So frei wie Prince

Foto: Joe Mabel

Mit ihrem vierten Album, «Dirty Computer», führt Janelle Monáe uns in ihre Traumwelt und feiert ihre afroamerikanische Herkunft.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Musiker stehen im Spannungsfeld zwischen Authentizität und Künstlichkeit. Ein Rapper muss aus dem Ghetto kommen, sonst ist er für sein junges Publikum nicht glaubhaft, und ein Countrysänger sollte zumindest wissen, wie Kuhdung riecht. Gleichzeitig werden sie für ihre Kunstfiguren verehrt. David Bowie ist noch immer am präsentesten als Ziggy Stardust, und der Name Stefani Germanotta sagt den meisten nichts ohne den Zusatz Lady Gaga. 

Diese Figuren werden von den Künstlern genutzt, um die eigene Person zu schützen, wie im Fall von Germanotta, oder die eigene Persönlichkeit zu unterstreichen, wie bei Ziggy Stardust – dem androgynen, bisexuellen Ausserirdischen. In Interviews zum gleichnamigen Album outete sich Bowie nämlich als bisexuell.

Die zierliche, 1,55 Meter grosse Afroamerikanerin Janelle Monáe hat gleich zwei Alter Egos. Für ihre drei ersten Alben kreierte sie Cindi Mayweather, einen rebellischen Androiden, der sich in einen männlichen Maschinenmensch verliebt und gegen eine böse Macht kämpft. Cindi basiert auf dem Roboter Maria aus Fritz Langs Stummfilm «Metropolis». Monáes Androide ist eine Jesus-ähnliche Figur, die ihre Leute retten und zwischen Menschen und Maschinen vermitteln will. Auf Fragen nach ihrer Sexualität antwortete Monáe kryptisch: «Ich verliebe mich nur in Androiden.»

Computer in Menschenform

Seit ihrem letzten Album, «The Electric Lady», sind fünf Jahre vergangen. In der ­Zwischenzeit hat sie ihre Schauspielkarriere lanciert: als Freundin des Drogendealers in «Moonlight» und als eine der drei Wissenschafterinnen in «Hidden Figures». Für ihr neustes Album, «Dirty Computer», hat sie ein 48-minütiges Video gedreht. Monáe nennt es ein «emotion picture», weil der Film Emotionen auslösen soll. Wie seine Vorgänger erzählt es eine Geschichte.

Monáe feiert in «Dirty Computer» und dem dazugehörigen Film ihre afroamerika­nische Identität und das Frausein, genau wie Beyoncé in «Lemonade». Aber sie bleibt ihrem Afrofuture-Stil treu. Im Afrofuturismus mischen sich Visionen über die Zukunft und die Ästhetik des Science-Fiction-Genres mit afrikanischen Traditionen und Ausdrucksformen sowie der festen Überzeugung von einer besseren Zukunft aller afrikanischstämmigen Menschen. Häufig werden auch nichtwestliche Entstehungsgeschichten der Welt eingeflochten. Besonders einflussreich war der amerikanische Musiker Sun Ra (1914–1993), der sich in seinen Jazzkompositionen mit dem afrikanischen Erbe befasste und sich als Ausserirdischer inszenierte, der auf die Welt kam, um für Frieden zu sorgen. Der Kino-Hit «Black Panther» machte dieses Jahr schliesslich das bereits 60-jährige Genre einem breiten Publikum bekannt.

Für ihr viertes Album, «Dirty Computer», hat die R’n’B-Sängerin die Figur Jane, einen Computer in Menschenform, kreiert. Die Herrscher in diesem Universum behaupten, sie sei mit Viren verseucht, und wollen sie deshalb säubern. Dazu löscht eine Maschine all ihre Erinnerung, damit sie mit sauberer Festplatte neu aufgebaut werden kann.

Sexuelles Comingout

Im Film bestehen ihre Erinnerungen aus den Musikvideos zu ihrem neuen Album, die in die Rahmenhandlung eingearbeitet werden. Wir erfahren, dass Jane eine Frau geliebt hat – deshalb der Säuberungsvorgang. In den Interviews zum neuen Album erklärte Monáe dann zum ersten Mal, pansexuell zu sein, also alle Geschlechter zu lieben. Dies machte «pansexuell» für ein paar Tage zum meistgegoogelten Wort in den USA.

Neben dem Afrofuturismus betont Monáe dieses Mal vor allem ihre Sexualität. In «Pynk» tanzt sie mit anderen Frauen in Leggins, die wie übergrosse Schamlippen aussehen. Die Schauspielerin Tessa Thompson (die Walküre in «Thor: Ragnarok»), von der gemunkelt wird, sie sei Monáes Liebhaberin, steckt ihren Kopf schliesslich zwischen Monáes Beinen hervor, die aussehen wie eine übergrosse Vagina. Und in «Make Me Feel» singt Monáe von Gefühlen, die sie nicht so leicht in Worte fassen kann. «Baby, don’t make me spell it out for you / All of the feelings that I’ve got for you / Can’t be explained, but I can try for you.» Das Musikstück, an dem auch ihr Mentor Prince mit­gearbeitet hat, klingt musikalisch dann verdächtig nach dessen Song «Kiss».

In Interviews erklärt Monáe, das Album mit einer musikalischen Mischung aus R’n’B, Elektro und Rap habe vier Teile. Die ersten fünf Songs stehen für die Abrechnung: Man merkt, als Teil einer Minderheit nicht dazuzugehören. In den nächsten fünf Liedern zelebriert sie das Anderssein als Minderheit. Dann folgen zwei Stücke, in denen sie nochmals Angst hat, ihre wahre Persönlichkeit zu zeigen. Der letzte Track, «Americans», steht für die Rückgewinnung. «Ich bin auch eine Amerikanerin, und ich werde nicht nach Kanada auswandern, sondern bleibe hier in den USA», kommentierte sie den Song.

Die Maske Cindi, die Monáe lange trug, hat sie auf «Dirty Computer» abgelegt. Sie zeigt mehr von sich, traut sich aber nicht, als sie selbst aufzutreten. Deshalb gibt es Jane. Aber Monáe ist dabei, sich zu befreien. Sie sagt: «Ich will totale Freiheit haben, aber Freiheit bekommt man nicht gratis.» Und: «Prince hatte seine eigene verdammte Kategorie. Das will ich auch.» Man würde es ihr gönnen.

Sie feiern die Nacht

Bild: flickr / Vladimir

Die New Yorker Hipster-Band Hercules & Love Affair legen mit «Omnion» ein wunderbares Album vor, das Lust zum Tanzen macht.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Andrew Butler macht Musik für die Nacht: tanzbar, wehmütig und mit einem tragenden Beat. Die Stücke des kreativen Kopfes der US-Band Hercules & Love Affair beschwören die farbigen Nächte der Discozeit des New Yorker Nachtklubs Studio 54 herauf, als die Party endlos erschien und alle irgendwie gleich waren. Aber so ganz scheint er sich selber nicht zu glauben, denn immer schwingt auch eine Melancholie mit, die nur allzu menschlich ist: Wie wenn im Rausche der Feier plötzlich die Lichter angingen und jeder unter dem zerlaufenen Make-up des anderen die eigene Unsicherheit widerspiegelt sähe. So klingt das Titelstück «Omnion», in dem die Amerikanerin Sharon Van Etten mit bald fragiler, bald kräftiger Stimme an eine übersinnliche helfende Macht appelliert.

Für den Tonkünstler Andrew Butler ist die Nacht ein Versprechen, wie es wohl jeder Nachtschwärmer gerne glauben möchte. Aber für den schwulen Jungen aus einer problemreichen Familie war sie vor allem auch Zufluchtsort und Gegenwelt. Bereits mit fünfzehn Jahren legte er als DJ in einer Lederbar in seiner Heimatstadt Denver auf. Als das Lokal von der Polizei kontrolliert wurde, versteckte er sich in der Toilette. Diese Kindheit hat er im Track «Blind» verarbeitet, den Anohni von Antony and the Johnson einsang und der 2008 von verschiedenen Musikzeitschriften zum besten Song des Jahres gekürt wurde.

Butler hat immer Persönliches in seine Musik einfliessen lassen und die vielen Musiker, die auf seinen Alben mitwirken, zu gleichem ermutigt. 2011 verarbeitete John Grant in «I Try To Talk To You» auf dem Vorläuferalbum «The Feast of the Broken Heart» seine HIV-Ansteckung. In «Fools Wear Crowns» besingt Butler seine eigene Drogen- und Alkoholsucht und muss sich selber eingestehen, dass er ein Idiot war, als er deswegen über Monate immer wieder in die Notaufnahme eingeliefert wurde. Es ist der einzige Song, den Butler auf dem neuen Album «Omnion» selber singt. Und dieses Stück berührt am meisten, nicht der Thematik wegen, sondern weil die Musik seine heiser gesungene Beichte nur sanft pulsierend unterstützt, aber nie überdröhnt. 

Anders als auf dem Vorläufer experimentiert Butler auf seinem vierten Album stärker. Er bleibt seinem Mix aus Untergrund-Disco der siebziger und frühem Chicagoer House der achtziger Jahre treu. Aber in «Controller» webt er auch Synthesizerklänge aus New-Wave-Zeiten hinein. Faris Badwan, der Sänger der Garage-Rock-Band The Horrors, singt die Zeilen zu gleichen Teilen verführerisch und dominant. So als wolle er Beherrscher und Unterworfener gleichzeitig sein. 

In «Rejoice» setzt Butler auf die harten Beats der Industrial Music. Dazu passt die kräftige Stimme von Rouge Mary, dem zweiten Mitglied der Band, die über die stürmischen Klänge kratzt. In «Are You Still Certain» hat Butler mit der libanesischen Gruppe Mashrou’ Leila zusammengearbeitet, die der Musik arabische Worte und einen orientalischen Singsang verleiht, die an durchtanzte Nächte in Beirut erinnern. 

Grossartige Kunst ist selten einseitig. Und so lässt sich auch «Omnion» auf zwei Arten geniessen. Die Musik der New Yorker hält ihr Versprechen, sich tanzend mit anderen schwitzenden Körpern in der bunten Finsternis zu verlieren, aber wenn das Licht angeht, lässt sie einen nicht allein und hat noch immer etwas von Bedeutung zu erzählen.

So war die Revolution

Die letzten neuen musikalischen Stilrichtungen entstanden in den siebziger und achtziger Jahren. Zwei neue TV-Serien und ein Film zeigen die aufregenden Anfänge.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Zugedröhnt sitzt Musikmogul Richie in seinem Auto in einer Seitenstrasse im New York des Jahres 1973. Ästhetisch in Szene gesetzt von Martin Scorsese für die HBO-Serie «Vinyl». Eben hat Richie die Telefonnummer eines Polizisten der Mordkommission gewählt. Doch bevor er etwas sagen kann, springen Leute auf sein Auto und rennen kreischend auf ein Abbruchgebäude zu. Wie unter Trance folgt Richie ihnen. 

Drinnen spielen die New York Dolls «Personality Crisis». In kollektiver Ekstase tanzen die Leute um Richie herum, der nur noch staunt angesichts von so viel Energie. Durch das Stampfen der Leute regnet es Putz von der Decke, bevor schliesslich das Haus in sich zusammenstürzt und Richie wie ein Phoenix aus der Asche zwischen Staub und Trümmerteilen hervortritt. 

Was Richie noch nicht weiss: Er wird gerade Zeuge der Geburt einer neuen Musikrichtung: Punk – mit seinem vorwärtspeitschenden Beat. «Es ist schnell, es ist dreckig, es ist, wie wenn dir jemand eins über den Schädel zieht», beschreibt er die Konzerterfahrung. «Du hast auch eins auf den Kopf bekommen, als das Haus einstürzte», sagt sein Arbeitskollege. «Na und? Ich habe die verdammte Zukunft gehört.»

Blütezeit der Musik

Das war die Zeit, als sich Musik ständig neu erfand. Zwischen dem Ende der sechziger Jahre und der Mitte der Achtziger wurden nicht nur die Grundsteine für Punk und Disco gelegt, sondern auch für Reggae, Rap, Synthi-Pop, New Wave, House, Techno und den Beginn des visuellen Musikkonsums. Die Serien «Vinyl», «The Get Down» und der Film «Sing Street» führen uns an die Geburtsstätten dieser Musikstile. Es ist die aufregende Zeit, die Musikjournalist Simon Reynolds in seinem Buch «Retromania» heute vermisst. Seither, bemängelt er, zitiert sich die Pop-Musik selbst, und alte Musikstile feiern ein Revival nach dem anderen. Die Band Hurts klingt nach dem Synthi-Pop der achtziger Jahre, Adele nach dem Soul der Sechziger. Das hat sich bewährt.

Diese Erfahrung macht auch Richie, als er seinen Musikmanager beauftragt, eine Punkband auf ein Vorspielen einzustimmen. Dieser lässt die Gruppe klingen wie eine Coverband der Kinks. Immerhin hatten die noch so etwas wie eine Melodie, findet er. Aber das ist nicht das, was Richie gesucht hat: «Die klingen wie Hafermehlbrei. Du hast alles weggerieben, was an denen interessant war. Die waren roh, frisch. Was hast du dir nur gedacht?» Das ist es auch, was Simon Reynolds in «Retromania» beanstandet: Mit der Stagnation oder gar Rückbesinnung auf vergangene Trends geht der Musik der rebellische Unterton verloren. Dabei treiben gesellschaftliche Rebellionen und technische Innovationen die Musik vorwärts und beeinflussen sich gegenseitig.

In der South Bronx regieren 1977 Disco und Korruption. Ganze Strassenzüge werden gesäumt von zerfallenen Häusern, von denen oft nur Trümmerteile übrig bleiben. Die Stadt ist bankrott, die Gewalt rekordverdächtig hoch, und die meisten Politiker scheren sich nicht um die Armen.

Sprachrohr einer Minderheit

«Ich komme aus der gefährlichsten Stadt der Welt. Tag für Tag ein weiteres Drama, dem wir uns nicht entziehen konnten. Die Musik war der einzige Ausweg. Denn wir waren im verfallenen Magen einer hungrigen Bestie», rappt der Protagonist der Netflix-Serie «The Get Down» über seine Kindheit im Ghetto. An einer Untergrund-Party hört der Teenager zum ersten Mal Rapmusik. Grandmaster Flash höchstpersönlich legt auf. Rap entstand, als DJs auffiel, dass die Leute während der kurzen, oft nur zehn Sekunden dauernden Schlagzeug-Sequenzen von Funksongs ausflippten. Deshalb begannen sie diese Sequenzen zu minutenlangen Musikstücken zusammenzuhängen. Die Technik dazu wird «Get Down» genannt.

Was als neuer Musikstil begann, wurde bald zur Grundlage für die rappenden Master of Ceremonies. «Solange der Beat andauert, so lange kann der Wortschmied weitermachen», wird dem Jungen erklärt. Der MC wurde zum Sprachrohr einer ungehörten Minderheit. Mit ihm bekam der Rap eine revolutionäre und politische Note.

Das finanziell gebeutelte Dublin der achtziger Jahre ist die Kulisse für den Film «Sing Street». Darin will der fünfzehnjährige Conor ein Mädchen beeindrucken. Also gründet er eine Band und dreht mit ihr ein Musikvideo. Es ist die Zeit der New-Wave-Gruppen wie Duran Duran und die Blütezeit der Musikclips. «Wenn das die Zukunft ist, sind wir alle am Arsch. Die bewegen ja nur die Lippen», kommentiert der Vater einen Musikclip der Band. Der ältere Bruder rollt genervt mit den Augen: «Das ist Kunst, die perfekte Kombination zwischen Musik und Ästhetik», ruft er zurück. Und der Jüngere plant bereits die musikalische Revolution an seiner katholischen Schule inklusive blonder Strähnchen und blauem Lidschatten.

Wer sich für Musikgeschichte interessiert, bekommt mit den drei Serien einen Einblick in eine ihrer kreativsten Perioden. «Vinyl» zeigt neben Punk auch Bob Marley oder Alice Cooper. «The Get Down» setzt den Kampf zwischen den rivalisierenden DJs Grandmaster Flash und DJ Kool Herc in Szene. Und «Sing Street» zeigt den Einfluss von New Wave und Musikvideos auf die Kultur. Vor allem aber sind es die Energie, die Aufbruchstimmung und die Begeisterung, Zeuge von etwas Neuem zu sein, die sie auszeichnen und zu einem Seh-Ereignis machen.

Den Menschen der Nacht gelauscht

Glass Animals: How to Be a Human Being. Caroline/Universal.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Auf diesem Album schallen dem Hörer gleichzeitig so viele Klänge entgegen, dass man sich die Songs einige Male anhören muss, um alles aufnehmen zu können. In «Life Itself» ertönen zuerst so etwas wie Harfenklänge, dann klingt es nach chinesischer Musik, irgendetwas tönt wie Kastagnetten, bevor der Beat einsetzt, der wiederum an indische Trommeln erinnert, begleitet von Schellen, als würde jemand dazu tanzen. Und das sind gerade einmal die ersten neun Sekunden des Songs. «Je grösser unser Publikum wurde, desto wilder wurde es. Wir spielten auf der Bühne ungehemmter, ungeschliffener, mit mehr Energie. Nun haben wir versucht, diese Energie, diese Spontaneität und diesen Klang auf das Album zu bringen», erklärt Dave Bayley, der Sänger von Glass Animals. Die vier Männer dieser Band aus Oxford mischen Indiemusik mit Electro, Hip-Hop mit Marimbaklängen. «In den letzten zwei Jahren sind wir jede Nacht in einer anderen Stadt aufgetreten. Wir fanden neue Freunde, hörten verrückte Geschichten und landeten in den absurdesten Situationen. All das brachte mich dazu, über Menschen nachzudenken und etwas Intimeres und Menschlicheres zu schreiben», sagt Bayley. Für jeden Song haben die Musiker zuerst eine Figur konstruiert, für die sie eine Geschichte aus erfundenen und wahren Begebenheiten schrieben, bevor sie dazu die passende Musik komponierten. Entstanden ist ein Album, das mitreisst, unterhält und bis in die Details interessant bleibt. 

Wer bin ich eigentlich?

R’n’B-Sänger Frank Ocean und Rapper Kendrick Lamar suchen auf ihren jüngsten Alben nach ihrer Identität. Sie gehören zu den innovativsten Künstlern ihrer Generation.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Frank Ocean hat alle überrascht, als er innerhalb von 24 Stunden gleich zwei vollständige Alben veröffentlichte und dazu noch ein 360 Seiten dickes Magazin mit dem Titel «Boys Don’t Cry». So hätte eigentlich das neue Album heissen sollen. Entstanden sind dann aber: «Blond» (auch «Blonde» geschrieben) und «Endless». 

«I’ve got two versions», singt Ocean in «Nikes», dem ersten Song auf «Blond/e». Und das gilt gleich mehrfach: Der 28-Jährige hat zwei Alben und zwei Versionen des Albums «Blond/e» (mit jeweils unterschiedlichen Songs) veröffentlicht. Der Titel ist wahlweise männlich oder weiblich geschrieben: der Blonde oder die Blondine. Und seit Frank Ocean vor vier Jahren kurz vor seinem ersten Album «Channel Orange» mitteilte, seine erste grosse Liebe sei ein Mann gewesen, rätselt die Welt, ob er denn nun bisexuell oder homosexuell sei. Der Mann hat nicht nur zwei Versionen, es gibt ihn auch in zwei Versionen. Mindestens. 

Bevor er «Blond/e» veröffentlichte, schrieb er auf seiner Tumblr-Seite, die Inspiration zum Album sei das Foto eines blonden Mädchens in einem Auto gewesen. Dabei reflektierte er auch seine Auto-Obsession: «Vielleicht ist sie verbunden mit einer tiefen unbewussten Hetero-Jungenphantasie. Aber ich suche nicht bewusst nach hetero – ein bisschen schwul ist gut», schrieb er. 

Das Album hat wenige eingängige Melodien, und man muss sich bewusst darauf einlassen, damit es sich einem erschliesst. Wie Tagebucheinträge, ohne narrative Struktur, lässt einen Ocean an seinen intimsten Momenten teilhaben: Kindheitserinnerungen, Sex, Dates, Anekdoten. Aber immer bleibt Ocean alleine. Selbst wenn er andere beobachtet. Wie in einem Kokon. Einem metallenen. Seinem Auto.

Das audiovisuelle Album «Endless» gibt es nur als Videodatei. Während man Ocean in einem Schwarz-Weiss-Film beim Bau einer Wendeltreppe ins Unendliche zusieht, sind im Hintergrund ganze Songs oder auch nur Einzeiler zu hören, die anschwellen und wieder verklingen. In einer Kombination aus Bewusstseinsstrom und Montage setzt sich dem aufmerksamen Zuhörer langsam Oceans Identität zusammen. Aber immer nur für kurz, bevor sie wieder wie Sand zwischen den Fingern verrinnt und eine neue Form annimmt. 

Es ist ein Werk der Tumblr-Generation. Während Menschen früher auf Blogs ihre Gedanken vollständig ausformuliert der Welt kundtaten, kann auf Tumblr alles geteilt werden: Fotos, Tweets, längere Texte, Ton- und Filmdateien. Das Publikum wird so aufgefordert, sich aktiv für ein Gesamtbild einzusetzen, anstatt es fixfertig vorgesetzt zu bekommen.

Während Ocean eher unbeabsichtigt für seine Generation steht, sieht sich Kendrick Lamar als ihr Sprecher – zumindest als jener der Afroamerikaner. «Ich bin fast eine Art Prediger für die Jungen», sagte er der «New York Times». Der aus den Armenvierteln in Compton stammende Lamar hat sich in seinem zweiten, viel gelobten Album «good kid, m.A.A.d. city» mit der Frage auseinandergesetzt, wie man es aus dem Ghetto herausschafft.

In seinem dritten Album «To Pimp a Butterfly» und dem dazugehörigen vierten Album «Untitled Unmastered», das unfertige Demos des gleichen Materials enthält, fragt er sich, wer er nun ist, jetzt, da er es geschafft hat und reich ist. Selbstkritisch analysiert Lamar seine Rolle in «i» und «u» und kommt zum Schluss, dass er die Verantwortung, die ihm durch seinen Reichtum und seine Berühmtheit übertragen wurde, annehmen muss.

Im von Jazzklängen begleiteten Stück «For Free?», in dem sich ein Mann scheinbar über seine Freundin beschwert, klagt Lamar die USA an: «Oh, Amerika, du böse Schlampe, ich pflückte Baumwolle und habe dich reich gemacht. This dick ain’t free.» Durch die Doppeldeutigkeit von «free» als frei und gratis beklagt er mit politischer Brisanz, dass er auch als reicher Afroamerikaner nicht wirklich frei ist, und verweist gleichzeitig darauf, dass er nicht bereit ist, sich von der Musikindustrie ausnutzen zu lassen. Am Ende des Albums hat der 29-Jährige seine neue Rolle akzeptiert und rezitiert als Antwort ein Gedicht über eine Raupe, die in ihrem Kokon feststeckt, sich dann aber in einen Schmetterling verwandelt. 

Die beiden genialen und innovativen Künstler basteln nicht nur gerade an der Musik der Zukunft, sie verkörpern auch perfekt den Geist der Jugend, der politische Gleichberechtigung fordert und sich in seiner Identität nicht auf ein paar Adjektive festlegen lässt. Word! 

Herzzerreissend

Nick Cave and the Bad Seeds. Skeleton Tree. Bad Seed Ltd. /Limmat Records.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

«Wir wollen uns nicht wirklich ändern, nur modifizieren zu einer besseren Version unserer selbst. Aber was machst du, wenn etwas Schreckliches passiert und du dich ganz plötzlich veränderst und nicht mehr der bist, der du mal warst?», fragt Nick Cave im Film «One More Time with Feeling», der zur Veröffentlichung des neuen Albums erschien. «Skeleton Tree» ist das erste Album nach dem tragischen Unfalltod von Caves Sohn. Und auch wenn es schlechter Stil ist, von der Biografie auf die Kunst zu schliessen, kommt man hier fast nicht umhin. Cave macht es im Film selber zum Thema und lässt einen das Trauma nicht vergessen. Wenn er in «Jesus Alone» singt «mit meiner Stimme rufe ich dich», ist das dann der Vater, der nach dem toten Sohn ruft? Oder wenn er die Zeile spricht: «Sie sagten uns, die Götter würden uns überleben, aber sie haben gelogen», hört sich «Götter» wie ein Synonym für Kinder an. Caves Musik war oft düster, nun klingt sie vor allem traurig und zerbrechlich. Ganz besonders im herzzerreissenden «Distant Sky», auf dem die Sopranistin Else Torp mitsingt und das sich wie ein Schlaflied anhört. «Es gibt eine Art Hilflosigkeit in den Songs», sagt Cave im Film. «An der narrativen Form bin ich nicht mehr so interessiert wie auf früheren Alben, denn das Leben ist nicht so. Es gibt keine Auflösung am Ende.» 

Dieser Stimme folgt man überall hin

Imany: The Wrong Kind of War. Universal.

Der Sommerhit «Don’t Be So Shy» dröhnt einem dieses Jahr aus unzähligen Smartphones entgegen. Doch für einmal stört das nicht sonderlich. Nicht einmal die schlechte Audioqualität der Telefone kann einem die Freude verderben. Der tanzbare Imany-Remix der beiden russischen DJ Filatov & Karas ist so beliebt, dass er in vielen europäischen Ländern auf Platz 1 hochschnellte. Ihre eigenen von Streichern unterstützten Songs aber sind ruhiger als ihr Sommerhit, mit einer melancholischen Note. Die französische Soul-Diva lebte viele Jahre als Model in New York, bevor sie merkte, dass sie mehr vom Leben will, und ihre Musikkarriere startete. Mit ihrem Debütalbum «The Shape of a Broken Heart» (eine Anspielung auf die Form des afrikanischen Kontinents und dessen tägliche Realität) erreichte sie 2011 in mehreren Ländern Platin. Die Musikerin, deren Eltern von den Komoren stammen, erzählt oft von den traurigen Seiten des Lebens: In «You Don’t Belong to Me» singt sie von einer Liebe, die nicht sein soll, und in «Save Our Soul» von den täglichen Schreckensnachrichten in den Medien. Ihre tiefe Stimme ist dabei genauso einnehmend wie ihre charmante Persönlichkeit auf der Bühne. Imany hat die Gabe, uns ihren Schmerz fühlen und gleichzeitig an eine bessere Zukunft glauben zu lassen. Dieser rauchigen Stimme folgt man gerne auf jede emotionale Reise. 

Erschreckend intim

Ziemba. Hope Is Never. Lo & Behold! Records.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Im Videoclip «With the Fire» schlendert Ziemba durch das Haus ihrer Kindheit. Seit Jahren ist es verlassen. Die gelbe Farbe blättert von der Fassade. Der Garten ist verwildert. Die Tapete hängt in Fetzen. Der Lampenschirm löst sich langsam auf. In dieser Zwischenwelt des Verfalls fühlt sich die Performancekünstlerin wohl. Was sie selber daraufhin zurückführt, dass sie in El Paso, der Stadt an der Grenze zu Mexiko, aufgewachsen ist und sich von Grenzwelten angezogen fühlt. Hier findet sie Schönheit in Asche und Zerfall. Das Element Feuer verwendet die New Yorkerin in vielen Songs als Zerstörer und Schöpfer zugleich. Es ist diese Dualität und ihre Fähigkeit, die Schwere und den Schmerz des Lebens anzuerkennen und für einen Neubeginn zu nutzen. Dabei verzichtet sie vollständig auf aufdringlichen, nervtötenden Optimismus. Viele ihrer Stücke singt sie choralartig a cappella, weil es ihnen eine Verletzlichkeit verleiht. «Du kannst dich nicht vor dir selber verstecken, und das Publikum fühlt das», erklärte Ziemba (René Kladzyk) in einem Interview mit dem «Posture Magazine». «Es ist erschreckend intim, und das ist reizvoll für mich.» Ihre Musik erinnert an das Werk der grossartigen österreichischen Sängerin Anja Franziska Plaschg, die unter dem Pseudonym Soap & Skin ihre Lieder veröffentlicht. Aber wo Plaschgs Musik eine dunkle Eindringlichkeit hat, die einen zwingt, ihr zuzuhören, lässt Ziemba einem Raum zum Tagträumen. 

Mehr Dreck wäre super gewesen

Wendy James. The Price of the Ticket. Pledge Music.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Das Wichtigste zuerst: Miley Cyrus liebt Wendy James – als Pin-up-Ikone und Sängerin. Den älteren Jahrgängen ist James vielleicht noch aus den achtziger Jahren bekannt – als Frontsängerin der Punk/Pop-Band Transvision Vamp. In sexy Posen hauchte und kreischte sie deren Songs ins Mikrofon. Auch in der Schweiz hatten die vier Briten mit «I Want Your Love» 1988 einen Hit. Als die Gruppe sich Anfang der neunziger Jahre auflöste, startete die Londonerin ihre wenig erfolgreiche Solokarriere. Auf ihr von Elvis Costello geschriebenes Debütalbum «Now Ain’t the Time for Your Tears» 1993 folgte erst 2011 das zweite Album mit dem zweideutigen Titel «I Came Here to Blow Minds». Das Geld für ihren neusten Streich sammelte James über die Crowdfunding-Homepage Kickstarter. Auf dem Cover räkelt sich die Fünfzigjährige halbnackt auf einem Sofa, während sie auf dem Tonträger wie eine Zwanzigjährige klingt. Das ist schade. Denn James hat musikalisch ein richtig gutes New-Wave/Garage-Rock-Album vorgelegt, das an die spanische Band Hinds erinnert. Unterstützung bekam die Britin von zwei Mitgliedern der Stooges, dem Patti-Smith-Gitarristen Lenny Kayne und dem früheren Sex-Pistols-Mitglied Glen Matlock. Wenn sie nur weniger auf ihre Erotik setzen würde und etwas «meh Dräck» zugelassen hätte, wäre die Platte sogar superb geworden. 

Musikalische Ballerina

Cerise. Smoke Screen Dreams. Psychic Cats.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Das Albumcover zeigt Cerises Kopf auf einem Kissen, sie deckt sich in Shoegazing-Manier das Gesicht mit der Hand halb zu. Die Nahaufnahme im Bett suggeriert Intimität. Aber richtig preisgeben mag sich das ehemalige Model auf ihrem Debütalbum dann doch nicht. Ihre gehauchten Songtexte über einem verschwommenen Klangteppich eröffnen sich nur dem sehr achtsamen Ohr. Cerise getraute sich lange nicht, Musik zu machen. «Es erschien mir immer als die schwierigste Sache der Welt. Eine Musikerin war für mich wie eine Ballerina – du musst ein Leben lang dafür trainieren, diese atemberaubende Künstlerin zu werden.» Seit 2003 hat Cerise auf ihr Album hingearbeitet, und nun tänzelt die feingliedrige Frau fast schwerelos mit ihrer Musik durch den Äther. Wie eine Ballerina, der man die Arbeit nicht ansieht. Nur leider klingt ihre Musik mit der Zeit ein wenig eintönig, und man wünscht sich mehr Variationen oder den einen oder anderen Höhepunkt. Inspiration fand Cerise bei The Cure, Bauhaus und Siouxsie and the Banshees. Gesanglich erinnert Cerise ein wenig an Hope Sandoval. «Smoke Screen Dreams» ist die passende Hintergrundmusik für laue Sommerabende: sanft wie eine angenehme Sommerbrise auf der Haut und mit einem melancholischen Unterton, wie ihn die besten Sommerabende haben.