Der Mörder unter uns

Serie

Serie «Retribution». Drama. Netflix. 4 Folgen à 60 Min. Von Harry und Jack Williams. Mit Juliet Stevenson, Gary Lewis u. a.

Retribution. Drama. Netflix. 4 Folgen à 60 Min. Von Harry und Jack Williams. Mit Juliet Stevenson, Gary Lewis u. a.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Während strömenden Regens kommt im nächtlichen schottischen Hochland ein Auto von der Strasse ab. Die herbeigeeilte Familie aus der Nachbarschaft nimmt den verletzten Mann mit auf ihren Hof und will ihn pflegen, bis ein Krankenauto eintrifft. Bald stellt sich jedoch heraus, dass es sich beim Verletzten wahrscheinlich um den Mörder des Sohnes der Familie handelt. Die ebenfalls ermordete Ehefrau des Sohnes ist die Tochter der Nachbarsfamilie, die mitbekommt, wer sich da blutend und verwirrt auf dem Hof befindet. Jetzt stellen sich die beiden Familien die Frage: Was soll mit dem Mörder ihrer Kinder passieren? 

Im Verlaufe der vier Folgen, die von der BBC produziert wurden und nun von Netflix ausgestrahlt werden, kommen allerlei verborgene Geheimnisse der Familienmitglieder ans Licht, und der Verdacht drängt sich auf, dass jemand von ihnen an der Ermordung des Ehepaars beteiligt gewesen sein könnte. 

Die Schöpfer der Serie, die englischen Brüder Harry und Jack Williams, haben bereits so spannende Serien wie «Liar» (2017) über einen Arzt, der im Verdacht steht, ein Vergewaltiger zu sein oder «The Missing» (2014) über ein Ehepaar dessen fünfjähriger Sohn im Urlaub verschwindet, entwickelt und waren an der bitterbösen Satireserie «Fleabag» beteiligt. «Retribution» (Originaltitel «One of Us») spielt mit bekannten Motiven, hat aber unterschiedliche Handlungsstränge und genügend unerwartete Wendungen, um das Publikum zu unterhalten. Ausserdem ist es beeindruckend zu sehen, wie die Macher in vier Folgen eine komplexe Geschichte zu erzählen vermögen. 

Bärte trimmen

Reality Show «Queer Eye». Netflix, 2018. 8 Folgen à 45 min. Von David Collins. Mit Tan France, Karamo Brown, Jonathan Van Ness, Antoni Porowski, Bobby Berk.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Reality-Shows kann man lieben oder hassen, aber man sollte sie nicht im Vorhinein verteufeln. Als 2003 die Vorläufersendung «Queer Eye for the Straight Guy» ausgestrahlt wurde, war das Aufheben gross. Fünf schwule Männer krempelten in jeder Folge das Leben eines hoffnungslosen Hetero um. Sie trimmten ihnen die Bärte, steckten sie in vorteilhafte Kleider und räumten ihre Wohnungen auf. Nach 45 Minuten wurde aus dem Höhlenmensch ein ansehnlicher Schwan, der endlich eine Chance bei Frauen hatte. Etwas zugespitzt war die Prämisse: Schwule Männer helfen Heteros, Frauen flachzulegen. Dann verschwanden sie wieder.

Nun sind die fabelhaften fünf in anderer Besetzung zurück. Und noch immer geht es darum, Bärte zu trimmen und hässliche Hemden zu entsorgen. Während sie früher aber Heteros zum Glück verhalfen, stehen sie nun für sich selber ein. Wie in allen Komödienformaten geht es auch hier um die persönlichen Begegnungen zwischen Menschen, nicht um grössere politische Zusammenhänge. Aber genau darin liegt die Faszination der Show. Da erklärt beispielsweise der schwule Afroamerikaner Karamo einem Klienten, einem weissen Polizisten, wie schwierig es für ihn ist, einen Polizisten und Trump-Wähler zu unterstützen, und was das bei ihm auslöst, worauf sich ein ehrliches Gespräch über Polizeibrutalität entwickelt. Die Serie enthält viele solcher Momente. Natürlich wird sie nicht die Welt ­verändern, aber sie bringt Menschen aus unterschiedlichen Schichten ins Gespräch miteinander. Und mehr kann man von unterhaltsamem Fernsehen nicht erwarten.

Das Leben als Superheld ist hart

Serie «The Tick». 12 Folgen à 30 Min. Von Ben Edlund. Mit Peter Serafinowicz, Griffin Newman, Valorie Curry. Läuft auf Amazon.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Der Tick ist blau und hat Fühler, die Reflexe einer olympiatauglichen Dschungelkatze, ist so stark wie eine ganze Bushaltestelle voller Männer, und das Schicksal spricht direkt zu ihm. Das ist wenig überraschend, denn er ist ein Superheld. Natürlich ist er unverwundbar. Dafür herrscht in seinem Oberstübchen gähnende Leere. Deshalb benötigt er einen Sidekick, und den findet er im unscheinbaren Buchhalter Arthur. Dieser wiederum hat psychische Probleme, weil der Bösewicht Terror seinen Vater getötet hat, als er noch ein Kind war. Eher widerwillig stimmt Arthur zu, mit Tick zusammenzuarbeiten, um es mit der Unterwelt in ihrer Stadt aufzunehmen. 

Der Engländer Christopher Nolan hat das Superhelden-Genre mit seiner Batman-Trilogie düsterer gemacht. An dem kommt auch Tick nicht vorbei. 1986 als Comic von Ben Edlund im Teenageralter erschaffen, wurde die Superhelden-Parodie bereits zweimal in eine Serie verpackt: 1994 in eine animierte und 2001 in einer Realverfilmung. Die Version von 2001 ist absurder und daher lustiger, dafür orientiert sich die Amazon-Serie mehr an der Realität: Die Welt ist hart und brutal, und auch Superhelden sind nur fehlerhafte Menschen. Der Film «Deadpool» hat 2016 dem Mainstreampublikum die Absurdität von Superhelden aufgezeigt, «The Tick» baut diese Einsicht aus. Und so wird Arthur vom intelligenten Schiff Dangerboat, das in ihn verliebt ist, in der Dusche mit einem Wasserstrahl sexuell belästigt oder von Tick in einem Anzug mit Flügeln aus dem Fenster geworfen, um wie ein toter Schmetterling auf dem Dach eines Autos zu landen. 

Unzufrieden im Zürcher Oberland

Serie «Seitentriebe». Drama. 8 Folgen. SRF. Von Güzin Kar. Mit Vera Bommer, Nicola Mastroberardino, Leonardo Nigro, Wanda Wylowa, Sunnyi Melles.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Eine Beziehung geht nicht Knall auf Fall in die Brüche, sondern schleichend. Routine tötet auch noch die spannendste Romanze, und irgendwann sind es drei Jahre her, seit man das letzte Mal Sex hatte. Nele und Gianni sind Ende Dreissig an diesem Punkt angekommen. Er will der grosse Macker sein, den sie sich wünscht, und scheitert konstant an ihren Ansprüchen. Sie ist frustriert, weil sie es als Künstlerin zu nichts gebracht hat und jetzt Käsehäppchen im Shoppingcenter anpreist. Und da nörgelt es sich leicht am Alten herum.

Bei der Entstehung dieser Geschichte liess sich Güzin Kar von der Frage leiten, warum in einem der reichsten Länder der Welt die Menschen auf die Frage «Bist du glücklich?» meistens antworten «Nicht glücklich, aber zufrieden». Sie interessiert sich für den Nicht-Ort zwischen Komfort und Orientierungslosigkeit und hat die Geschichte deshalb im Zürcher Oberland angesiedelt, das für sie die Seelenlandschaft der Protagonisten widerspiegelt.

Neben Nele und Gianni begegnen wir noch Monika und Heinz mit ihrem pubertierenden Sohn Timo sowie Anton und Clara, die bald pensioniert werden. Nach zwei Folgen lässt sich sagen: Die Serie ist interessant und unterhaltsam und kann mit internationalen Produktionen mithalten. Aber Nele nervt. Man möchte Gianni zuschreien, dass er überall eine Nettere findet als die. Aber für den Abgang ist er wohl zu feige. Die Familie von Monika wird etwas gar zu bünzlig dargestellt, dafür sind Anton und Clara phantastisch. Man kann nur hoffen, dass in den nächsten sechs Folgen mehr von den beiden und weniger von Nele zu sehen ist.  

Altered Carbon

Kreiert von Laeta Kalogridis, mit Joel Kinnaman, James Purefoy, Martha Higareda , Dauer 10 Episoden à 46–66 minuten, Sender Netflix 

Von Murièle Weber (FRAME)

Im 26. Jahrhundert sind die Menschen Götter. Durch eine neue Technik kann das Bewusstsein eines Einzelnen in immer neue Körper transferiert werden. Wer es sich leisten kann, wird unsterblich. Der ehemalige Freiheitskämpfer Takeshi Kovacs, halb Japaner, halb Osteuropäer, bekommt 250 Jahre nach seinem Tod den Körper eines Weissen, damit er einen Mordanschlag auf den mächtigen Laurens Bancroft aufklären kann. Dafür muss Kovacs seine Prinzipien verraten, indem er sich zum Eigentum eines jener mächtigen Männer machen lässt, die ewig leben und die Kovacs vor seinem Tod bekämpft hat. 

Das ist nur einer der komplexen Handlungsstränge dieser Serie. Wer nicht von der ersten Minute an aufmerksam ist, verpasst Informationen, die erst mehrere Folgen ­später relevant werden. 

1982 hatte Ridley Scott mit dem Spielfilm «Blade Runner» ein neues Genre begründet: Future Noir. Darin wurden Elemente des Film Noir – der abgebrühte Detektiv, die Femme fatale, die düstere Stadt, die dystopischen Zustände – mit Bestandteilen der Science-Fiction verbunden – die Gesellschaft in der Zukunft, neue technische ­Errungenschaften, der Aufbau einer neu durchdachten Gesellschaft.

«Altered Carbon» sieht sich in dieser Tradition, zieht aber auch Inspiration aus unzähligen weiteren Science-Fiction-Filmen wie «The Fifth Element» oder Büchern wie jenen von William Gibson, der das Genre des Cyperpunks begründet hat. 

Wenn der Mensch unsterblich ist, verliert der Tod seinen Schrecken. Das hat Folgen. Ob man sein ungehorsames Kind zu Tode prügelt oder eine Prostituierte beim Sex ersticht, solange man den Toten neue Körper kauft, kommt man ungestraft davon. ­Gewalt ist deshalb in dieser Welt in ihren brutalsten Formen allgegenwärtig.Wer sich davon nicht abschrecken lässt, bekommt Zugang zu einer Welt mit vielen interessanten Figuren und einer unterhaltsamen Mördersuche, gespickt mit philosophischen Fragen über das Leben nach dem Tod, den Wert des Lebens an sich, über Identität und Moral.

Unerschrockene Kämpferin

Gloria Allred am Women’s March 2019. Bild: flickr

Der Film «Seeing Allred» porträtiert die bekannten Frauenrechtlerin Gloria Allred und schwierigen jahrzehntelangen Kampf.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Gloria Allred (*1941) hat früh verstanden, dass man als Frau nicht weiterkommt, wenn man einfach nur nett ist. Die berühmte US-Frauenrechtlerin und Anwältin weiss, dass man laut und bestimmt sein muss, präsent in den Medien, und keinen Kampf scheuen darf. Ihre eigene absolute Hingabe für gesellschaftlichen Wandel erwartete sie auch von allen anderen Frauen, was oft zu Unverständnis und Kritik führte. Seit den 1970er hat sie zahlreiche prominente und kontroverse Fälle in den USA vor Gericht vertreten und sich dabei auch für andere Minderheiten starkgemacht. 

Sie stellte sich auf die Seite der vom Komiker Bill Cosby vergewaltigten Frauen, sie ­bekämpfte Trump, als er eine Transfrau von einem Schönheitswettbewerb ausschloss, und sie organisierte Demonstrationen, um Spielzeug geschlechtsneutral zu vermarkten.

So freimütig die 76-Jährige über ihre Kämpfe spricht, so verschlossen ist sie, wenn es um ihr Privatleben geht. Sie erzählt freimütig von ihrer Vergewaltigung und der illegalen Abtreibung, an der sie fast gestorben wäre, aber sie verweigert die Aussage, wenn es um ihre Scheidung geht oder andere Aspekte ihrer Privatsphäre. Der Film vermittelt den Eindruck, als hätten sie all die Kämpfe einsam gemacht, so als bestünde ihr soziales Umfeld nur aus den gerade aktuellen Klientinnen, bevor sie weiterzieht, zum nächsten Kampf. Viele Hollywoodfilme leben vom Mythos eines einsamen Helden, der sich selbstlos für das Recht der Opfer einsetzt. Zu wissen, dass Gloria Allred aus Fleisch und Blut besteht und sich irgendwo da draussen für uns einsetzt, ist ein beruhigender Gedanke.

Dokumentarfilm «Seeing Allred». USA 2018. Netflix. Von Roberta Grossman, Sophie Sartain. Mit Gloria Allred. 

Religiöse Motive

Serie «The Sinner» Drama. Netflix. USA 2017. Von Derek Simonds. Mit Jessica Biel, Bill Pullman, Christopher Abbott. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Am Ufer eines Sees nimmt Cora (Jessica Biel) das Messer, mit dem sie eben noch die Birne für ihren vierjährigen Sohn geschnitten hat, steht auf und sticht einen Mann nieder. Panik bricht aus, die Polizei wird gerufen. Und die Täterin bleibt in Blut getränkt neben der Leiche sitzen. Warum hat sie das gemacht? Sie bestreitet die Tat nicht, aber eine Erklärung dafür hat sie nicht. Es hat irgendetwas mit der Musik zu tun, welche die Frau des Mannes kurz vor der Tat laut gespielt hat. Detective Ambrose (Bill Pullman) übernimmt den Fall. Er hat es im Moment auch nicht leicht. Da seine eigene Ehe in Scherben liegt, holt er sich etwas Erleichterung bei einer Domina. Er stürzt sich sofort mit Besessenheit in die Aufklärung des Falles, als könnte er sich selber und seine zerbröckelnde Ehe retten, wenn er denn nur die Antworten für den Ausraster der Frau fände. 

Die Serie beruht auf dem Roman «Die Sünderin» der deutsche Autorin Petra Hammesfahr. Die Geschichte dreht sich um die katholischen Motive von Sünde, Beichte und Selbstkasteiung. In Flashbacks erinnert sich Cora immer wieder an Erlebnisse in ihrem tiefreligiösen Elternhaus und an die schwerkranke kleine Schwester, mit der sie eine symbiotische Beziehung verband. Anfangs ist der religiös begründete Missbrauch in Coras Elternhaus kaum auszuhalten. Zusätzlich spielt «The Sinner» noch mit anderen Sujets wie einem Geheimklub und einem übergriffigen Freund. Aber wer bis zum Ende durchhält, wird belohnt. Denn schliesslich lässt die Serie die bekannten Beweggründe hinter sich und stellt eine eigenständige Theorie für Coras Verhalten auf, die tatsächlich zu überraschen und zu überzeugen vermag.

Dunkle Wälder

Serie «Dark». Netflix. Drama. Von Baran bo Odar. Mit Louis Hofmann, Oliver Masucci, Jördis Triebel, Maja Schöne.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Im deutschen Wald lauert das Grauen. Das wussten schon die Gebrüder Grimm. Nur ist es dieses Mal nicht der grosse böse Wolf, der unschuldigen Mädchen in roten Mäntelchen auflauert, sondern eine unbekannte Macht, die Knaben verschwinden lässt und deren Leichen mit geschmolzenen Augen und zerborstenen Trommelfellen wieder ausspuckt. Ausserdem scheint es dort irgendwo ein Wurmloch zum Jahre 1986 zu geben. Mindestens einer der Knaben reist in der Zeit zurück und wird mit Föhnfrisuren und Synthiepop konfrontiert.

Nach drei Folgen gibt es kaum Hinweise darauf, was in der Kleinstadt am Rande eines Waldes passiert ist. Es geht um vier Familien, die durch dunkle Geheimnisse miteinander verbunden sind. 1986 ist der erste Bub verschwunden, 2019, dreiunddreissig Jahre später, hat sich einer der Väter umgebracht und einen ominösen Brief hinterlassen, und es sind zwei weitere Knaben verschwunden. Ausserdem scheint ein Kernkraftwerk in alles verwickelt.

Die erste deutsche Serie von Netflix erinnert in einigen Punkten an «Stranger Things» und zieht auch Inspiration von den Nordic-Noir-Serien, ist aber individuell genug, um kein Abklatsch zu sein. Es sind typisch deutsche Figuren in der spiessbürgerlichen Pampa, die das Herz der Serie ausmachen. Die Produktion ist gelungen, sie ist stimmig mit ihrer Noir-Ästhetik und dem Spannungsbogen, den sie aufrecht erhält. Nur die grosse Anzahl der Personen überfordert einen anfangs.Wenn die Serie es schafft, all die aufgeworfenen Fragen am Schluss auch zu beantworten, dann ist es ein erstes Glanzstück, das Netflix in Deutschland produziert hat.

Für Grossstädter

Comedy «The Marvelous Mrs. Maisel». Amazon. USA 2017. Von Amy Sherman-Paladino. Mit Rachel Brosnahan, Michael Zegen, Alex Borstein and Tony Shalhoub.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Midge Maisel hat alles im Griff. Mit sechs wusste sie, dass sie Literatur studieren wird. Mit zwölf fand sie den perfekten Haarschnitt für sich. Als Braut schmiss sie nicht nur die ganze Veranstaltung, sondern hielt auch die Rede gleich selber. Und jetzt, als Hausfrau in den fünfziger Jahren in New York, brutzelt sie immer das passende Gericht, wenn hitzige Gemüter besänftigt werden müssen. Die Frau ist eine Wucht. Nur der Ehemann will nicht so richtig mitmachen. Er ist frustriert, weil es mit der Karriere als Stand-up-Komiker nicht klappen will, obwohl Midge ihm die Pointen schreibt. Da verlässt er sie und die beiden Kinder. 

Und wie in allen Serien von Amy Sherman-Paladino («Gilmore Girls») finden Frauen erst heraus, zu was sie fähig sind, wenn der Mann aus dem Haus ist. Frustriert über ihre Situation, steigt Midge selber auf die Bühne des kleinen verruchten Comedy-Klubs und zieht das Publikum auf ihre Seite. Als sie ihre Brüste zeigt, endet der Abend im Knast, wo sie einen professionellen Komiker trifft. Der Grundstein für eine wundervolle Karriere ist gelegt. Die langen Monologe, die feurigen Dialoge, der Wortwitz, die Konflikte zwischen Midge und ihren enttäuschten Eltern sowie das Gefühl, New York sei auch nur ein kleines Dorf mit exzentrischen Figuren, machen die Serie zu einer typischen Arbeit von Amy Sherman-Palladino. Die fünfziger Jahre sind wunderschön mit Pastellfarben in Szene gesetzt und vermitteln ein Gefühl von heiler Welt, in der selbst die heruntergekommene Gegend nur ein aufregender Spielplatz ist. Nach den «Gilmore Girls» ist das die neue Wohlfühlserie für die gestressten Gross­städter.

Narzisstischer Suchtrupp

Serie «Search Party». USA 2016. Von Sarah-Violet Bliss, Charles Rogers und Michael Showalter. Mit Alia Shawkat, John Early und Brandon Micheal Hall. 

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Die vier New Yorker Freunde sind narzisstische Egoisten, denen jedes Mittel recht ist, um im Mittelpunkt zu stehen. Elliott hat eine Firma gegründet, die Wasserflaschen verziert. «Und für jede Flasche, die hier verkauft wird, schenken wir einem afrikanischen Dorf eine», erklärt er voller Stolz auf einer Party. Seine Gesprächspartnerin guckt ihn entgeistert an: «Ganz offensichtlich sind das Problem in Afrika nicht die fehlenden Wasserflaschen, sondern das fehlende Wasser.» – «Und auch darum werden wir uns kümmern», entgegnet er entnervt. Als ihre ehemalige Studienkollegin Chantal verschwindet, an die sich kaum jemand erinnern kann, bekunden die Freunde tränenreich auf Twitter ihre Bestürztheit, inklusive #IamChantal. Und schliesslich machen sie sich ein Spiel daraus, herauszufinden, was mit ihr passiert ist.

Die erste Staffel wurde in den USA allseits hochgelobt, ist aber bis jetzt kaum im Mainstream angekommen. Ein schwerer Fehler. Denn die bitterböse Comedy-Serie ist vor allem eine genaue Beobachterin unserer Zeit. Treffender hat noch keine andere Serie die Auswüchse der Beileidsbekundungen im Internet inszeniert oder die voyeuristische Obsession des Publikums mit True-Crime-Serien in den Mittelpunkt gestellt. So oberflächlich die Figuren sind, so komplex sind die angesprochenen Fragen nach der Moral unserer Gesellschaft, dem Charakter der Millennial-Generation oder der Schwierigkeit, sich verletzlich zu zeigen. Die erste Staffel gibt’s auf Amazon, die zweite beginnt heute Sonntagabend auf dem US-Sender TBS.