Da hört man noch was

Malaka Hostel am Festival des Arcs 2019, Foto: Mike Enichtmayer

Grosse Open Airs mögen mit Stars punkten. Aber sie sind teuer und überlaufen. Die Alternative: An kleinen familiären Festivals lassen sich die Berühmtheiten von morgen entdecken.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Jetzt, wo der Sommer endlich seine noch zarten Fühler ausstreckt, strömen wieder Horden von bleichen Menschen an die Sonne. Damit hat auch offiziell die Saison der Open Airs begonnen. Wer keinem der grossen Freiluft-Musikfestivals wie St. Gallen, Zürich, Paléo, Frauenfeld oder Greenfield die Treue geschworen hat, ist dieses Wochenende vielleicht an den alternativen Anlass par excellence gepilgert: die Bad Bonn Kilbi in Düdingen bei Freiburg. Tickets für diese Veranstaltung waren aber so heiss umkämpft, dass sie in Gold aufgewogen werden könnten. 

Darum lohnt sich ein Blick auf die Alternativen. Da reicht die Spannbreite von ganz kleinen Open Airs mit ein paar hundert Leuten am Tag, wie dem Rock Sedrun in Graubünden, bis zu den Grossen unter den Kleinen, wie dem Lakelive in Biel mit bis zu 10 000 Besuchern täglich. Viele dieser Anlässe sind irgendwann bei einem Bier im Freundeskreis gegründet worden oder einfach dem Wunsch entsprungen, auch kleineren Bands Auftritte zu ermöglichen. Das merkt man bis heute. Jedes der hier vorgestellten Open Airs ist regional verankert und setzt auf ein gutes Verhältnis zur lokalen Bevölkerung. Diese unterstützt die Anlässe oft, sei es durch Gönnerbeiträge, Sach­spenden und Landvermietung für wenig Geld – oder zumindest mit einer hohen Lärmtoleranz.

Disco im Apfelkeller

Ökologie ist allen diesen Festivals sehr wichtig. «Bei Nahrungsmitteln, Getränken, Kleidern und Baumaterialien achten wir auf biologischen Anbau, faire Produktionsbedingungen und wenn möglich regionale Bezugsquellen», sagt Martin Bürgin vom Organisationskomitee des Festival des Arcs bei Ehrendingen. Diese Achtsamkeit erstreckt sich auch auf andere Bereiche der Festivalorganisation. So hat zum Beispiel das Open Air Schlauer Bauer in Wetzikon mit Blinden und Gehbehinderten zusammengearbeitet, um das Gelände auch für sie zugänglich und sicher zu machen. Ihren Erfahrungsschatz haben sie an einem Workshop den anderen kleinen Festivals vermittelt. «Der Wille, sich gegenseitig zu unterstützen, ist gross in der Szene. Wenn irgendwie möglich, helfen wir einander und besuchen uns gegenseitig», meint Bürgin.

Die kleinen Open Airs können oft mit aussergewöhnlichen Standorten begeistern. Das Open Eye übernimmt für ein Wochenende einen Bauernhof in Oberlunkhofen im Aargau, der Apfelkeller wird dabei zur Disco und der Miststock zur Bar. Das Quellrock in Bad Ragaz nistet sich in einer Burgruine ein, von der aus man einen wunderschönen Blick auf die umliegenden Berge hat. An manchen Festivals werden nicht nur Zelte aufgebaut, sondern ganze Häuserkonstruktionen gezimmert und aufwendig dekoriert. Das Clanx-Festival im Appenzell setzt beispielsweise auf einen feuerspeienden Fahnenmast, während das B-Sides in Kriens bei Luzern gleich einen ganzen Holzturm aufs Gelände setzt. 

Im Zentrum steht natürlich die Musik. Es wird viel Zeit aufgewendet, um über persönliche Kontakte oder den Besuch von anderen Festivals und Konzerten die passenden Künstler für das eigene Festival zu gewinnen. Damit decken sie die ganze Spannbreite ab von Rock über Latin und Folk zu Afrobeats bis Elektro. Dabei setzen einige Open Airs auf bekannte Namen wie das Lumnezia in Graubünden mit Limp Bizkit und Mando Diao. Das B-Sides hat die Wortkünstlerin Kate Tempest eingeladen und das Lakelive in Biel Hecht und Lo & Leduc. 

Der grosse Vorteil von kleinen Open Airs ist die Möglichkeit, für verhältnismässig wenig Geld noch relativ unbekannte Talente zu entdecken oder sich Musiker und Musikerinnen anzuhören, die nur einen Nischengeschmack bedienen, wie zum Beispiel das Frauenduo Mokoš am Festival des Arcs, das seine Musik als Piraten-Folk bezeichnet. Weil die Anlässe noch klein sind und wenig Geld zur Verfügung haben, sind sie auf die freiwillige Arbeit von vielen angewiesen, die sich wiederum dem Festival verbunden fühlen und mit Freunden und Familie daran teilnehmen. Das trägt zur für sie typischen familiären Stimmung bei. «Wir investieren viel in die Atmosphäre und das Gefühl des Zusammenhalts zwischen den Teilnehmern, aber auch den Künstlern», sagt Martin Bürgin. «Vor einigen Jahren zum Beispiel gaben wir allen Besuchern ein Stück Holz, mit dem sich alle am Bau einer Skulptur beteiligen konnten, die wir am Ende abgebrannt haben. Aber auch sonst endet der Abend oft damit, dass die Leute zusammen um eines der Lagerfeuer sitzen.»

Konzerte für Kinder

Nicht bei allen Festivals geht es nur um die Musik: «Wir laden Akrobaten, Autoren und Theaterleute ein, die selber etwas aufführen oder mit dem Publikum interagieren», beschreibt Bürgin das Festival des Arcs. Das B-Sides wiederum veranstaltet Vernetzungsanlässe, und das Lakelive organisiert auch Sportaktivitäten und Jassturniere. Kleine Festivals richten sich auch nicht nur an Jugendliche und Junggebliebene, sondern auch an Familien. Viele organisieren extra etwas für die ganz Kleinen. Am Donnerstagnachmittag finden am Openair Etziken bei Solothurn beispielsweise Kinderkonzerte statt, ebenso haben das Festival des Arcs, Lakelive, Clanx, Open Eye und Rock Sedrun solche Angebote, die auch mal die Arbeit mit Akrobatinnen oder das Basteln und Informationsworkshops über Ökologie umfassen. 

Die Romandie hat neben schönem Wetter und dem grössten Open Air der Schweiz, dem Paléo, auch viele phantastische kleine Festivals. Das Hors Tribu in Môtiers mit 700 Besuchern am Tag gehört zu den ganz kleinen. Da es im Herzen des Absinth-Landes organisiert wird, gibt es am Anlass die Möglichkeit, die grüne Fee vor Ort zu degustieren. In Genf wiederum findet das À la pointe X Festival JonXion für Elektromusik auf einer kleinen Brache am Kreuzungspunkt zwischen Rhone und Arve statt. 

Anstatt sich diesen Sommer an den immergleichen Quartierfesten in Zürich die Beine in den Bauch zu stehen, während man eine halbe Stunde auf sein Bier warten muss, warum nicht wieder einmal den Schlafsack und das Zelt packen und für ein Wochenende mit den Freunden oder den Kindern in die Romandie oder die Bündner Berge ziehen?


Lakelive am Bielersee

Das grössere und kommerziellere Lakelive findet dieses Jahr an den Wochenenden vom 26. Juli und dem 3. August am Bielersee statt. Musikalisch funktioniert das Festival nach dem Motto «Für jeden hat es etwas». Neben der Opening Night mit Mando Diao gibt es eine Latin Night, eine Urban Night und eine Swiss Night. Das Gelände ist in drei Abschnitte unterteilt: An der «Sandy Beach» steht eine Bühne, und man hat die Möglichkeit, Kanus oder Stand-up-Paddles zu nutzen. Am «Meeting Point» gibt es Kinderaktivitäten und eine Zirkusbühne, und auf der «Show Stage» finden die grossen Konzerte statt. Für 5 Franken kann man ein Ticket nur für den Strandteil kaufen. Das Ticket für alle Konzerte kostet zwischen 65 und 79 Franken pro Tag. Hinter dem Lakelive steht kein Freundeskreis, sondern eine Agentur.

Week-end au bord de l’eau in Siders

Das Festival findet dieses Jahr vom 28. bis 30. Juni am Lac de Géronde in Siders statt. Selbst ­britische Festivalratgeber sind schon darauf aufmerksam geworden. Musikalisch wird es unter anderem vom welschen Radiosender Couleur 3 geprägt, dessen Musikredaktor DJ Joh mit seinem urbanen Sound ­präsent ist und einen Mix aus House, Elektro und Hip-Hop auflegt. Daneben finden sich andere Elektro-Künstler, auch etwas Lo-Fi, Disco und Afro-Beat. Im Grunde alles, wozu man tanzen kann. Die Veranstalter kommen aus der Gegend und haben an diesem See auch ihre eigene Jugend verbracht. Es gibt einen Campingplatz in der Nähe, und mit 79 Fr. für drei Tage ist das 2500-Personen-Festival ein Highlight. Das Schwimmen im kleinen See ist zwar erfrischend, aber man entsteigt ihm gern mit einem Pollenpelz überzogen.

Open Air hat’s schwer

Foto: Pexels, Jonathan Borba

Im Festivalsommer 2018 kämpfen Veranstalter mit Lokalgroove und besonderen Angeboten um jeden Besucher. Doch jetzt drängen auch noch finanzkräftige ausländische Konkurrenten auf den Markt?

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Die Saison des Schlamms und der Sonnenbrände hat wieder begonnen. Alle paar Kilometer versammeln sich Menschen, um unter freiem Himmel die Musik oder zumindest die sommerlichen Temperaturen zu geniessen. Die Palette reicht vom Paléo Festival in Nyon, dem grössten mit insgesamt 230 000 Besuchern an sechs Tagen, über das Zürich Open Air mit 80 000 Gästen an vier Tagen bis zu ganz kleinen Veranstaltungen wie dem Blues Rules in Crissier.

An den grossen Open Airs werden jedes Jahr aufs Neue komplexe Welten erstellt und nach wenigen Tagen wieder abgerissen. Am Paléo Festival dauern Auf- und Abbau vier beziehungsweise drei Wochen. Jeden Tag sind dort und am Open Air Frauenfeld um die 50 000 Personen auf dem Gelände. Das entspricht etwa der Einwohnerzahl der Stadt Biel. Dafür müssen Anreise, Infrastruktur, Künstler, Sicherheit und Gastronomie organisiert werden. 

Die vier Grossen – Nyon, Frauenfeld, Zürich und St. Gallen – bestätigen alle, dass der grösste Ausgabenposten für Infrastruktur, Komfort, Abfall und Sicherheit anfällt. Das sind im Schnitt 50 Prozent des Gesamtbudgets. Bei einem Grossanlass wie dem Paléo macht das immerhin 13 Millionen Franken aus, in St. Gallen sind es 5 Millionen. Das sind grosse Summen. Alle vier sagen auch, dass die Sicherheitskosten in den letzten Jahren im Zuge von gesellschaftlichen und technischen Veränderungen gestiegen sind.

Für die Künstlergagen und den Aufbau der Bühnen wird dagegen deutlich weniger ausgegeben: Beim Paléo Festival sind es 27 Prozent, beim Open Air St. Gallen sogar nur 22 Prozent des Gesamtbudgets. Man hätte gerne gewusst, wie viel das Zürich Open Air dafür ausgibt, weil die Veranstaltung seit ihrem Start 2010 immer wieder mit grossen Namen lockt. Dieses Jahr sind es der Rap-Gott Kendrick Lamar, der einen prestigeträchtigen Pulitzerpreis erhalten hat, und Imagine Dragons, die Band, die 2017 bei Spotify weltweit am dritthäufigsten gespielt wurde. Aber leider veröffentlichen die Zürcher genauso wenig Zahlen wie das Open Air Frauenfeld. Nyon und St. Gallen legen offen, dass sie über 50 Prozent durch Tickets einnehmen, etwa 25 Prozent aus dem Verkauf von Essen und Getränken und rund 18 Prozent über Sponsoring und Merchandising.

Irrwitzige Honorare für Bands

Seit etwa zehn Jahren steigen die Gagen der Künstler kontinuierlich. «Der Markt ist sehr vital, es gibt unzählige Festivals. In Amerika hat es sogar eine richtige Renaissance gegeben. Aufgrund dieses Angebots ist die Nachfrage nach Bands dermassen erhöht, dass teilweise irrwitzige Summen gezahlt werden», sagt Christof Huber, der Festivaldirektor des Open Airs St. Gallen. Das Festival hat sich mit anderen Veranstaltern und Musikagenturen zur Dachmarke Wepromote zusammengeschlossen. Das verschafft ihnen Zugang zu Klubs, Konzerthallen und Veranstaltungen und den Musikern die Möglichkeit, eine ganze Tournee statt einzelner ­Konzerte zu organisieren.

Die Veranstalter reagieren damit auf global agierende Medienunternehmen wie das amerikanische «Live Nation», das für Künstler massgeschneiderte Tourneen in eigenen Hallen und an eigenen Festivals organisiert und dafür immer öfter Exklusivität erwartet. Unabhängige Festivals haben es da schwer. Seit 2017 ist Live Nation auch der Mehrheitsaktionär am Open Air Frauenfeld. «Durch den Einstieg von Live Nation sind wir Teil eines grossen Netzwerks geworden. So können wir weiterhin eine hohe Qualität des Programms mit internationalen Superstars wie Eminem garantieren», sagt Joachim Bodmer, der Pressesprecher des Open Airs Frauenfeld, und bestätigt damit indirekt, dass das vorher schwierig wurde. Dany Hassenstein, der Programmgestalter des Paléo, sieht darin noch kein grosses Problem, aber eine Gefahr für die Zukunft: «Wir beobachten diese Konglomerate sehr kritisch. Im Moment ist der Markt noch unter Kontrolle der Agenten. Aber in Frankreich sehen wir schon, dass Independentfestivals oft das Nachsehen haben.»

Unter diesen Umständen ein Musikprogramm zusammenzustellen, ist anspruchsvoll. «Es ist definitiv kein Wunschkonzert», sagt Rolf Ronner, der Festivaldirektor des Zürich Open Air. Die Veranstalter müssen abklären, wer im Sommer in Europa auf Tournee ist. Die Zeiten, als Künstler extra für ein Konzert in die Schweiz flogen, sind vorbei. Auch hier hilft Vernetzung: «Wir haben ein grosses Netzwerk aus Journalisten, anderen Veranstaltern und Agenten. Mit denen tauschen wir uns aus. Dann orientieren wir uns auch an den Ticketverkäufen der Künstler und an den sozialen Netzwerken. Und wir schauen uns ihre Konzerte live an», beschreibt Hassenstein den Prozess.

Das Open Air St. Gallen lässt hingegen auch das Publikum mitreden. «Wir machen ausgedehnte Umfragen nach Stilrichtungen und wollen wissen, welche Bands gewünscht sind. Wir waren selber davon überrascht, dass das Publikum oft solche bevorzugt, die bereits vor einem Jahr bei uns aufgetreten sind», sagt Huber. «Mit der Planung beginnen wir dann bereits ein Jahr zuvor.»

Wie wichtig die Bands für ein Festival sind, ist nicht klar. Viele Umfragen bestätigen, dass nicht immer die Künstler den Ausschlag für den Ticketkauf geben. Ans Paléo kommen nur zwei Prozent aller Besucher aus der Deutschschweiz, über 90 Prozent reisen aus der Romandie an und rund acht Prozent aus dem grenznahen Frankreich. «Das Festival ist in der Region sozial verankert. Wir haben knapp 5000 Freiwillige, die mitarbeiten und oft ihre Freunde und Familien mitbringen. Ausserdem haben wir rund 80 Bars auf dem Gelände, von denen ein Grossteil von Sportklubs aus der Region betrieben wird», sagt Hassenstein. Nebenbei setzt das Paléo auf kunstvolle Bauten, unter anderem von der Fachhochschule Westschweiz. Das Festival lädt Artisten und Gaukler ein und erlaubt NGO, dem Publikum ihre Anliegen zu präsentieren; dieses Jahr zum Beispiel der «SOS Mediterranée Suisse», die mit ihrem Schiff Aquarius Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettet.

«Trash-Heroes» gegen Abfall

Auch das Open Air St. Gallen ist lokal verankert und hat ein loyales Publikum. Das Open Air Frauenfeld, das ausschliesslich auf Hip-Hop, R’n’B und Reggae setzt, investiert ins Ambiente. «Wir bieten dem Gast ein Gesamterlebnis. Unsere Bühne ist 124 Meter lang und sieht aus wie die Skyline einer Grossstadt. Das Festival ist ein wenig wie Disney World oder Las Vegas. Für vier Tage kann der Alltag vergessen werden», sagt Bodmer. Das Zürich Open Air wiederum setzt auf Komfort und Sauberkeit, was das ältere und zahlungskräftige Publikum erwartet.

Um der Unsitte, das Zelt nach dem letzten Konzert einfach zurückzulassen, Herr zu werden, hat das Open Air St. Gallen ein Depot eingeführt. Auch in anderen Bereichen setzen die Veranstalter auf Nachhaltigkeit. In St. Gallen werden Mehrwegbecher verwendet, und Trash-Heroes sensibilisieren das Publikum für die Abfallproblematik. Das ist auch dem Paléo Festival wichtig.Während die Veranstalter den Einfluss ausländischer Medienunternehmen wie Live Nation kritisch beobachten, sehen sie die grösste Herausforderung in der Vielzahl der Veranstaltungen in der Schweiz. «Der Markt hat eine Dichte wie wahrscheinlich nirgends sonst auf der Welt», sagt Huber und wird von Hassenstein bestätigt: «Wer sich umhört, spürt, dass es schwieriger geworden ist. Bei den vielen Festivals das eigene Publikum zu behalten, ist wahrscheinlich die grösste Aufgabe.» Da ist es verständlich, dass das Paléo und das Open Air St. Gallen auf ihre Verankerung in der Region achten und das Open Air Frauenfeld auf ein Musik-Genre, nämlich Urban, setzt. Ob das reicht, muss sich zeigen.

Dabei sein ist alles

Die Open-Air-Saison beginnt. Wer glaubt, es ginge den meisten Besuchern nur um Musik, ist naiv.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Die Menschen lagen im Schlamm. Auf einer Fläche von 2,5 Quadratkilometern verteilt. Es war nass. Es war kalt. Und da die Bühne weit entfernt war, hörten viele die Musik nur als Hintergrundgeräusch. Die meisten sahen weder den Auftritt von Jefferson Airplane, noch hörten sie Jimi Hendrix «A Star-Spangled Banner» auf seiner Gitarre improvisieren. Aber es war Woodstock. Und sie waren dabei. 

Es gibt diese Momente in der Geschichte, die als Mythos lange nachwirken. Und der legendäre Hippie-Auflauf von 1969 erstreckt seine Tentakel bis zu den heutigen Open Airs. «I was at Coachella, baby, for a minute, it was Woodstock in my mind», singt die 31-jährige Lana del Rey über ihre Festivalerfahrung. Das kalifornische Open Air mit dem seltsamen Namen ist der neue Sehnsuchtsort der Freizeithippies weltweit. Einmal über diese saftiggrünen Wiesen in der Wüste flanieren, die von riesigen Pumpstationen unterirdisch bewässert werden. Und tagelang die eigene Jugend und Unbeschwertheit zelebrieren. 

Die Organisatoren investieren viel Energie, um den Mythos aufrechtzuerhalten, und werden von Fans und Sponsoren laufend untergraben. H&M hat eine eigene Coachella-Kleiderlinie kreiert, die auch bei uns erhältlich ist und aus ultrakurzen Jeans-Shorts und langen Mänteln besteht. Komplementiert wird das Outfit mit der übergrossen spiegelnden Sonnenbrille und dem obligatorischen Bandana. Die Fans werden nicht müde, so ihre Individualität auf Instagram zu posten. Dabei sehen sie aus wie Klone. Es ist die ultimative Eventisierung eines Lebensgefühls. Dabei geht es darum, eine Veranstaltung für Marketingzwecke emotional aufzuladen. Verkauft werden nicht nur Konzerte, ökologisches Essen und das Zelten unter freiem Himmel, sondern das Versprechen, einen magischen Moment erleben zu dürfen, der vielleicht sogar in die Geschichte eingeht. Die Musik wird dabei zur Nebensache. Coachella verkauft drei Viertel seiner Tickets, Monate bevor das Programm überhaupt verkündet werden kann. Es spielt keine Rolle, wer auf der Bühne steht. Es geht um das Feeling. Aus diesem Grund hat die «New York Times» sich letztes Jahr entschieden, nicht mehr über die grossen Open Airs zu berichten. Übernommen haben diese Aufgabe Online-Zeitungen und Blogs. 

Familientreffen auf dem Gurten

Den Niedergang der Open Airs in den USA eingeläutet hat ausgerechnet Woodstock. Die halbe Million Menschen war zwar friedlich, aber verursachte ein Verkehrschaos und hinterliess einen Abfallberg, der es zukünftigen Veranstaltern fast verunmöglichte, weitere Festivals zu organisieren. Erst 1991 klappte es mit Lollapalooza in Chicago wieder. 

Dafür wurde das Konzept in der Zwischenzeit in Europa aufgenommen. 1970 entstand das Glastonbury Open Air in Grossbritannien, die grösste Freiluftveranstaltung weltweit. Für vier Tage wird eine Stadt aufgebaut, die mehr Einwohner zählt als Bern. Im Unterschied zu Coachella hat Glastonbury eine lange Tradition und ermöglicht so eine soziale wie auch eine altersmässige Durchmischung der Besucher, für die Musik eine Rolle spielt. Das andere wichtige europäische Open Air Sziget wird in Budapest veranstaltet. 

Und in der Schweiz? Viele Besucher gehen auch hier an die Festivals, ohne an Musik interessiert zu sein. Das gestand auch Dany Hassenstein, Mitglied der Geschäftsleitung des Paléo Festival Nyon, des grössten Open Airs in der Schweiz, 2015 der «NZZ». «Als Programmverantwortlicher hoffe ich natürlich, dass die meisten wegen unserer gebuchten Acts kommen. Aber die Realität ist, dass das ganze Package entscheidet.» Und so prahlen immer mehr Besucher damit, während der ganzen vier Tage nicht ein einziges Konzert besucht zu haben. Vielmehr geht es um den Geist eines Festivals, der massgeblich von der Tradition und teilweise auch der Geografie geprägt wird. 

So bleibt das Gurtenfestival auf dem Berner Hausberg relativ klein. Als eines der grossen in der Schweiz mit den wenigsten Stars setzt es lieber auf eine familiäre Stimmung. Die Leute kommen auch ohne Headliner. Auch beim Open Air St. Gallen ist dabei sein alles. Zwar setzte das Festival auf Stars, aber das Gerücht hält sich hartnäckig, dass die richtig eingefleischten Fans ihre Zeit in der Halligalli-Hütte verbringen, wo sie Musik aus der Dose konsumieren. Da haben es die Nischen-Events einfacher. Das Greenfield Festival in Interlaken setzt seit 2005 auf Rock und hat sein Programm über die Jahre noch verfeinert, während das Open Air Frauenfeld sich der afroamerikanischen Musik widmet. Wer es besucht, ist meist auch an den Künstlern interessiert. Und das Festival punktet immer wieder mit Musikern, die sonst in der Schweiz nicht live auftreten, dieses Jahr zum Beispiel Rapper Nas. 

Nyon schlägt Zürich 

Da hat es das Zurich Open Air schwer. Es hat zwar viele Weltstars im Programm, aber es verzeichnete mit 50 000 Besuchern letztes Jahr über viermal weniger als das Paléo mit 220 000. Doch grosse Stars verlangen im Allgemeinen auch grosse Gagen. Das vergleichsweise kleine Publikum erklärt sich wahrscheinlich dadurch, dass sich das jüngste unter den grossen Open Airs in der Schweiz noch nicht etablieren konnte. Und so berichteten die Zeitungen letztes Jahr zwar von guten Acts, aber auch von wenig Stimmung. 

Seit einiger Zeit wird in der Schweiz dem Sommer gehuldigt, als käme er nächstes Jahr nicht wieder. Auf Facebook wird man überschwemmt von Einladungen zu Open-Air-Bars, Freiluftrestaurants, Messen unter freiem Himmel, Partys im Grünen und Filmvorführungen unter Sternenfirmament. Da wundert es nicht, dass es auch immer mehr Musikfestivals gibt. Und so trägt wohl auch hierzulande jeder der jährlich knapp fünf Millionen Besucher die Hoffnung mit sich auf einen legendären Sommerabend wie vor knapp 50 Jahren auf einer schlammigen Wiese in der Nähe von New York. Dass das Wetter dabei nebensächlich ist, hat Woodstock bewiesen. Dabei sein ist eben alles.