Stooges, dem Patti-Smith-Gitarristen Lenny Kayne und dem früheren Sex-Pistols-Mitglied Glen Matlock. Wenn sie nur weniger auf ihre Erotik setzen würde und etwas «meh Dräck» zugelassen hätte, wäre die Platte sogar superb geworden. 

Musikalische Ballerina

Cerise. Smoke Screen Dreams. Psychic Cats.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Das Albumcover zeigt Cerises Kopf auf einem Kissen, sie deckt sich in Shoegazing-Manier das Gesicht mit der Hand halb zu. Die Nahaufnahme im Bett suggeriert Intimität. Aber richtig preisgeben mag sich das ehemalige Model auf ihrem Debütalbum dann doch nicht. Ihre gehauchten Songtexte über einem verschwommenen Klangteppich eröffnen sich nur dem sehr achtsamen Ohr. Cerise getraute sich lange nicht, Musik zu machen. «Es erschien mir immer als die schwierigste Sache der Welt. Eine Musikerin war für mich wie eine Ballerina – du musst ein Leben lang dafür trainieren, diese atemberaubende Künstlerin zu werden.» Seit 2003 hat Cerise auf ihr Album hingearbeitet, und nun tänzelt die feingliedrige Frau fast schwerelos mit ihrer Musik durch den Äther. Wie eine Ballerina, der man die Arbeit nicht ansieht. Nur leider klingt ihre Musik mit der Zeit ein wenig eintönig, und man wünscht sich mehr Variationen oder den einen oder anderen Höhepunkt. Inspiration fand Cerise bei The Cure, Bauhaus und Siouxsie and the Banshees. Gesanglich erinnert Cerise ein wenig an Hope Sandoval. «Smoke Screen Dreams» ist die passende Hintergrundmusik für laue Sommerabende: sanft wie eine angenehme Sommerbrise auf der Haut und mit einem melancholischen Unterton, wie ihn die besten Sommerabende haben.

Bugg stürzt tief

Jake Bugg: On My One. Virgin/EMI.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Sie hatten es ihm ja vorgeworfen. Die Medien. Die Musiker. Dass er seine Songs nicht selber schrieb. Und nun hat er es getan. Und scheitert damit grandios. Insofern sind wir alle ein wenig mit schuld an dem Schlamassel. Aber als der damals 18-jährige Jake Bugg 2012 mit seinem Debütalbum auf der Bildfläche erschien, waren sie alle hingerissen. An die Beatles erinnerte viele Kritiker seine Musik oder an Jimi Hendrix. Diese Reife, diese Begabung! So viel Begeisterung konnte ja nicht lange gutgehen. Und nach «Shangri La», dem Zweitling von 2013, folgte bereits 2015 der Fall, als bekannt wurde, dass er die Songs eben nicht selber schrieb. Noel Gallagher, der ihn 2012 noch mit auf Tour genommen hatte, bekundete lauthals, sein Herz sei gebrochen und Leute wie Bugg seien schuld daran, dass die Musik sterbe. Nun, ganz so dramatisch ist es natürlich nicht, denn wer selber etwas nicht gut kann, der lässt sich besser helfen. Das ist auch die Lehre aus «On My One». Das Album beginnt rührend und urkomisch, wenn Bugg in bester Blues-Manier sein hartes Leben besingt. Aber nicht Knochenarbeit oder Hunger setzen ihm zu. Nein, es sind die vielen Hotels, die Auftritte. Man kann sich das Lachen nicht verkneifen. Unglücklicherweise versucht sich Bugg auch noch als Rapper. Er hätte sich besser helfen lassen. Da wäre uns einiges erspart geblieben. 

Schöne Songs, die man rasch vergisst

Tom Odell: Wrong Crowd. Sony.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Es gibt rein gar nichts auszusetzen an Tom Odell. Der Mann ist nett. Wenn man ihm gegenübersitzt, wirkt er unschuldig und jünger, als er mit 25 eigentlich ist. Ende April verzückte der Londoner auch die Zürcher im ausverkauften «Mascotte». Die jungen Frauen im Publikum nickten sich aufgeregt zu. Ja, er war wirklich hier. Und ja, er war wirklich so grossartig, wie sie sich das vorgestellt hatten. Die Show war perfekt choreografiert. In den emotionalen Momenten wurden Licht und Nebel so eingesetzt, dass er wie eine überirdische Gestalt durch den Dunstschleier schimmerte – kaum greifbar, nicht ganz von dieser Welt. Aber der Mann weiss wirklich zu begeistern. Während «Another Love», seinem grössten Hit, und «Wrong Crowd», der ersten Single aus seinem neuen Album, kochte der Saal unter den stampfenden Füssen der Tanzenden. Die Songs des zweiten Albums hören sich insgesamt an wie eine nahtlose Verlängerung von Odells Debütalbum. Eine Entwicklung stellt man nicht fest. Aber die braucht es anscheinend auch nicht. Der Sänger hat seinen Stil gefunden, der ihn und seine Fans befriedigt. Die Songs sind angenehm fürs Ohr, und man mag sie auch ein drittes und viertes Mal anhören. Was will man mehr? Nun, trotz der eingängigen und im Moment mitreissenden seiner Songs bleibt am Ende nicht viel übrig. Ja, es war schön, aber fünf Minuten später hat man das bereits vergessen. 

Im Arm eines guten Freundes

The Strumbellas: Hope. Vertigo.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Nein, besonders innovativ ist die Musik der Strumbellas nicht. Wer auf der Suche nach Neuem ist, sollte sich lieber das neue Album «The Colour in Anything» von James Blake anhören. Herr Blake hat ja dieser Tage den Ritterschlag der Queen, also nicht der englischen, sondern Pop-Queen Beyoncé erhalten, als er auf dem neuen Album gleich mit zwei Songs vertreten sein durfte. Aber weil wir vor zwei Wochen schon einen Lobgesang auf «Lemonade» angestimmt und dabei auch Herrn Blake lobend erwähnt haben, wenden wir uns diese Woche einem «guilty pleasure» zu. Die Musik der kanadischen Band The Strumbellas ist wie der warme, schon leicht schwere Arm eines angetrunkenen Freundes auf den Schultern, während Sie und er ziemlich falsch, dafür mit umso mehr Herzblut zur Musik mitsingen. Die Songs des im Jahr 2008 in Lindsay gegründeten Sextetts folgen dem immer gleichen Muster: Sänger Simon Ward beginnt mit sanftem Gesang ein eher düsteres Bild zu zeichnen, wonach die anderen fünf Bandmitglieder langsam einstimmen. In der Folge nimmt der Song nicht nur eine positive Wendung, sondern gewinnt auch beträchtlich an Schwung und zieht einen mit, ganz wie der erwähnte warme Arm eines Freundes. Und das ist emotional unheimlich befriedigend. Sie sind noch unentschlossen? Hören Sie sich wenigstens den Song «Young & Wild» auf «Hope», dem dritten Album der Band, an. Sie sind auch danach nicht überzeugt? In dem Fall sollten Sie sich wirklich besser das Album von James Blake besorgen. 

Wo es weh tut

Anohni: Hopelessness. Rough Trade.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Die britische Sängerin Anohni war lange unter ihrem Geburtsnamen Antony Hegarty und als Sängerin der Band Antony and the Johnsons bekannt. Ihre Spezialität sind wehmütige Liebeserklärungen. Diese zerren manchmal so sehr am Herzen, dass man wie auf Messers Schneide zwischen schmerzhafter Glückseligkeit und ekstatischem Seelenschmerz balanciert. Mit dem Namenswechsel hat sich nicht nur ihr Musikstil verändert, sie äussert sich in ihren Songs nun auch politischer. Wie ihr Projekt «Hercules and Love Affair» ist ihr neues Album der Dance-Musik zuzurechnen. Anohni sagt dazu: «Viele meiner Fans werden damit nichts anfangen können.» Das könnte auch am Inhalt ihrer Songs liegen. Sie prangert an – wütend, enttäuscht und kämpferisch: Obama, die Erderwärmung, die Exekutionen in den USA, den Drohnenkrieg. In «Obama» klingt ihre sonst so fein modulierte Stimme tief und monoton, wenn sie den Präsidenten anklagt, der seine Anhänger enttäuscht habe. Im Song «4 Degrees» nimmt sie sich auch selber als Teil des Problems der Erderwärmung wahr, während sie sanft, dafür umso provokativer singt: «Ich will diese Welt kochen sehen. Ich will sie brennen sehen. Es sind ja nur 4 Grad.» Stimmt, sie klingt anders und ist doch dieselbe. Anohni ist jemand, der starke Gefühle so in Worten auszudrücken vermag, dass sie treffen. Dort, wo es weh tut.