Ihre Wut treibt sie an

Bild: Pexels / Emre Kuzu

Junge Punk-Musikerinnen hauchen dem Altherren-Genre Rockmusik neues Leben ein. Sie singen davon, was sie wollen – oder eben nicht. Und begeistern damit auch Männer.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

Bono von U2 sagte kürzlich dem Magazin «Rolling Stone»: «Ich denke, die Musik ist zu mädchenhaft geworden. Als ich 16 war, hatte ich eine Menge Wut in mir. Du musst einen Platz für sie finden und für die Gitarren. Sobald etwas konserviert wird, ist es verdammt noch mal vorbei. Denn was ist Rock’n’Roll im Kern? Wut!» 

Bei allem Sexismus, dessen sich Bono schuldig macht, muss man sagen: Der Mann hat recht. Am Anfang guter Rockmusik steht Wut. Und wer hat davon am meisten? Junge Frauen. Bono hat nämlich übersehen, dass der Rock nicht generell konserviert wird, sondern dass sich sehr viel tut auf dem Feld der Gitarrenmusik. Die Altherren-Musik bekommt gerade frisches Blut aus der Punkszene. Jenem Genre also, das die Rockmusik schon einmal gerettet hat. Und in dessen pulsierendem Innersten stehen junge Frauen mit viel Wut und noch mehr Talent. 

Als die Punks Ende der siebziger Jahre schreiend und ihre Gitarren schrammend auf der Weltbühne polterten, war die Rockmusik am Ende. Sie hatte sich in seichte Melodien mit kitschigen Texten verrannt und wartete Dornröschen ähnlich auf ihre Wiederbelebung. Die Punks wollten dem Rock’n’Roll die Seele zurückgeben: die einfachen harten Gitarrenriffs, die schnellen Beats eines Schlagzeugs und einen kurzen prägnanten Text, den man mitgröhlen konnte – und eben die Wut. Damit küssten sie Dornröschen nicht zärtlich wach, sondern traten ihm ziemlich unsanft mit ihren Doc-MartensSchuhen in den Allerwertesten. 

Do-it-yourself-Philosophie

Die Wirtschaftskrise der 1970er und die konservative politische Wende mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher gaben genug Stoff her für wütende Texte gegen die Staatsmacht. Die Ramones schrien in «Blitzkrieg Bop»: «Schiesst ihnen in den Rücken.» Dabei erklärten sie nie, um wen es sich bei diesem «ihnen» handelte, aber allen war klar: die Polizei. Und The Clash sangen in «I Fought the Law»: «Ich bekämpfte die Staatsgewalt und ich verlor.» 

The Clash – «I Fought the Law»

Punk war immer der Ort für junge Wut, weil die Musik schnell und hart ist. Aber vor allem auch, weil Punk zum Einstieg keine grossen musikalischen Fertigkeiten verlangt; trotzdem sind viele Punkmusiker grossartige Talente. Im Zentrum steht die Do-it-yourself-Philosophie: Jeder kann zwei Gitarrenakkorde lernen und aufs Schlagzeug einhauen. Bis heute wird vor allem der politische Punk wahrgenommen, dabei drehen sich viele Songs um Wut und Verletzungen im privaten Bereich. Die Buzzcocks sangen in «What Do I Get»: «Ich will eine Geliebte, wie jeder andere auch. Aber was bekomme ich? Nur eine platonische Freundin.»

Anfang der 1980er wurde Punk zwar für tot erklärt, aber er lebte an den Rändern des Pops weiter und stimulierte die Gitarrenmusik. So auch jetzt. Bands wie Sheer Mag, Snail Mail, Daddy Issues, Diet Cig oder Sad13 und viele weitere bestehen ganz oder hauptsächlich aus Frauen und machen intelligente und elektrifizierende Gitarrenmusik im Garagen- und Lo-Fi-Stil. 

War on Women – «Capture the Flag»

Die meisten dieser Bands waren bereits am prestigeträchtigen South-by-SouthwestMusikfestival (SXSW), aber im Mainstream sind sie noch nicht angekommen. Gerade das macht ihren Charme aus. Ihre Musik ist noch nicht geglättet, sondern rau, verschroben, zerbrechlich. Dabei reicht ihr Spektrum vom harten und wütenden Punksound von War on Women über den lüpfigen Punk von Diet Cig bis zur sanfteren Indiemusik mit Vagabon oder Cayetana und allem dazwischen. 

Da ist zum Beispiel die vom Siebziger-Jahre-Punk inspirierte Band Sheer Mag aus Philadelphia mit Frontfrau Tina Halladay. Die machen vor allem politische Musik für unsere Zeit. In «Expect the Bayonet» singen sie intelligent analysierend: «Aus dem Leid schufen wir einen fragilen Staat aus Blut und Launen, gemacht für reiche Männer in ihrer weissen Haut, aber Leute, mutigere als ich, standen auf gegen die Lüge. Wenn ihr uns nicht das Recht zu wählen gebt, dann erwartet euch das Bajonett.» Auf dem gleichen Album «Need to Feel Your Love» haben sie mit «(Say Goodbye to) Sophie Scholl», der hingerichteten deutschen Studentin, die mit ihrer Widerstandsgruppe Weisse Rose gegen die Naziherrschaft kämpfte, ein Denkmal in Form eines Protestsongs gesetzt.

Sheer Mag – «Expect the Bayonet»

Ohne moralische Predigten

Dabei ist nicht nur die Botschaft wichtig, sondern auch die physische Präsenz. In der «New York Times» sagte Tina Halladay von Sheer Mag: «Ich denke, viele Frauen sind an sich politisch, einfach weil sie als Frontfrau auf der Bühne stehen.» Und Sophie Allison von Soccer Mommy beschrieb im gleichen Interview das Publikum an vielen Konzerten von Frauenbands: «All diese Männer, die laut die Texte mitsingen über Liebe und alles andere. Ich denke, dass hilft bei der Demontage von toxischer Maskulinität.» 

Es handelt sich bei diesen Bands und ihren Zuhörern eben nicht um eine feministische, männerfreie Blase. Sheer Mag zum Beispiel besteht aus vier langhaarigen Typen, aber an vorderster Front steht eine Frau. Und auch im Publikum finden sich viele Männer. Aber interessanterweise sind die meisten anderen Bands dieser Musikwelle fast ausnahmslos weiblich. Es könnte ein Zufall sein, dass Frauen gerade die interessantere Gitarrenmusik machen, oder es ist eben die Wut, die diese Frauen antreibt und von der Frauen noch immer genügend haben. 

Selbstverständlich tragen die Bands auch etwas zur MeToo-Debatte bei – nicht mit moralischen Predigten; sie sagen ihrem männlichen Publikum im Detail, was sie und die meisten Frauen wollen oder eben nicht. «Du läufst auf mich zu, streitsüchtig, und erlaubst mir noch, meinen Satz zu beenden. Deine Gegenwart lenkt mich ab. Du schreist über jeden Satz. Du stehst zu nahe», singt Allison Crutchfield aus Alabama in «Mile Away». Und die Dichterin Sadie Dupuis singt unter dem Pseudonym Sad13 in «Get a Yes»: «Leg mir bloss keine Worte in den Mund. Du kannst nicht einfach wissen, was ich will. Deshalb versuche ich es dir zu sagen, was ich will. Ich sage Ja zum Kleid, wenn ich es anziehe. Ich sage Ja, wenn du es mir ausziehen willst. Ich sage Ja zu deiner Berührung, wenn ich deine Berührung will.» 

Die Musikerinnen schreiben auch über Beziehungen. Manchmal ist es eine amüsante Abrechnung mit dem Ex. Daddy Issues aus Nashville singen in «Dog Years»: «Wir werden nie Freunde sein. In Hundejahren bist du bereits tot.» Cayetana aus Philadelphia wiederum sind selbstkritisch: «Du siehst meine hässlichen Teile, die ich dir nie zeigen wollte. Wirst du mich noch lieben, mit all diesen kranken Gedanken im Kopf?» 

Daddy Issues – «Dog Years»

Wie von Bono gewünscht, kommen auch die Teenager zu Wort. Lindsey Jordan von Snail Mail ist 17 Jahre alt und war schon am SXSW. In «Thinning» schrammen die Gitarren, bevor sie davon singt, ein unsicherer und ratloser Teenager zu sein: «Ich frage mich die ganze Zeit: Bin ich das wirklich? Und ich weiss es nicht. Und ich fühle mich eklig.»

Hier wird nichts konserviert. Die Wut ist da, genauso wie das musikalische Talent, die politische Botschaft, die nachdenkliche Analyse, der frische Wind und das Können. Bono guckt nur am falschen Ort. Die Frauen haben schon immer eine Rolle gespielt in der Rockmusik, man denke nur an Pattie Smith oder Blondie. Und auch dieses Mal werden die jungen Frauen die Gitarrenmusik mit frischem Blut versorgen.

SXSW-Festival

Das South-by-Southwest-Festival im ­texanischen Austin ist ein wichtiges Sprungbrett für Indie-Rock-Musiker. Es findet seit 1987 statt, mit Programmen zu Musik, Film, Comedy und Neue Medien. Snail Mail schafften 2017 am SXSW den Durchbruch.

Snail Mail – «Thinning»

Ganz schön verrückt

Die Madrider Band Hinds hat es dank Online-Veröffentlichungen auf die grossen Bühnen geschafft. Das ist völlig verdient: Ihre Garagenmusik schmeckt nach Sonne und geht in die Beine.

Von Murièle Weber (NZZ am Sonntag)

«It’s crazy!», sagt die 21-jährige Ana García Perrote während des Interviews immer wieder. Und verrückt ist das Ganze wirklich. Innerhalb eines Jahres sind sie und ihre drei Mitstreiterinnen der Band Hinds von ihrem Studentendasein in Madrid, auf die grossen Musikbühnen katapultiert worden: Vorband von The Strokes im Hyde Park, Auftritt am Glastonbury-Musikfestival, Welttournee. Und dann gibt’s da noch diese Anekdote einer Party in Harrison Fords Haus. Aber der Reihe nach. 

Angefangen hat alles an einem Strand in Spanien. Als García Perrote mit der 24-jährigen Carlotta Cosials 2011 und Freunden am Meer war, brachte ihr Cosials einige Akkorde auf der Gitarre bei. Zurück in Madrid hatten sie ein paar Auftritte als Coverband, die die beiden aber der Erzählung nach mehr schlecht als recht über die Bühne brachten. Beschämt beschlossen sie, nie wieder ein Wort darüber zu verlieren. Achtzehn Monate später, im Winter 2013, begannen sie eigene Songs zu schreiben. Zwei davon nahmen sie mit ihrem Smartphone auf und veröffentlichten sie als «Demo» im Frühling 2014 auf der Website Bandcamp (damals noch unter dem Bandnamen Deer, inzwischen zwang die gleich klingende Band The Dears sie zu einem Namenswechsel).

Es dauerte nur wenige Monate, bis es verrückt wurde. «Es wurde grösser und grösser, wie ein Schneeball, den man den Hang hinunterrollt», erzählt Perrote. Die einflussreiche Zeitschrift «New Musical Express» (NME) schrieb im Juli 2014 über sie, «The Guardian» erklärte ihr «Demo» Mitte September zum Album der Woche, und eine Plattenfirma flog extra nach Madrid. «Während des ersten Treffens fragte uns der Manager nach unseren Träumen. Wir sagten ihm, wir würden gerne drei Konzerte in Spanien spielen. Das war alles, was wir uns erhofften. Nur schon eine Band zu sein, war unser Traum.» 

Und nun sitzt García Perrote auf dem Sofa ihres Plattenlabels in London, neben ihr die 19-jährige Amber Grimbergen, die Schlagzeugerin der Band, die im Herbst 2014 kurz nach der 23-jährigen Bassistin Ade Martín zur Band stiess. Vor ihnen steht der Laptop, auf dem wir über Skype kommunizieren. Perrote fallen die dunkelbraunen Haare über die Schultern. Sie spricht schnell, lacht viel und gestikuliert wild mit den Händen. Ihre Lebensfreude ist ansteckend. Neben ihr wirkt die blonde Grimbergen etwas scheu und in sich gekehrt. 

Die Hinds sind ein Produkt ihrer Do-it-yourself-Generation. Sie haben nicht nur das Musikmachen sich selber beigebracht, die Songs selber aufgenommen und ihre eigenen Videoclips gefilmt und geschnitten. Auch ihre Social-Media-Präsenz haben sie genauestens überwacht. «Wir sind richtige Social-Media-Freaks und haben von Anfang an genau darauf geachtet, wer uns liket und wer nicht und welche Foto und welcher Eintrag geliket werden», erzählt Perrote selbstironisch lachend. 

Kurz nach dem Plattenvertrag kamen bereits die ersten Konzertanfragen: Thailand, Hongkong, Australien. Und dann rief der Manager von The Libertines an. «Er sagte: ‹Okay, flippt nicht aus, und ihr müsst das auch nicht machen, wenn ihr euch nicht bereit fühlt, aber wir wollen euch als Vorband.›» Perrote lacht erneut schallend. «Natürlich haben wir zugesagt, obwohl es erst unser 20. Konzert war, und dann gleich noch vor sechstausend Zuschauern. Wir waren so nervös, dass wir vorher kaum schlafen konnten.»

Ihre Songs im Garage-Rock-Stil klingen wie eine Kreuzung zwischen den Black Lips und den Pipettes oder den Vivian Girls und den Thee Headcoatees. Deren Mitgröl-Kracher «Davey Crockett» haben sie inklusive des von den Ramones geprägten Punkmusik-Schlachtrufs «Gabba Gabba Hey» als Cover aufgenommen. Ihre Songs drehen sich um das, was einen eben bewegt, wenn man Anfang zwanzig ist: Beziehungen, Liebe, Ausgang, Freunde. Die schrammenden Gitarrenriffs und die sich manchmal überschlagenden Stimmen passen zu ihrer DIY-Musik, die gute Laune macht und schnell in die Beine fährt. 

Diesen Stil wollten sie auch beibehalten, als ihnen im April 2015 zum ersten Mal ein Studio zur Verfügung stand. Als Produzenten wählten sie deshalb den befreundeten Musiker Diego García der Garage-Band The Parrots. Und so hat man beim Anhören ihres Albums das Gefühl, live mit Freunden in einem Bandkeller zu sein, Bier und Zigarette in der Hand, während man sich beim Mitsingen heiser schreit. 

Böse Zungen behaupten, der Erfolg sei ihnen bloss durch ihre Jugend und ihr Aussehen beschert worden; gestandene Musikjournalisten berichten in einem etwas väterlichen, gönnerhaften Ton über die Band. Dabei merkt man den Frauen während des Interviews deutlich an, wie hart sie für ihren Erfolg arbeiten. «Zwei Monate nach den Aufnahmen kamen wir wie Nerds mit seitenlangen detaillierten Notizen zurück ins Studio, um die Songs abzumischen», erzählt Ana García Perrote. 

Auch ihrer Heimatstadt ist ihr Erfolg nicht entgangen. «Wir sind nicht wirklich berühmt in Madrid, eher berüchtigt. Weil das so verrückt ist, was mit uns passiert ist, mögen uns nicht alle. Also entweder sie lieben uns, oder sie hassen uns», ergänzt Perrote und wirkt zum ersten Mal distanziert. 

Und wie war das jetzt mit Harrison Fords Haus? Perrote krümmt sich wieder vor Lachen. «Das stimmt schon. Wir waren in seinem Haus. Eine befreundete Band von uns ist mit der Band von Fords Sohn befreundet, und die haben uns gefragt, ob wir mitkommen wollen.» So einfach geht das. Und wie war’s? «Gross. Irgendwo war auch noch seine Mutter, und Ade musste sich später in seinem Badezimmer übergeben.» Da ist es wieder, ihr Lachen. «It’s crazy», sagt sie. «Wir verdanken das alles dem Internet.»